Vierter Akt

Arbeitszimmer Ernst Bergmanns. Ein Sommervormittag. Die Fenster und die Balkontüre stehen weit offen. Man hört von der Straße herauf den Großstadtlärm.

Bergmann, Dr. Schroeder.


BERGMANN sitzt vor seinem Schreibtisch. Er ist sehr gealtert. Seine Haltung ist müde, sein Aussehen schlecht. Er hat nicht mehr die kraftvollen, energischen, selbstsicheren Bewegungen von einst. Nur hie und da flackert in der Sprache seine einstige Energie auf. Dann werden seine Bewegungen straffer, seine Haltung aufrechter. Der Gesamteindruck ist der eines vom Schicksal schwer getroffenen Mannes, den nur Pflichtgefühl und ein unbezähmbarer Arbeitsdrang aufrechterhalten.

DR. SCHROEDER sitzt Bergmann gegenüber. Er ist etwa 46 Jahre alt und macht den Eindruck eines ruhigen, arbeitsamen, ernsten, in seinem Beruf aufgehenden Menschen. ... ich bin der Hausarzt Ihrer Frau Schwester, Herr Abgeordneter. Ich habe die Ehre, schon bald fünfzehn Jahre der Hausarzt Ihrer Frau Schwester in Innsbruck zu sein und ...

BERGMANN in Papieren blätternd. Ah, wirklich? Das freut mich ganz außerordentlich. Ich erinnere mich übrigens, Ihren Namen gelegentlich auch gehört zu haben. Ja, ganz bestimmt.

SCHROEDER. ... und da ich gerade hier bin, ich fahre übrigens bereits heute abends wieder zurück, so ...

BERGMANN. So haben Sie die außerordentliche Liebenswürdigkeit gehabt, mich aufzusuchen. Blickt sehr nervös auf die Uhr. Sie bringen mir Grüße von meiner Schwester und von meiner Tochter, nicht wahr? Erhebt sich, reicht ihm die Hand. Meinen aufrichtigsten Dank. Es geht doch hoffentlich gut? Und wenn Sie zurückfahren – und Sie fahren ja, wie Sie sagten, noch heute zurück – bestellen Sie bitte von mir auch herzliche Grüße. Ja?[99] Sieht nochmals auf die Uhr. Und jetzt verzeihen Sie, bester Herr Doktor, aber ich habe in zwanzig Minuten eine wichtige Konferenz, für die ich noch einiges vorzubereiten habe. Auf Wiedersehen, Herr Doktor.

SCHROEDER sehr ruhig. ... und da ich gerade hier bin, habe ich mir erlaubt Sie aufzusuchen, da ich ...

BERGMANN. Ach so, ach so ... ich verstehe. Brauchen Sie irgendwie meine Intervention, mein Eingreifen? Sehr gerne, sehr gerne. Verehrtester Herr Doktor, jetzt habe ich aber wirklich keine Zeit. Vielleicht bemühen Sie sich während meiner Sprechstunde heute zu mir. Von vier bis sechs Uhr nachmittags. Für Sie bin ich übrigens auch bis halb sieben zu sprechen ... einen Augenblick übrigens, ich muß erst nachsehen, ob es auch möglich ist ... nämlich heute, bis halb sieben, Blättert in einem Buche, halblaut. dreiviertel sieben Sitzung der Parteileitung, ... ja, es ist möglich. In zehn Minuten bin ich ja bequem dort. Also bitte, bis halb sieben, Herr Doktor. Aber keinesfalls später. Auf Wiedersehen, jetzt, Herr Doktor.

SCHROEDER. Ich bin nicht in eigenen Angelegenheiten zu Ihnen gekommen, Herr Abgeordneter, sondern ich sitze in meiner Eigenschaft als Arzt, als Hausarzt Ihrer Frau Schwester hier. Ich bin im Auftrage Ihrer Frau Schwester als der Arzt Ihres Fräuleins Tochter, also in Ihren Angelegenheiten, Herr Abgeordneter, hier. Wollen Sie mich, also endlich ruhig aussprechen lassen, Herr Abgeordneter. Ich muß Sie sprechen und ich muß Sie jetzt sprechen. Erstens, weil es sich um eine Sache handelt, welche keinen langen Aufschub zuläßt ...

BERGMANN blickt auf.

SCHROEDER. ... und zweitens, weil ich noch heute nach Innsbruck zurückfahren muß.

BERGMANN ruhig. Dann erlauben Sie, Herr Doktor, daß ich Ihnen umso herzlicher danke. Viel leicht bemühen Sie sich also um halb zwei, in meiner Mittagspause,[100] zu mir ... Ausbrechend. Ich habe auch für meine Angelegenheiten jetzt nicht Zeit, Herr Doktor. Die Partei benötigt mich gerade in diesem Augenblick.

SCHROEDER mißt ihn kalt, erhebt sich. Wie Sie wünschen, Herr Abgeordneter. Ich bedaure, Ihnen zu einer andern Zeit nicht zur Verfügung stehen zu können. Auch meine Zeit ist gemessen, wenn ich auch nicht radikaler Fraktionsführer bin. In Innsbruck warten auf mich mit Sehnsucht Kranke, Schwerkranke, vor denen ich's nicht verantworten könnte, meine Zeit in Ihrem Warteraum zu verbringen. Adieu, Herr Abgeordneter. Wendet sich zur Türe.

BERGMANN. Herr Doktor ... nur einen Augenblick bitte ... Mit der Uhr spielend. Was ist denn meiner Tochter? Doch nichts Ernstes?

SCHROEDER ruhig. Sie sieht ihrer Entbindung entgegen.

BERGMANN taumelt zurück. Was tut sie?

SCHROEDER. Es ist übrigens auch möglich, daß die Entbindung zu dieser Stunde schon vorüber ist.

BERGMANN gänzlich fassungslos. Aber Herr Doktor, Herr Doktor, das ist doch ... das ist doch ... unmöglich ...! Meine Tochter ...

SCHROEDER schweigt.

BERGMANN. Es ist doch ganz unmöglich ...

SCHROEDER tritt zu ihm. Ich hätte es Ihnen schonend beigebracht, Herr Abgeordneter, Sie selbst haben mich zu dieser Art Mitteilung gezwungen, Herr Abgeordneter ...

BERGMANN tritt schweren Schrittes ans Fenster, sucht sich zu sammeln.

SCHROEDER tritt näher, herzlich. Nehmen Sie's nicht zu tragisch, Herr Abgeordneter ... Ich gebe ja zu, es ist eine böse Sache für Sie. Aber es gibt Aergeres. Herr Abgeordneter ... und Gott sei Dank, Gott sei Dank, in unserer Zeit denkt und urteilt man über dergleichen anders als noch vor zehn Jahren ... Pause; dann[101] leise und warm. Ihre arme Tochter wartet in ihrer schwersten Stunde auf ihren Vater ...

BERGMANN wendet sich, im Kampfe mit sich, kaum um. Wissen Sie ... Näheres?

SCHROEDER. Ich glaube ... es handelt sich um einen jungen Grafen Hohental ... oder so ähnlich; der Name ist mir entfallen. Es ist derselbe junge Graf, der sich vor mehreren Monaten in Innsbruck aus damals unerklärlichen Gründen erschossen hat ... die Sache hat viel Staub aufgewirbelt, Sie werden bestimmt aus den Zeitungen davon gehört haben. Pause. Ich glaube, wir stehen vor der Lösung des damaligen Rätsels ...

BERGMANN ist bei Nennung des Namens zusammengezuckt.

SCHROEDER bewegt. Herr Abgeordneter ... Sie sind beteiligter Miterleber einer Tragödie geworden, welche umso größer ist, als es sich um eine Tragödie des Alltags handelt ... Ihr armes, armes Kind wartet... unten steht mein Wagen ... wir erreichen noch bequem den Mittagsschnellzug ... so dringend werden Ihre Geschäfte nicht sein, daß der Abgeordnete dem Vater nicht ein bis zwei Tage Urlaub geben könnte; ... Ihre Tochter ...

BERGMANN beherrscht. Ich danke Ihnen, Herr Doktor ... aber eine Reise meinerseits wäre überflüssig ... ich habe keine Tochter mehr.

SCHROEDER. Herr Abgeordneter?

BERGMANN wie vorhin. Ich bin Ihnen tief verbunden, Herr Doktor, ich werde stets in Ihrer Schuld sein ...

SCHROEDER. Herr Abgeordneter, um Gotteswillen, das ist doch nicht Ihr Ernst...? Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein?

BERGMANN. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen.

SCHROEDER tritt näher. Herr Abgeordneter, ich bin fünfzehn Jahre Hausarzt Ihrer Frau Schwester. Es ist nur natürlich, daß ich auch über Ihre Verhältnisse, über die jüngsten Ereignisse auch in Ihrem Hause unterrichtet bin ... Verzeihen Sie, ich will mich nicht[102] in Dinge mischen, die mich nichts angehen, nicht vielleicht kaum vernarbte Wunden aufreißen ... aber ich, fühle das Bedürfnis als Anwalt Ihres armen Kindes zu sprechen ... Herr Abgeordneter, Sie haben viel Unglück in der letzten Zeit gehabt ... Ihr Herr Bruder ist tot, Ihr einziger Sohn im Felde, Ihr bester, langjähriger Freund hat sich als ... ich erspare mir eine Kritik, die mir nicht zusteht ... Ihre Frau ... ist ... fort, Sie haben sich von ihr scheiden lassen ... Sie können doch unmöglich das Einzige, was Sie noch an Liebem fest in Händen haben, fortstoßen, weil ... dergleichen kann doch vorkommen, Herr Abgeordneter, und Sie sind doch ein moderner, fortschrittlicher Mensch, der selbst unzählige Male für die Märtyrerinnen unter den Frauen eingetreten ist, für die Frauen, welche sich aus reinster, natürlicher Liebe dem Manne geben, ohne an das in den meisten Fällen so wahrhaft unmoraliche Versorgungsinstitut, welches sich Ehe nennt, zu denken oder dank unserer weisen herrschenden Moral auch nur daran denken zu dürfen ... Sie, Herr Abgeordneter, können sich doch, wo es sich um Sie selbst handelt, nicht Lügen strafen! Pause.

BERGMANN noch einer Weile wie vorhin. Sie sind gütig, Herr Doktor, sehr gütig. Ich kann mich leider nicht mit Ihnen in eine Debatte einlassen. Hier handelt es sich nicht um meine Tochter, sondern um die Tochter Ernst Bergmanns, die der Graf Hohenfels ... Schweigt; nach einer Weile. Ernst Bergmann darf so eine Tochter nicht haben, Herr Doktor, verstehen Sie mich? Er darf nicht. Die Partei verbietet es ihm. Die Partei, welche durch ihn beschimpft wäre. Pause, dann schwer. Es heißt entweder die Zügel niederlegen in einem Augenblick, in welchem ich's nicht vor meinem Gewissen und dem Vaterlande verantworten kann ... oder opfern, aber ausharren. Pause. Ich muß ausharren. Leiser. So muß ich auch opfern. Lange Pause.[103] Heute können Sie mich nicht verstehen, in einigen Monaten werden Sie mich begreifen.

SCHROEDER nach einer Weile. Und Ihre Tochter?

BERGMANN gefaßt. Ich verurteile sie nicht, wenn ich ihr auch nicht verzeihen kann. Pause. Ich werde mich mit meiner Schwester schriftlich auseinandersetzen ... noch heute. Sagen Sie das, bitte, in Innsbruck. Nimmt die Uhr.

SCHROEDER. Sie werden sich die Sache noch überlegen, Herr Abgeordneter. Jetzt sehe ich, ich kann Sie nicht länger aufhalten. Leben Sie wohl, Herr Abgeordneter, und denken Sie daran, daß Sie zuerst Vater waren, bevor Sie Abgeordneter geworden sind. Daß sie zuerst Vaterpflichten haben und erst dann andere. Verneigt sich, ab.

BERGMANN blickt ihm nach, sinkt schwer in den Schreibtischsessel; lange Pause.


Bergmann, Ferndorf.


FERNDORF in Leutnantsuniform tritt ein, legt seine Hand auf Bergmanns Schulter. Bergmann ...

BERGMANN schreckt auf. Ferndorf, du? ... Wo kommst du her?

FERNDORF. Direkt aus dem Feld und gerade in einem Augenblick ...

BERGMANN. Du weißt?

FERNDORF. Ich habe draußen Dr. Schröder gesprochen. Er ist ein alter Freund von mir.

BERGMANN bitter. Nun, da bist du ja gleich über alle Neuigkeiten orientiert, die's in der Heimat gibt. Was sagst du denn dazu?

FERNDORF. Ich frage dich, ob du tatsächlich den Standpunkt, den du Dr. Schröder gegenüber eingenommen hast, auch mir gegenüber weiterhin vertreten willst?

BERGMANN sieht ihn groß an. So sprichst du? Gerade du? Du scheinst dir über die Tragweite nicht[104] im klaren zu sein. Fast schreiend. Die Tochter des radikalen Fraktionsführers erwartet vom Sohne des konservativen Grafen Hohenfels ein uneheliches Kind!

FERNDORF hart. Du hast sie gehindert, ein eheliches erwarten zu dürfen. Was willst du jetzt?

BERGMANN sinkt in sich zusammen.

FERNDORF milder. Sie ist ein Opfer unserer Vorurteile geworden. Gib dem armen Kind jetzt endlich Frieden. Die Steine, die du werfen willst, treffen höchstens dich.

BERGMANN. Vorurteile –? Ferndorf!

FERNDORF. Vorurteile.

BERGMANN. Wo hast du dir diese Anschauungen geholt?

FERNDORF. Draußen.

BERGMANN. An der Front?

FERNDORF. Ja, draußen, an der Front. Draußen, wo all' der kleinliche Hader, der Parteihader, schweigen muß, draußen, wo alle, welche empfinden können, nur das eine empfinden, daß sie zusammengehören, daß sie eins sein müssen, daß sie zusammenhalten müssen und daß es frevelhafter Uebermut ist, sich in glücklichen, frohen Friedenstagen um Nichtigkeiten willen das Leben zu verbittern. Leidenschaftlich. Draußen, wo infolge der ständigen Lebensgefahr, infolge des stets drohenden Todes der Hunger nach Glück sich ins Uferlose steigert, draußen habe ich gelernt, das Glück zu schätzen und alle die zu verlachen Drohend. und zu bekämpfen, die verhindern wollen oder in ihrer Kurzsichtigkeit verhindern, daß Menschen glücklich werden. Pause.

BERGMANN müde. Lassen wir das. Es führt zu nichts. Ich habe viel gelernt in diesem unseligen Krieg. Das aber als Vorurteil anzusehen, was ein gut' Teil Inhalt meines Lebens war und ist, das als Vorurteil anzusehen, worauf ich mein Leben und mein Lebenswerk[105] aufgebaut hab', das hab' ich Gott sei Dank noch nicht lernen müssen. Und wenn es einmal dazu kommen sollte, wenn die Zeit es mich lehren sollte, daß ich unnütz gelebt und gearbeitet habe, nein, daß ich vielmehr Schädliches, Schlechtes, zu Verwerfendes geleistet habe, dann ... dann ... Abbrechend. Ich werde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, meine Tochter mehr zu haben.

FERNDORF schwer. Du wirst allein sein, Bergmann, ganz allein.

BERGMANN. Ich werde mich mit Heinz aussöhnen. Er ist gescheitert, er hat genug gebüßt, daß er seinem Vater nicht gefolgt hat Er wird freudig den Weg zu mir zurückfinden, wenn ich ihm entgegengehe. Ich brauche ihn. Ihn und dich. Ich brauche junge, kräftige Elemente, die zum Kampf geschaffen sind. Ich brauche treue, aufopfernde Menschen, die zu mir stehen in der nächsten Zeit. Denn ich habe Großes vor. Ich will die Fraktion reorganisieren, ich will ihr die radikale, alles Bestehende zersetzende Spitze nehmen. Ich will ihr andere Tendenzen zugrunde legen. Sie soll Zersplittertes einigen, sie soll Zersetztes zusammenkitten, sie soll Zerstörtes erneuern, sie soll wiederaufbauen! Sie soll Leiser. gutmachen, wenn sie gefehlt hat. Längere Pause. Nun begreifst du wohl ... warum ich vom Plane nicht verschwinden darf... Langes Schweigen; dann fortfahrend. Du bist auf Urlaub jetzt?

FERNDORF. Ja.

BERGMANN. Wie lange?

FERNDORF. Ich bin heute gekommen und fahre morgen zurück.

BERGMANN. So kurzen Urlaub? Weswegen bist du denn hier?

FERNDORF ausweichend. Ich habe hier zu tun.

BERGMANN. So, so. Ich werde mich jedenfalls bemühen, für dich in der nächsten Zeit Urlaub zu erwirken. Für dich und für Heinz. Man wird es mir[106] nicht abschlagen, wenn ich den Grund nenne. Ich will noch heute ins Ministerium ... Oder meinst du, es wäre besser, ich würde mir einen Paß verschaffen und Heinz im Felde aufsuchen? Wir müssen uns ja erst aussprechen. Ich glaube, das wäre noch besser, wenn ich ihn im Felde aufsuchen würde. Ich weiß ja auch gar nicht, ob er mit mir arbeiten will, wenn ihm diese Arbeit auch keinen Gesinnungsbruch zumutet. Was meinst du, Ferndorf?

FERNDORF blickt zu Boden, schweigt.

BERGMANN betroffen. Du glaubst, er wird nicht wollen?

FERNDORF schweigt.

BERGMANN ungeduldig. Nun, so sprich doch ...

FERNDORF. Es ... es wird wohl nicht möglich sein ...

BERGMANN. Daß ich hinfahre? Oh, nichts leichter als das. In 24 Stunden habe ich den Paß. Ich gehe zum Minister. Oder meinst du, ich werde Heinz nicht auffinden können? Das erfahre ich auch in wenigen Stunden im Ministerium, wo er augenblicklich steht. Was soll also nicht möglich sein?

FERNDORF. Ihn zu sprechen ...

BERGMANN. Das sollte nicht möglich sein? Du glaubst, daß er mit seinem Vater nicht sprechen würde, wenn der zu ihm kommt? Ach, du kennst meinen Heinz schlecht. Der Dickkopf will nur nicht den ersten Schritt zur Versöhnung tun und so muß ich's halt besorgen. Ich war auch zu hart damals und leise wenn ich ehrlich sein soll ... ich sehne mich nach meinem Jungen.

FERNDORF. ... das meine ich nicht ...

BERGMANN. Das meinst du nicht? Was denn ... dann ...? Versteht plötzlich. Er richtet sich halberstarrt auf, sagt dann ruhig mit erloschener Stimme. Er ist tot?

FERNDORF. Ja. Lange Pause.

BERGMANN. Und du hast dir Urlaub genommen, mir's zu sagen?[107]

FERNDORF nickt; eine Weile Schweigen. Willst du Näheres wissen?

BERGMANN abwehrend. Später. Pause; atmet tief auf. So bleibt mir nur noch die Partei.

FERNDORF. Und deine Tochter. Man hört draußen Stimmengewirr.

BERGMANN. Oder meine Tochter. Nach schwerem Kampfe. Ich gehöre der Partei.


Vorige, Annie.


ANNIE stürzt durch die aufgerissene Türe, zerrauft, in unordentlicher Kleidung, den Ausdruck hilflosesten Entsetzens im Gesicht, zu ihrem Vater.

BERGMANN UND FERNDORF prallen zurück. Annie!

ANNIE. Vater, Vater, hilf mir! Beschütz' mich, Vater, versteck' mich!

BERGMANN. Was ist geschehen?

ANNIE klammert sich verzweifelt an ihn, blickt mit Grauen nach der Tür. Beschütz' mich, Vater, nur diesmal, Vater, verlaß mich nicht!

BERGMANN dem etwas Ungeheuerliches dämmert, schreiend. Wo ... wo ... ist ... das ... dein Kind –?

ANNIE. Vater ... Vater ...

BERGMANN. Wo ist dein Kind?

ANNIE. Ich ... es ... ich ... weiß ... es ... nicht...!

BERGMANN UND FERNDORF. Annie!

ANNIE. Vor ... ich weiß ja nicht mehr, wann ... Greift sich an den Kopf. da ... war es plötzlich da ... und ... und die Tante ... die Tante ... und die andern ... die haben alle gesagt ... ich könnte die Schande ... nicht über dich ... und die Familie bringen ... und ... und ...[108]

BERGMANN UND FERNDORF. Und?

ANNIE. ... und ... und da hab' ich es in den Garten gelegt, an die Mauer ... wo niemand hinkommt, in das Gebüsch ... wo es niemand sehen kann ... ich hab' es ja zuerst töten wollen ...

BERGMANN. Annie!

ANNIE. Ja, das hab' ich wollen ... aber ich hab' nicht können, Vater, es ist ja doch mein Kind... und dann hab' ich es wieder zurücknehmen wollen ...

FERNDORF. Nun und?

ANNIE. Aber da ist der Gärtner gekommen und ich hätt' an ihm vorüber müssen ... mit dem Kind ... und das hab' ich nicht gekonnt...

BERGMANN. Du hast es im Garten liegen lassen?

ANNIE nickt. ... Ich hab' es liegen lassen ... und bin fort ... fort auf die Bahn ... zu dir ... keinem hab' ich was gesagt ... keinem ... und die Leute, die haben mich so eigen angesehen ... so ganz eigen ... besonders die Wachleute ... und bis hierher sind sie mir gefolgt ... bis hierher, Vater ... Schreiend. Ich hab' ja solche Angst ... Rennt zum Fenster, schreit auf in namenlosem Entsetzen. Da ... da ... stehen sie ... zwei ... und schauen hinauf ... sie warten auf mich ... Vater ... mich suchen sie ...!!!

BERGMANN ist in den Sessel gesunken.

FERNDORF ist zum Fenster getreten, zieht jetzt Annie fort. Beruhigen Sie sich, Annie, die stehen immer hier. Kein Mensch tut Ihnen etwas zuleide. Fürchten Sie sich nicht. Es kann noch immer alles gut werden. Es läutet.

BERGMANN stöhnend. Meine Tochter ... eine Kindsmörderin! ...

ANNIE wimmernd. Vater, Vater, hilf mir ... du bist ja Abgeordneter ...

FERNDORF zu Bergmann. Ich gehe an deine Schwester telephonieren. Vielleicht ist noch alles zu retten ... Das Kind wird gefunden werden ... Es kann noch[109] leben ... Und Sie, Annie, legen sich einstweilen nieder. Vertrauen Sie mir nur, es wird noch alles gut. Greift ihr an die Stirne. Sie glühen ja, Sie haben hohes Fieber. Will sie ins Nebenzimmer führen.

JOHANN. Der Herr Polizeikommissär Reiter möchte den Herrn Abgeordneten sprechen.

ANNIE schreit auf, klammert sich an Bergmann.

BERGMANN UND FERNDORF zucken zusammen.

BERGMANN wischt sich den Schweiß. Entsetzlich ... Ringt nach Fassung.

FERNDORF. Es ist ja unmöglich ... unmöglich ... wir wollen sehen, was er will. Annie, gehen Sie ins Nebenzimmer. Gehen Sie. Und du, Bergmann, nimm dich zusammen. Jetzt heißt es Ruhe bewahren.

ANNIE flehend. Laßt mich bei euch ...

FERNDORF. Es geht nicht, Annie.

ANNIE in furchtbarer Angst. Verlaßt mich nicht! Laßt mich bei euch!

BERGMANN mühsam. Geh' ins Nebenzimmer.

ANNIE mit vor Angst irrem Blick ab.

BERGMANN beherrscht. Ich lasse bitten. Tritt Reiter ruhig entgegen.


Vorige ohne Annie, Polizeikommissär Reiter.


REITER sehr höflich. Hoffentlich störe ich nicht, das wäre mir sehr fatal, Herr Abgeordneter. Hoffentlich störe ich nicht?

BERGMANN tonlos. Womit kann ich dienen, Herr Kommissär? Bitte, machen Sie's kurz, ich bin auf alles gefaßt.

FERNDORF stoßt Bergmann warnend an.

REITER lachend. Auf alles gefaßt? Köstlich, ausgezeichnet, Herr Abgeordneter, wirklich sehr gut. Auf alles gefaßt, hahaha ... auf alles gefaßt ... wenn ein Polizeikommissär kommt, nicht wahr, muß man[110] auf alles gefaßt sein ... hahaha ... wirklich sehr gut ... haha ...

FERNDORF. Um was handelt es sich denn, Herr Polizeikommissär? Sie müssen entschuldigen, aber wir haben eine außerordentlich wichtige Konferenz. Und nur weil der Herr Polizeikommissär Reiter es ist, haben wir unterbrochen ...

REITER. Ah, ah, ah? Eine Konferenz, eine Sitzung, sozusagen? Eine Sitzung, wie? Hab' mir ja gleich gedacht, daß der Herr Abgeordnete zu tun hat und ich nur stör', wenn ich komm' ... gleich hab' ich mir's gedacht ... Der Herr Abgeordnete Bergmann ist der meistbeschäftigte Mann der Stadt. Jawohl, das hab' ich immer behauptet. Die anderen Herren Abgeordneten, haha ... die nehmen's nicht so ernst, das »Volksvertreten« ... haha ... ein gutes Wort, wie? »Volksvertreten«? Haha ... Ja, die nehmen's nicht so ernst. Aber der Herr Abgeordnete Bergmann, der ist immer beschäftigt. Und dabei immer bei Humor. Immer »auf alles gefaßt«, wenn ein Polizeikommissär kommt ... haha ... na, ich will nicht länger stören, wenn es sich um eine wichtige Konferenz, um eine Sitzung sozusagen, um eine Sitzung ... handelt. Ich komm' halt ein anderes Mal wieder, wenn ich vorüber komm'.

BERGMANN mit Anstrengung. Nein, nein ... bleiben Sie nur. Und sprechen Sie.

REITER. Es ist ja auch nur kurz. Und wenn ich noch einen Augenblick jetzt aufhalte, ist es vielleicht besser, als wenn ich dann noch einmal kommen muß. Und stören tu' ich ja ohnehin immer, wenn ich komm'. Der Herr Abgeordnete hat ja immer zu tun. Nicht wahr?

BERGMANN. Ja, ja. Also wenn ich bitten darf ...

REITER zieht umständlich ein dickes Buch hervor, spitzt bedeutsam einen Bleistift, sucht im Buche, dann im Amtstone. Es handelt sich um den Thomas Müller, geboren in Wien, im Kronlande Oesterreich unter der Enns,[111] römisch-katholisch, verheiratet, nein, ledig, nein, verheiratet, nein, ledig ... Kratzt sich. is' er jetzt verheiratet oder ledig? ... Vater eines unehelichen Kindes und zweier ehelicher Kinder. Eheliche Kinder? Da is' er scheinbar doch verheiratet? Na, da werd' ich noch nachfragen. Obzwar, nicht wahr, wenn er eheliche Kinder sozusagen in die Welt ... bitte, bitte, ich weiß schon was ich sage und brauche keine Belehrung; also: wenn er sozusagen eheliche Kinder in die Welt hat setzen lassen ... dann muß oder soll wenigstens die Ehe, wenn auch nur zum Scheine, bestehen. Nicht war? Also, da werd' ich noch fragen, ob eine Ehe besteht oder nicht. Uebrigens, da hab' ich's ja schon. Verheiratet mit Aloisia, geborene Zankapfel, geboren in Linz, im Kronlande Oesterreich ob der Enns ....

FERNDORF einfallend. Sie sprechen offenbar von dem Schreiber Müller, der im vorigen Jahre von uns entlassen wurde.

REITER. So ist es. Genau so. Da steht es ja. Thomas Müller, geboren in Wien, im Kronlande ...

FERNDORF. Niederösterreich ... ja, ja. Was wünschen Sie denn über ihn zu erfahren?

REITER beleidigt. Ich? Ich gar nichts. Die Behörde. Die Behörde wünscht zu erfahren. Ich stehe hier als Vertreter der Behörde.

BERGMANN. Also die Behörde wünscht etwas zu erfahren, was denn?

REITER vergnügt. So ist es. Die Behörde. Die Behörde wünscht zu erfahren, an welchem Tage der Thomas Müller, geboren ...

FERNDORF. ... in Wien, im Kronlande Niederösterreich usw.

REITER. Ja, usw. aus Ihren Diensten entlassen wurde. Es stimmt nämlich um einen Tag nicht. Er behauptet einmal am 26. April und dann wieder am 27. April. Daher muß das zutreffende Datum erhoben werden. Behördlich, amtlich erhoben werden.[112]

FERNDORF. Ja, spielt denn das eine besondere Rolle? Soviel ich weiß, hat dieses Datum ja mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun?

REITER aufgeregt. Eine Rolle? Eine besondere Rolle? Die Protokolle stimmen nicht, Sie stimmen nicht ... Es läutet mehrmals.

BERGMANN. Sie haben vollkommen recht, Herr Kommissär. Leider kann ich Ihnen jetzt keine Auskunft geben, da mir die Bücher nicht zur Verfügung stehen. Aber ich sende Ihnen noch heute meinen Sekretär hinüber, der Ihnen Nachricht bringt.

REITER. Sehr gütig, sehr liebenswürdig, Herr Abgeordneter. Und jetzt will ich nicht weiter stören, Herr Abgeordneter. Ich habe die Ehre, meine Herren, habe die Ehre. Ab.

BERGMANN. Gott sei Dank! Gott sei Dank!

JOHANN bringt ein Telegramm herein. Ein Telegramm, Herr Abgeordneter. Und dann: draußen warten schon eine Weile mehrere Herren von der Fraktion. Sie lassen bitten, sofort vorgenommen zu werden. Ab.

BERGMANN. Eine Sekunde noch, eine Sekunde noch. Aufgeregt zu Ferndorf. Aus Innsbruck. Erbricht das Telegramm. Ferndorf, das Kind ist gefunden, es lebt! Ferndorf Fast schluchzend vor Bewegung. das Kind ist gefunden, es lebt! Lieber Himmel, wie dank' ich dir!

FERNDORF ebenfalls ganz glücklich. Was telegraphiert deine Schwester?

BERGMANN. Nichts weiter als: Kind gefunden, lebt, keine Sorge haben!

FERNDORF. Ich will zu Annie! So ist, Gott sei Dank, doch alles gut geworden. Will zur Türe hinaus.


Vorige, drei Herren der Fraktion.

Die drei Herren treten ein.


1. HERR tritt Ferndorf in den Weg, dringend, halblaut. Wohin? Einen Augenblick, Kollege, Sie sind hier jetzt[113] dringend nötig ... Man hört in der Ferne dumpfes Stimmengewirr.

FERNDORF erstaunt. Sofort, ich komme gleich wieder.

1. HERR wie vorhin, mit Bedeutung. Hören Sie nicht unten? Bleiben Sie hier. Jede Sekunde ist kostbar. Es kann ein Unglück geben.

FERNDORF lauscht, erschrickt. Was ist das?

1. HERR. Sie bleiben? Tritt mit den anderen nach vorne.

FERNDORF. Was wird dieser Unglückstag noch bringen! Bleibt im Zimmer.

BERGMANN sich zu den Herren wendend. Möchten die Herren nicht Platz nehmen? Doch was sehe ich? Die Herren im Frack? Stutzt. Was gibt es denn? Stimmengewirr nähert sich.

HERREN schweigen.

1. HERR. Eh ... ja ... wir kommen, Herr Abgeordneter, im Dienst und im Auftrage der Fraktion her ... wir sind nicht die Kommission, welche Herr Abgeordneter zur Konferenz erwarten. Die Konferenz unterbleibt heute. Die Herren kommen nicht. Pause.

BERGMANN stutzt. Warum kommen denn die Herren nicht? Was ist denn geschehen? Und warum werde ich denn nicht sofort unterrichtet, wenn die Herren nicht kommen? Es können doch unmöglich alle krank sein? Was ist denn los?

1. HERR. Wie gesagt ... eh ... es ist schwer ... ja, wir kommen, wie gesagt, im Dienste und über Auftrag der Fraktion her. Ringt nach Worten.

BERGMANN immer erstaunter. Ueber Auftrag der Fraktion? Zu mir? Was wünschen Sie denn? Der Lärm unten wird immer stärker und nähert sich, vehement anwachsend.

1. HERR. Es wird uns schwer, ganz furchtbar schwer ... und daß gerade wir es sind ... ich es sein muß, der ... Bergmann blickt auf ihn, horcht dann erstaunt nach unten.

1. HERR sich sammelnd. Herr Abgeordneter, Ihnen sind die Ereignisse der letzten Tage bekannt. Das[114] Volk ist ja wie von Sinnen. Und was das Böseste an der Sache ist, es schiebt jetzt uns, unserer Fraktion einen Hauptteil der Schuld an dem allgemeinen Zusammenbruch, durch die verschiedenen Parteipressen aufgehetzt, zu. »Wir«, heißt es jetzt allgemein, hätten den Ausbruch des Krieges noch in letzter Minute verhindern können, hätten wir auch in den letzten Tagen vor Kriegsbeginn unsere ursprüngliche Politik fortgesetzt. So aber hätten wir dadurch, daß selbst wir vorbehaltlos die Rüstungs- und Kriegskredite bewilligt haben, alle jene, welche schwankten und sich verzweifelt nach einem Rückgrat, nach einer Stütze umsahen, mit welcher vereint sie noch gegen den Ausbruch des Krieges hätten ankämpfen können, ins kriegsfreundliche Lager getrieben. Dadurch, daß selbst wir ins Kriegslager eingeschwenkt wären, jubelnd ins Kriegslager eingeschwenkt wären, wäre der Krieg erst ganz beschlossene Sache geworden. Dies wäre die eine Seite unserer Schuld. Die zweite werde durch unser fast jedesmaliges Ablehnen der verschiedenen Militärvorlagen Jahre hindurch gebildet, wodurch wir die Schaffung günstigerer Kampfbedingungen, wodurch wir eine günstigere Ausrüstung unseres Heeres verhindert hätten. Wären wir gerüsteter in den Krieg eingetreten, hätten sich vielleicht die letzten Niederlagen, vor allem aber Verluste vermeiden, wenigstens verringern lassen ... Bange Pause.


Der Lärm unten wächst orkanartig an.


1. HERR setzt fort. Herr Abgeordneter, die Partei kann ohne Gefahr für ihren weiteren Bestand diese Vorwürfe, auf welche sie nur wenig oder nichts zu erwidern vermag, nicht länger auf sich ruhen lassen ohne zu ihnen Stellung zu nehmen und der allgemeinen Volksmeinung, der Volksstimmung ... Zugeständnisse zu machen. Es muß vor aller Welt[115] ein Opfer gebracht werden. Eher ist nicht Ruhe. Pause; mit abgewandtem Gesichte, zu Boden blickend. Es muß der geopfert werden, der für alles, was die Partei getan und unternommen hat, auch die Verantwortung zu tragen hat. Lange Pause; dann mit erhobener Stimme. Herr Abgeordneter, die Fraktion bittet Sie ... »die Fraktionsleitung und Ihr Mandat niederzulegen!« Es tritt ein schweres, ängstliches Schweigen ein. Die Menge unten steht. Rufe, Johlen, wüstes Geschrei tönt herauf. Unsere Kinder! Unsere Söhne! Gebt uns unsere Männer und Söhne wieder! Wir wollen unsere Kinder zurückhaben! Mörder! Verräter! Unsere Männer und Kinder wollen wir wieder zurückhaben! Dazwischen gellende Rufe. Pfui Bergmann!! Nieder mit ihm! Er hat unsere Männer und Kinder in den Tod getrieben! Erschlagt ihn! Mörder!! Schuft!! Verräter!!!

BERGMANN greift wankend nach einer Stütze.

FERNDORF springt hinzu.

BERGMANN wehrt ab, rafft sich auf, will auf den Balkon.

1. HERR tritt ihm in den Weg, warnend. Herr Abgeordneter, die Leute sind nicht mehr bei Sinnen. Es kann ein Unglück geben!

BERGMANN beherrscht. Das ist unsere Fraktion?

1. HERR. Ja.

BERGMANN rauh. Macht Platz!

1. HERR. Herr Abgeordneter, ich warne Sie ...

BERGMANN. Macht Platz! Tritt auf den Balkon. Er hebt die Hand. Augenblicklich tritt Schweigen ein. Aber es dauert nur Sekunden. Dann bricht tosender Lärm los. Ein Steinhagel fällt durch die splitternden Fensterscheiben ins Zimmer. Gellende Rufe ertönen. »Mörder! Verräter! Mörder unserer Männer und Kinder! Erschlagt ihn! Erschießt ihn! Den Hund, der unsere Männer und Söhne in den Tod getrieben hat!« Tosender Lärm. Ein neuer Steinhagel fällt ins Zimmer. Plötzlich[116] fallen mehrere Schüsse. Der Lärm dauert an; Ferndorf zieht Bergmann mit Gewalt ins Zimmer. Es tritt unten Ruhe ein.

BERGMANN sinkt auf einen Sessel. Man wirft nach mir mit Steinen, man schießt auf mich ... meine Fraktion ... Friedrich, du hast Recht behalten ...! Nach einer Weile, fest. Ich tue, was die Fraktion will. Ich lege die Fraktionsführung und mein Mandat nieder.

1. HERR zieht einen Bogen Papier hervor. Herr Abgeordneter brauchen nur zu unterfertigen ...

BERGMANN liest, unterschreibt sodann.

1. HERR tritt auf den Balkon, mit lauter Stimme. Geht jetzt nach Hause, Leute. Was ihr gewollt habt, habt ihr erreicht: Herr Bergmann hat sein Mandat und die Fraktionsführung niedergelegt. Unten ertönt lautes Bravo- mit Pfuirufen auf Bergmann untermischt; dann von unten.

KRÄFTIGE MÄNNERSTIMME. Wir wollen wissen, wer sein Nachfolger wird!

1. HERR verlegen, unschlüssig. Das kann ich noch nicht sagen, das weiß ich noch nicht ... Unten geht das Getöse wieder los.

VIELE STIMMEN. Sein Nachfolger, ja, seinen Nachfolger möchten wir sehen ... wer sein Nachfolger wird ...

1. HERR. Den müßt ihr ja erst wählen ...

KRÄFTIGE MÄNNERSTIMME. Der Heldenberg muß es werden, der ist der wahre Volksfreund!

VIELE STIMMEN. Ja, der Heldenberg! Der Heldenberg!

KRÄFTIGE MÄNNERSTIMME. Da kommt er ja gerade! Hoch Heldenberg! Hoch Heldenberg, der neue Parteiführer! Hoch!

ALLE. Hoch Heldenberg! Hoch der neue Parteiführer! Nieder, pfui, Bergmann! Unter diesen Rufen ziehen die Demonstranten ab.

BERGMANN rauh auflachend. Bergmann geht. Heldenberg kommt! Sein Lachen mahnt bedenklich an ein unterdrücktes Schluchzen.[117]

FERNDORF winkt den drei Herren zu gehen.

DIE DREI HERREN ab.

FERNDORF mit Bewegung. Bergmann ...

BERGMANN. Das ist das Ende ...

FERNDORF. Nein, Bergmann, das ist der Anfang. Der Anfang deines neuen Lebens. Dank' dem lieben Herrgott, daß du das hinter dir hast. Jetzt, zum ersten Male, wirst du Zeit haben für deine Familie und für dich zu leben. Pause. Du hast zu wählen gehabt zwischen deinem Kind und der Partei. Der Himmel selbst hat entschieden, Bergmann. Du hast von heute an nur eine Aufgabe noch: Dein armes Kind glücklich zu machen, ihm den Lebensweg, von dem es abgeglitten ist, neu aufzubauen. Mit Wärme. Bergmann, willst du das tun? Hält ihm die Hand entgegen.

BERGMANN tief aufatmend und sich reckend. Ja, Ferndorf, ich will's versuchen! Schüttelt Ferndorf die Hand. Wirst du mir auch helfen?

FERNDORF einfach. Ja. Als dein Freund oder als – dein Schwiegersohn. Es hängt von ihr ab.

BERGMANN. Ferndorf? Nach dem???

FERNDORF. Du hast recht, man muß ihr Zeit geben zu verwinden ...

BERGMANN. Aber ich spreche ja nicht von ihr, von dir red' ich, von dir ganz allein ...?

FERNDORF. Von mir? Ich hab sie lieb ... oder sollt' ich sie weniger lieb haben, weil sie unglücklich ist?

BERGMANN drückt ihm in wortloser Rührung beide Hände.

FERNDORF. Ich will sie holen. Die Arme weiß ja noch gar nicht, daß alles wieder gut ist.

BERGMANN. Sie wird schlafen. Aber geh', hol' sie nur. Bring' du ihr die gute Nachricht. Die Botschaft wird ihr noch besser tun als Schlaf ...

FERNDORF ab.

BERGMANN tritt ans Fenster, seufzt tief auf.

FERNDORF stößt drinnen nach einer Weile einen markerschütternden[118] Schrei aus, stürzt mit allen Anzeichen des Entsetzens hinaus. Schreiend. Sie hat ... sich ... sie ... hat ... sich ... am ... Fensterkreuz ... erhängt!!!

BERGMANN richtet sich starr auf, fällt dann in den Schreibtischsessel. In fassungslosem Entsetzen starrt er Ferndorf an, dann beginnt er zu lachen. Ein unheimliches, grelles Lachen. Er verlacht darin sein ganzes Leben.


Vorhang fällt langsam.


Quelle:
Hans Chlumberg: Die Führer. Wien und Leipzig 1919, S. 96-97,99-119.
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