Die Erzählung des Weibes von Bath.

[358] Vers 9005–9412.


In Königs Artus längstvergangner Zeit,

Die jeder Britte rühmt und preist, war weit

Und breit das ganze Land gefüllt mit Fee'n.

Man sah im Tanz sich mit Gespielen drehn

Die Elfenkönigin auf grünem Gras.

– So war die alte Meinung, wie ich las. –

Schon viele hundert Jahre sind es her,

Und Elfen giebt es heut' zu Tag nicht mehr.

Das macht das Beten und die Frömmigkeit

Der vielen Bettelmönche, die zur Zeit

Durchstreifen jedes Flußgebiet und Thal,

So dick wie Mücken in dem Sonnenstrahl,

Einsegnend Hallen, Kammern, Küchen, Ställe

Und Städte, Burgen, Schlösser und Kastelle,

Milchstuben, Häuser, Dörfer, Scheunen, Zimmer;

Das scheuchte fort von uns die Fee'n auf immer.

Wo früher einen Kobold man gesehn,

Da pflegt anjetzt ein Bettelmönch zu gehn,

Und streift durch die Limitation vom Kloster,

Sein Ave betend und sein Paternoster,

Am späten Abend und am frühen Morgen.


Die Weiber gehen ohne Furcht und Sorgen

Bei jedem Busch und Baume jetzt einher.[359]

Da ist kein andrer Incubus wie er,

Und der wird ihnen keinen Schimpf anthun.


An König Arthurs Hofe lebte nun

Ein lust'ger Junggesell; und es geschah,

Daß er ein Mädchen einsam wandeln sah,

Die, als er von der Reiherbeize ritt,

Desselben Weges grade vor ihm schritt;

Und er beraubte durch Gewalt und Kraft

Sie wieder Willen ihrer Jungfernschaft.


Vor König Artus viel Geschrei entstand,

Ob der Gewaltthat, und zu Recht erkannt

Ward gegen diesen Rittersmann auf Tod

Durch Kopfverlust, wie das Gesetz gebot,

Und es enthalten war in den Statuten.


Die Königin und andre Damen ruhten

Indessen nicht, den König anzuflehn,

Bis dieser Gnade ließ für Recht ergehn,

Um die Entscheidung über Tod und Leben

Der Königin auf Wunsch anheim zu geben.


Es dankte herzlich ihm die Königin.

Zum Ritter aber sagte späterhin

Sie bei Gelegenheit an einem Tage:

»Es schwebt« – sprach sie – »in ungewisser Lage

Noch stets Dein Leben. – Doch ich schenk' es Dir,

Giebst Antwort Du auf meine Frage mir:

Was ist es, das zumeist ein Weib begehrt?

Bewahre Deinen Nacken vor dem Schwert!

Und kannst Du mir sofort nicht Rede stehn,

Magst auf ein Jahr und einen Tag Du gehn[360]

Und suchen, bis Du aufgefunden hast,

Was sich als Antwort auf die Frage paßt.

Doch, eh' Du fortziehst, stelle Bürgschaft mir,

Daß Du erscheinst persönlich wieder hier.«


Weh war dem Ritter, und er seufzte schwer.

Was half's? – Für ihn gab's freie Wahl nicht mehr,

Und endlich war er zu der Fahrt entschlossen,

Um heimzukehren, wenn ein Jahr verflossen,

Mit solcher Antwort, wie ihm Gott verliehn;

Drum nahm er Abschied, um dann fortzuziehn.


Und jedes Haus durchsucht er, jeden Ort,

Auf Lösung hoffend für das Fragewort:

Was ist es, das zumeist ein Weib begehrt?


Indeß umsonst! Er wurde nicht belehrt:

In dieser Sache stimmten insgemein

Zwei Creaturen niemals überein.

Die sagten: Reichthum liebt zumeist das Weib;

Die sagten: Ehre; jene: Zeitvertreib;

Die sagten: Putz; die: Liebesleckerei'n,

Und Wittwe werden und von Neuem frein.

Am meisten uns gefiele – sprachen diese

Wenn man uns weidlich schmeichelte und priese.

– Sie sind der Wahrheit nah'; nicht sag' ich nein;

Zumeist gewinnt man uns durch Schmeichelei'n;

Durch Artigkeit und Höflichkeit lockt Alle

Mehr oder weniger man in die Falle. –

Und jene sagten: unser Hauptbegehren

Sei, daß wir frei im Thun und Handeln wären,

Daß man nicht über unsre Laster tobe

Und uns als weise stets und treu belobe.[361]


Denn keine von uns Allen bleibt gelassen,

Will ihr ein Mann den wunden Fleck befassen;

Sie schlägt und stößt, spricht er sie nicht zu gut.

– Versucht es selbst, dann wißt Ihr, wie es thut! –

Denn mögen noch so lasterhaft wir sein,

Gern gelten wir für klug und sündenrein.


Und Andre sagten: uns zumeist erfreute,

Hielten für fest und standhaft uns die Leute,

Und für verschwiegen und für zuverlässig,

In dem, was mitgetheilt uns sei. – Indeß ich

Erachte keinen Besenstiel das werth.

Pardi: kein Weib kann schweigen! – Dieses lehrt

Uns Midas schon. – Soll ich von ihm berichten?


Wohlan! – In seinen kleineren Geschichten

Erzählt Ovid: daß unter langen Haaren

An Midas Kopf zwei Eselsohren waren,

Die er, so gut es eben ging, versteckte,

So daß man sein Gebrechen nie entdeckte.

Nur seiner Frau war es allein bekannt,

Weil er's aus Liebe dieser eingestand.

Indeß er bat sie, Keinem auf der Welt

Je zu verrathen, er sei so entstellt.

Und sie beschwor, daß für kein Gut der Erde

Die böse Sünde sie begehen werde,

So schlechten Namen ihrem Mann zu machen.

Die eigne Scham gebiete von den Sachen

Zu schweigen schon. – Doch quälte sie es arg

Bis auf den Tod, was heimlich sie verbarg;

Und schwer lag's auf dem Herzen ihr beständig,

Und davon sprechen mußte sie nothwendig.

Vertrauen durfte sie es keinem Andern,

Drum dachte sie zum nahen Sumpf zu wandern.[362]


Sie läuft, kommt an; es pocht ihr Herz und trommelt;

Und wie die Dommel, die im Rohre dommelt,

Legt an das Wasser sie den Mund und spricht:

»Nun hör' mich Wasser, doch verrath' es nicht,

Denn zur Vertrauten hab' ich Dich erkoren:

Es hat mein Mann – zwei lange Eselsohren!

Nun ist's heraus! – Jetzt ist mein Herz gesund!

Nicht länger halten konnt' ich meinen Mund!«


Hier könnt Ihr sehn, wir schweigen eine Zeit,

Doch dann heraus muß unsre Heimlichkeit.


Wer wissen will, wie es zu Ende geht,

Der les' Ovid, wo es geschrieben steht.


Als nun der Ritter, von dem mein Bericht

Besonders handelt, sah, er könne nicht

Ergründen, was ein Weib zumeist begehr',

Trat er, im Kopf und Herzen sorgenschwer,

Den Rückweg an. Nicht länger durft' er weilen,

Der Tag war da, und heimwärts mußt' er eilen.


Und es geschah, als er auf seinem Wege

Bekümmert hinritt durch ein Waldgehege,

Daß er an Frauen mehr als vierundzwanzig

Dort miteinander schlingen sah im Tanz sich.

Rasch sprengt' er zu dem Platze, wo sie waren,

In Hoffnung etwas Weises zu erfahren;

Doch sicher ist, kaum war er völlig da,

War schon der Tanz verschwunden – und er sah

Kein lebend Wesen, keine Creatur.

Ein altes Weib saß auf dem Rasen nur,

Solch' faul Geschöpf, wie Niemand denken kann.


Das Weib erhob sich und zum Rittersmann[363]

Sprach sie: »Hier ist kein Weg! – Doch saget mir

Auf Treu' und Glauben, wonach suchet Ihr?

Wer weiß? Gebrauch noch könnt Ihr davon machen,

Wir alten Leute wissen manche Sachen!«


»Lieb Mütterchen,« – der Ritter sprach – »mein Leben

Hab' ich verwirkt, weiß ich nicht anzugeben,

Nach welchem Ding zumeist ein Weib begehrt?

Wenn Du mir's sagst, belohn' ich Dich nach Werth!«


»Versprecht Ihr mir auf Handschlag und auf Ehre«

– Sprach sie – »das erste Ding, das ich begehre,

Sofort zu thun, steht es in Eurer Macht,

So sollt Ihr's wissen, noch bevor es Nacht!«


»Hier!« – schrie der Ritter – »hast Du Pfand und Eid!«


»Dann« – sprach das Weib – »bist Du in Sicherheit

Für Deinen Kopf. – Nicht rühmen will ich mich,

Doch sicher spricht die Königin wie ich.

Wer von den Stolzen, die den Schleier tragen,

Die in der Haube gehn, wagt nein zu sagen

Zu dem, was ich Dich lehre? Laßt mich sehn!

Doch nun genug – und fürbaß laßt uns gehn!«

Dann raunte sie ihm etwas in die Ohren;

»Frisch auf!« – sprach sie – »und nicht den Muth verloren!«


Und angelangt bei Hof der Ritter sprach:

Er käme pünktlich der Verpflichtung nach,

Und auf die Antwort sei er vorbereitet.


Von edlen Frau'n und Fräulein rings begleitet

Und klugen Wittwen, stieg die Königin

Auf ihren Thron, damit als Richterin

Sie höre, was der Frage Antwort sei.[364]


Und dann rief man den Rittersmann herbei.

Das tiefste Schweigen ließ sie rings befehlen

Und hieß sodann den Ritter, zu erzählen,

Wonach zumeist ein weltlich Weib begehr'?


Nicht wie ein Rindvieh stumm und dumm stand er,

Nein! sprach mit männlich lauter Stimme klar,

Daß es dem ganzen Hof vernehmlich war:

»Erhabne Dame! Königin voll Ehren!

Zu herrschen ist des Weibes Hauptbegehren!

Die Gatten und Geliebten zu regieren

Und über sie das Regiment zu führen,

Ist Euer höchster Wunsch! – Hier ist mein Haupt!

Schlagt mir's vom Rumpfe, wenn Ihr mir nicht glaubt!«


Am ganzen Hofe keine Dame wagte

Das zu bestreiten, was der Ritter sagte,

Und werth des Lebens er jedweder galt.


Rasch sprang das alte Weib, das er im Wald

Im Rasen sitzen sah, empor und schrie:

»Ach, Gnade, hohe Königin! Verzieh'

Mit Deinem Hof; auch mir sei Recht gewährt!

Die Antwort hab' dem Ritter ich gelehrt!

Und er versprach auf Handschlag mir und Ehre,

Das erste Ding, was ich von ihm begehre,

Sofort zu thun, ständ' es in seiner Macht,

Und mein Gesuch sei hiermit vorgebracht:

Mein Wunsch, Herr Ritter ist, daß Du mich frei'st!

Ich rettete Dein Leben, wie Du weißt,

Und sprech' ich falsch, so sag' auf Ehre: Nein!«


»O weh!« – begann der Rittersmann zu schrein –

»Zu wohl bekannt ist mir mein Wort und Eid![365]

Doch Andres fordre aus Barmherzigkeit!

Nimm all mein Gut, den Körper laß in Nuh'!«


»Nein!« – sprach das Weib – »verwünscht sei ich und Du!

Ob alt, ob faul, ob arm, verschmäh' ich alle

Schätze der Welt und edele Metalle,

Die auf der Erde sind und in der Erde,

Wenn nicht Dein Weib ich und Dein Schatz ich werde!«


»Mein Schatz!?« – rief er – »Mein Untergang vielmehr!

Ward unter allen Leuten irgend wer

Je in so fauler Art wie ich geschändet!?«


Es half ihm nichts. Die Sache war beendet.

Man zwang ihn, dieses alte Weib zu frein,

Und in das Bett stieg er zu ihr hinein.


Vielleicht giebt's Manchen, der sich arg beschwert

Und spricht: ich halt' es nicht der Mühe werth,

Daß ich vom Jubel und der Pracht am Tage

Der Hochzeit etwas Näheres besage.

Doch mit der Antwort bin zur Hand ich gleich.

Gewiß an Jubel war das Fest nicht reich.

Nichts gab es als Bekümmerniß und Sorgen.

Still hielt er seine Hochzeit früh am Morgen,

Und blieb, von ihrer Häßlichkeit erschreckt,

Tagsüber wie die Eule stets versteckt;

Und großes Weh in seiner Brust sich regte,

Als man ins Bett zu seiner Frau ihn legte.


Er wandte, wälzte sich vor Ungemach.

Das alte Weib sah lächelnd zu und sprach:

»Mein lieber Gatte, benedicite!

Nimmt so sein Weib ein Rittersmann zur Eh'?[366]

Sind das des Königs Artus Hausgesetze,

Daß jeder Ritter so sein Weib ergötze?

Ich bin Dein Liebchen, bin Dein eigen Weib!

Ich bin's, der Leben Du verdankst und Leib.

Nie hab' an Dir ein Unrecht ich vollbracht.

Warum beträgst Du in der ersten Nacht

Dich nur, als ob Verstand und Sinn Dir fehle?

Du lieber Gott! was that ich Dir? – Erzähle!

Wenn ich's vermag, soll's bald geändert sein!«


»Geändert?« – rief der Ritter – »Ach! nein, nein!

Das ändert sich wahrhaftig nicht so bald!

Du bist so häßlich und Du bist so alt,

Du bist von Stamm und Abkunft so gemein!

Daß ich mich wälze, kann kein Wunder sein.

Ach! gäbe Gott, es bräche mir das Herz!«


»Ist das« – frug sie – »der Grund von Deinem Schmerz?«


»Gewiß!« – sprach er – »scheint Dir das wunderbar?«


»Nun, Herr!« – sprach sie – »das ändert sich fürwahr,

Wenn mir's gefällt in wen'ger als drei Tagen;

Und mehr geziemlich magst Du Dich betragen!

Denn meinst Du, daß der Adel nur beruht

Auf altem Reichthum und ererbtem Gut,

Und man Euch deßhalb Edelleute nenne?

Die Arroganz ist werth nicht eine Henne!


Siehst Du den Mann, der, immer tugendhaft,

Gesehn und ungesehn mit aller Kraft

Das Edle sucht und thut, soviel er kann,

Dann siehst Du auch den größten Edelmann!

Den ächten Adel kann nur Christ allein,

Nicht Reichthum und nicht Ahnenzahl verleihn.[367]


Erwerben wir ihr Gut auch insgesammt

Und rühmen uns, daß wir so hoch entstammt,

So können sie mit allen ihren Sachen

Uns ihre Tugend dennoch nicht vermachen.

Sie hießen uns befolgen ihr Exempel,

Und nur, wer das thut, trägt des Adels Stempel.«


Es spricht der weise Dichter von Florenz,

Der Dante hieß, gar schön von der Sentenz,

Wie diese Reime, die er schrieb, Euch zeigen:

»Gar selten nur verjüngt sich in den Zweigen

Des Mannes Biederkeit. – Sie wird verliehn

Nach Gottes Willen und allein durch Ihn!«


Von unsern Vätern läßt sich nichts erwerben

Als Erdengüter, welche bald verderben.

Wie ich, weiß Jeder, pflanzte Adel nur

In einzelnen Familien von Natur

Sich von Geschlechtern zu Geschlechtern fort,

So thäten auch die Enkel, auf mein Wort!

Gesehn und ungesehn, des Adels Pflicht,

Indessen Schlechtigkeit und Böses nicht.


Wenn in das dunkelste der Häuser ihr

Zwischen dem Berge Kaukasus und hier

Ein Feuer tragt, die Thür schließt und geht fort,

So brennt das Feuer ebenmäßig dort,

Wie es vor zwanzigtausend Menschen brennt,

Nach innerster Natur vom Element,

Bei meinem Leib und Leben, bis es stirbt!


Hieraus erhellt, daß nicht Besitz erwirbt

Den Adel uns, denn, wie man leicht gewahrt,

Thut ihre Schuldigkeit die Menschenart[368]

Nicht immer, wie das Feuer von Natur.

Man sieht, Gott weiß es, allzuhäufig nur,

Daß Herrensöhne Lastern sich ergeben.


Drum, wer auf Adel Anspruch will erheben,

Weil er aus einem edlen Hause kam,

Und tugendhaft sich jeder Ahn' benahm,

Jedennoch denen, die im Grabe ruhn,

Nicht folgt und, statt, was edel ist, zu thun,

In Lastern lebt, der ist bei allem Prunke,

Ob Fürst, ob Graf, statt Edelmann – Hallunke!


Den Adelstitel, der darauf beruht,

Daß unsre Ahnen tugendhaft und gut

Gewesen sind, giebt blindes Ungefähr;

Indeß von Gott stammt alles Edle her,

Und wahrer Adel kommt aus seiner Hand

Ganz unabhängig von Geburt und Stand.


»Erinnert Euch! Es sagt Valerius:

Aus Armuth stieg Tullus Hostilius

Durch edles Thun empor zu höchsten Ehren!

Boetius kann und Seneka Euch lehren,

So klar, daß jeder Zweifel drüber ruht:

Nur der ist edel, welcher Edles thut.


Und deßhalb, lieber Gatte, schließ' ich so:

Bin ich von Abkunft noch so rauh und roh,

Erlaubt mir dennoch, hoff' ich, Gottes Gnade,

Mich zu erhalten auf dem Tugendpfade;

Und wenn stets fleckenrein und ohne Tadel

Mein Leben ist, so bin ich auch von Adel.


Was treibst Du über meine Armuth Spott?

Nahm nicht freiwillig unser Herr und Gott,[369]

An den wir glauben, Armuth über sich?

Und daß kein schandbar Leben, sicherlich,

Der Himmelskönig Jesus sich ersehn,

Kann Mann und Weib und Jungfrau klar verstehn.

Wer froh die Armuth trägt, trägt sie mit Ehren,

Wie Seneka und andre Weise lehren.

Schilt man den Armen für geplagt, gequält,

Mir gilt er reich, wenn auch das Hemd ihm fehlt.

Ein armer Wicht ist, wer, von Neid geplagt,

Nach dem gelüstet, was ihm Gott versagt.

Doch, wer nichts hat und nichts begehrt – obgleich

Man ihn den ärmsten Schlucker nennt – ist reich!

Denn wahrhaft arm macht nur der Sünde Qual!


Gar lustig schreibt von Armuth Juvenal:

Es singt ein Armer sorgenlos sein Lied,

Wenn unter Dieben seines Wegs er zieht.

Die Armuth ist ein hassenswerthes Gut,

Jedoch für den, der mit Geduld und Muth

Sie zu ertragen weiß, ein Gramentleerer,

Ein Sorgenbrecher und ein Weisheitsmehrer.

Die Armuth ist – so wunderlich es klingt –

Das einz'ge Gut, um das uns Niemand bringt.

Es macht den Menschen oft der Armuth Stand

Erst mit sich selbst und seinem Gott bekannt.

Die Armuth kann man eine Brille nennen,

Durch welche wir den wahren Freund erkennen.


Nun, Herr! hab' ich nicht gegen Dich gefehlt,

So laß auch meine Armuth ungeschmält!


Und schimpfst Du alt mich, lieber Herr, so steht

– Ermangelt mir auch Buchautorität –[370]

Es außer Zweifel, edle Herr'n begehren,

Von uns gar oft, daß einen Greis wir ehren,

Und Vater nennen nach des Adels Brauch.

Und Schriftbelege, denk' ich, fänd' ich auch.

Bin alt und faul ich, kann Dich nimmer drücken

Die Furcht, daß Hörner Deine Stirne schmücken.

Denn Schmutz und Alter sind – auf Seligkeit!

Die besten Hüter unsrer Züchtigkeit.

Indessen, da mir Dein Geschmack bewußt,

Will ich befried'gen Deine Sinnenlust.«


»Nun wähle« – sprach sie – »zwischen diesen Zwei'n:

Soll faul und alt ich bis zum Tode sein,

Jedoch als Weib Dir so getreu ergeben,

Daß Du mit mir nie mißvergnügt im Leben;

Oder willst Du mich lieber schön und jung,

Auf die Gefahr hin, daß Bewunderung

Für mich im Hause oder anderswo

Mit Zulauf und Umlagrung Dich bedroh'?

Nun wähle selbst nach eignem Wunsch und Willen!«


Der Ritter überlegte sich's im Stillen

Mit manchem Seufzer, und dann sprach er laut:

»Verehrte Dame, vielgeliebte Braut!

Ich will mich Deiner weisen Leitung fügen!

Entscheide selber, was zumeist Vergnügen

Und was am ehrenvollsten für uns sei?

Dies oder das, mir gilt es einerlei,

Was Dir gefällt, ist auch nach meinem Sinn!«


»Nun, Herr!« – sprach sie – »dann bin ich Meisterin,

Wenn nach Gefallen Dich regier' und lenk' ich!«


»Fürwahr« – sprach er – »so ist's am besten, denk' ich.«[371]


»Dann küsse mich« – rief sie – »wir sind vereint!

Ich will Dir Beides sein! und das bemeint:

Sowohl ein schönes, wie ein gutes Weib!

Und strafe Gott an Seele mich und Leib,

Wenn ich nicht so getreu und gut Dir bin,

Wie je ein Weib war seit der Welt Beginn;

Und schöner wirst Du mich am Morgen schauen,

Als Kaiserinnen, Königinnen, Frauen

Es je von Osten bis zum West gegeben!

Dir unterthan bin ich auf Tod und Leben!

Den Vorhang lüfte und dann – sieh' mich an!«


Und als in Wahrheit drauf der Rittersmann

Sie also schön und also jung erblickte,

Er freudig mit den Armen sie umstrickte;

Es schwamm sein Herz in seligen Genüssen,

Und tausendmal bedeckt' er sie mit Küssen.

Sie war gehorsam und that jedes Ding,

Was er begehrte, stets auf Wort und Wink.

So lebten Beide fröhlich bis ans Ende.


Solch junge, sanfte, frische Männer sende

Uns Allen, Jesus Christus! und daneben

Gewähre gnädig, sie zu überleben!

Indeß das Leben kürze, Jesus Christ!

Dem Manne, der uns nicht gehorsam ist!

Und wenn er zornig, geizig ist und alt,

So schicke Gott die Pestilenz ihm bald!

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 2, S. 358-372.
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