Nro. 6.

[399] Ich komme zurück zu dem Ungenannten, und der versichert denn pag. 8 seine Leser: »daß das Reich der Mystik, des Aberglaubens und des theologischen Machiavellism in seinen Grundfesten erschüttert sei«.

Es ist nicht unsre Schuld, daß er, über das Reich der Mystik und was er des Aberglaubens nennt, nicht besser unterrichtet ist.

Das Reich der Mystik ist nicht so leicht erschüttert, als er meint. Und wenn es würklich erschüttert wäre; so sollte es nicht erschüttert sein, weil die Mystik ohne Geräusch zu allen Zeiten viel Gutes gewürkt hat, nicht allein in ihrem Reich sondern auch außer demselben.

Planck, den der Ungenannte immer als einen billigen und kompetenten Richter in diesen Sachen kann gelten lassen, wenn[399] er gleich kein Mystiker ist, äußert sich darüber so, in seiner bekannten Geschichte der Entstehung des protestantischen Lehrbegriffs S. 22 in der Anmerkung:

»Das wieder aufgehende Licht der Wissenschaften, welches in Deutschland Religionsverbeßrer weckte, bildete in Italien Deisten. Niemals lebten dort so viel schändliche Männer beisammen, als seit der Eroberung Konstantinopels bis zu dem Anbruch der Reformation, und hätte nicht die platonische Philosophie und daher entspringende Mystik den Strom ein wenig gehemmt, so würde in diesem Zeitalter der Pomponaze und der Aretine, der gröbste Sittenverfall Folge der wissenschaftlichen Aufklärung geworden sein.«

Und Spittler in seiner Kirchengeschichte, so wenig er auch sonst für mystische Begriffe ist, legt gleichwohl S. 327 das folgende Zeugnis über die Mystik ab: »Doch fand sich gerad in dem Zeitalter, wo das Verderben in Theologie und Religion aufs Höchste gestiegen zu sein schien, fast noch reichlicher als vorher manches Gute das demselben entgegenwürkte. Die Mystik bekam große Schriftsteller – hie und da stunden Eiferer für das praktische Christentum auf, die, selbst wenn sie auch so viele Fehler begingen als Hieronymus Savonarola, doch in der Sphäre, in der sie sich befanden, viel Gutes wirkten.« Er sagt gleichwohl, S. 389, daß »wie die Mystik in den finstern scholastischen Perioden des mittlern Zeitalters zuletzt noch einziges Labsal einer nach Religion durstenden Seele wurde, so nun« (nämlich in den Zeiten der Konkordien–Formel) »der ähnliche Fall bei ähnlichen Zeiten sei«, und »daß Arndts Schriften noch gegenwärtig mit vielem Segen gelesen werden«.

Über eines solchen Reichs Erschütterung sollte der Ungenannte doch wohl eigentlich nicht so jubeln, wenn sie würklich geschehen wäre. Aber es hat damit, wie gesagt, gute Wege. Und auch darüber mag der Doktor Planck ihn zurechtweisen, wie folget:

»Zwar bildete sie (nämlich die mystische Theologie) sich immer, wie jede Wahrheit, nach der individuellen Vorstellungsart ihrer Anhänger, wurde von einigen weitergetrieben und von anderen gemildert, litt jetzt Abfälle und erhielt zu einer andern Zeit Zusätze; aber ihre wesentlichen Grundsätze blieben immer einerlei, und hatten auch auf den Geist ihrer Anhänger immer die nämliche Wirkung. Sie schien sie zwar äußerlich meistens in dem Zustand einer untätigen, stillen, ganz in sich gekehrten Betrachtung zu erhalten, in welchem sich ihre Seelenkräfte, die auf[400] einen einzigen Punkt gerichtet wurden, ohne Zweck abzunutzen schienen: aber sie beschäftigte innerlich ihre ganze Tätigkeit unter dem unaufhörlichsten und schwersten Kampf gegen Versuchungen, welche sie vielleicht selbst veranlaßte, oder mit denen sie, welches ebendie Wirkung hatte, ihre Einbildungskraft schreckte; sie unterhielt immer ein Feuer in ihrer Seele, das freilich Schwärmerei war, aber sie nährte zu gleicher Zeit ihren Geist mit Vorstellungen, welche seine höchste Erwartungen rege machten; sie erhöhte und veredelte alle ihre Empfindungen; und gab ihnen die Stärke, welche sie nicht nur überhaupt fähig machte, die schwersten Tugenden auszuüben, sondern, was noch mehr war, sie auch fähig machte, unbeachtet von einem menschlichen Auge, und ungesehen von einem Zeugen, diese Tugenden auszuüben.

Diese Theologie, hatte sich Jahrhunderte hindurch, beinahe ganz unverändert erhalten, in den Klöstern, welche in Deutschlands nördlichsten Gegenden lagen, wie unter Afrikas heißem Himmel in den ersten Einsiedlerwohnungen Ägyptens, zum unwidersprechlichsten Beweis, daß sie nicht systematische Dogmatik, sondern in einem gewissen bestimmten Zustand der menschlichen Seele, der sich unter jedem Himmelsstrich und in jedem Jahrhundert gleichbleibt, gleichsam natürlich war.«

Dieser »gewisse bestimmte Zustand der menschlichen Seele, darin die mystische Theologie gleichsam natürlich war, und der sich unter jedem Himmelsstrich und in jedem Jahrhundert gleichbleibt« ist nun keinesweges zufällig oder imaginär, sondern der menschlichen Seele wesentlich und natürlich wenn sie anfängt des Mißverhältnisses zwischen ihrer innerlichen Würdigkeit und ihrer äußerlichen Verfassung innezuwerden, wenn ihr über die Leidigkeit ihrer ersten Tröster die Augen offen gehen und es ihr um ihre Veredelung und Genesung Ernst wird. Und ebendarum bleibt sich dieser Zustand der menschlichen Seele unter jedem Himmelsstrich und in jedem Jahrhundert gleich, wie sich die ersten Bewegungen der vegetabilischen Entwickelung immer und allenthalben gleich bleiben, und ein Weib, das gebären soll, in jedem Jahrhundert und unter jedem Himmelsstrich, sich krümmt

und nach Hülfe ruft.

»Ich will dir viel Schmerzen schaffen wenn du schwanger bist; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären« etc.

Es wäre bequem, wenn sie den armen Weibern eine Methode, das Kind leicht und lustig zu gebären oder von andern für sich gebären zu lassen, erfinden könnten.[401]

Aber, sie haben sich bisher vergebens geschmeichelt. Und verständige Leute sind immer der Meinung gewesen, daß man sich dem Gange der Natur schlecht und recht unterwerfen müsse, wenn man nicht Fausse–Couches machen will.

Die Leute, die sich und andere so flugs weise lesen und schreiben können und so gar leicht zur Aufklärung zu kommen wissen, die haben von Glück zu sagen. Plato, ob ihn gleich der Ungenannte mehrmals als seinen Mitphilosophen nennt, war dieser Meinung ganz und gar nicht. Er läßt den Sokrates oft von Schwierigkeiten auf dem Wege zur Weisheit sprechen, und er selbst sagt unter andern in seinen Briefen, nach Schlossers Übersetzung:

»Diejenigen, die nicht mit ganzer Seele von der Philosophie durchglühet sind, sondern welchen nur einige Ideen die Oberfläche gefärbt haben, wie die Sonne die Körper bräunt die ihr ausgesetzt sind, wenn die hören, wieviel sie zu lernen haben, wie viele Arbeit ihnen bevorsteht, wie sehr sie, um auf dem Weg, den sie wandeln wollen, fortzukommen, jeden körperlichen Genuß beschränken müssen, die fühlen denn bald, daß ihnen das viel zu schwer ist, und ziehen die Hand zurück von einer Last, die ihre Kräfte so weit übersteigt.«

Und Luther, dessen Reformation der Ungenannte, pag. 31, in Schutz nimmt, ist auch zu seiner Aufklärung nicht so leicht gekommen. Es wird dem Ungenannten vielleicht interessant sein, etwas umständlicher zu erfahren, was Luther, den er einen Verteidiger der Wahrheit nennt, nach Aussage der Beikommenden hauptsächlich verteidigt habe, und wie er sich dazu genommen. Er hatte den Aristoteles und die berühmtesten Scholastiker fleißig studiert, konnte aber, was er suchte, in ihnen nicht finden, und ging ins Kloster. »Es war«, erzählt Planck weiter, »weder Säure einer strengen Gemütsart, noch jugendliche Schwärmerei einer erhitzten Phantasie, welche Luthern zu dem Entschluß bewogen hatte, sich in dem Augustinerkloster zu Erfurt aufnehmen zu lassen. – Aber in dieser Seele war tiefes Gefühl für Religion, und zarte Empfindung ihres Werts und ihrer Notwendigkeit so fest eingewurzelt, daß sie selbst durch das Studium der Scholastik nicht abgestumpft werden konnte. Es war schon dem Jüngling über alles wichtig, in der Sache seiner Seligkeit gewiß zu sein, und dies war der Beweggrund, welcher ihn von jeher aufforderte, Wahrheit überall zu suchen, wo er sie nur vermuten[402] konnte, aber dies war auch der Grund, der ihm jede Wahrheit, welche er gefunden zu haben glaubte, so teuer, der ihm jede Überzeugung so wert, und ihn selbst fähig machte, alles daranzuwagen und zu dulden, denn jede Wahrheit war für ihn nicht ein eingebildeter Gewinn, wie sie es sonst für den Forscher ist, der nur Befriedigung seiner Wißbegierde oder irgendeinen andern kleinen Beweggrund zum Zweck hat. Man sahe es an dem feierlichen Ernst, mit dem er immer von Glaubenslehren sprach, daß es ihm unmöglich war, sie bloß als Gegenstände einer müßigen gelehrten Untersuchung oder einer gelehrten Streitigkeit zu betrachten, sondern daß er sie immer nach ihrer Beziehung auf das praktische Christentum zu betrachten, und nach ihrem Einfluß auf das Herz und die Beruhigung des Menschen zu schätzen gewohnt war. – Da er (Staupitz), als Generalvicarius des Augustinerordens in Deutschland nach Erfurt kam, um den Zustand des Klosters daselbst zu untersuchen, so war es nicht möglich, daß Luther seiner Aufmerksamkeit lange entgehen konnte, da er so viel Besonderes an sich hatte, das ihn von den übrigen unterschied. Ein niedergeschlagenes Auge, ein trauriger Gang, ein Blick, der dem erfahrnen Beobachter eine von innerem Kampf zerrissene, aber immer noch zum Widerstand entschlossene Seele unverkennbar verriet, feierlicher und trüber Ernst im ganzen Anstand zeichneten den jungen Mönch vor allen andern aus, und Staupitz, der aus Erfahrung wußte, was diese Zeichen an einem Menschen von Luthers Bildung und Fähigkeiten zu bedeuten hatten, konnte leicht daraus den Schluß machen, was im Innersten seiner Seele vorgehen müsse. – Luther hatte ihm die Ursache seines Ernstes und seiner Traurigkeit entdeckt, die vorzüglich durch geistliche Anfechtungen, und beständig anhaltende Versuchungen zu Gedanken, vor denen sein Herz zurückbebte, und durch die schreckenvollen Vorstellungen veranlaßt wurde, mit denen sich seine rege Einbildungskraft immer beschäftigte; und Staupitz freute sich, in der zarten Empfindung dieser edlen Seele, welche selbst vor dem Schatten des Bösen erschrak, in der Bereitwilligkeit, mit der sie sich dem schwersten aller Kämpfe dem Kampf gegen sich selbst unterzog, in der Treue, mit der sie selbst eine noch nicht aufgeklärte Überzeugung unter den erschwerendsten Umständen bewahrte, und in dem brennenden Durst, mit dem sie nach Aufklärung und Beruhigung schmachtete, itzt im voraus den künftigen Eifer des befestigten Mannes für die Wahrheit, welche ihn über kurz oder lang gewiß beruhigen[403] mußte, die feste Entschlossenheit, mit welcher er denn alles ihr aufopfern, und die Märtyrerstandhaftigkeit, mit welcher er sie einst bekennen würde, zu erblicken. Er sprach mit ihm in dem Ton eines Vaters, der es ganz aus eigner Erfahrung weiß, was er dem jungern Sohn raten muß; er zeigte ihm die Versuchungen und die Kämpfe, unter denen seine Seele beinahe erlag, von einer Seite, von welcher sie ihm höchst aufmunternd und höchst wohltätig erscheinen mußten: er lehrte ihn den großen Grundsatz, daß diese innere Bewegungen der Seele nicht nur ihre Fähigkeiten immer in Übung erhalten, sondern sie eben dadurch erhöhen etc. Man weiß zwar nicht eigentlich, worin die Zweifel und die Anfechtungen bestanden haben, welche Luthern so schwere Kämpfe kosteten, aber – ohne Zweifel hatte sich jene durch das Verlangen, seiner Seligkeit gewiß zu sein, verursachte Unruhe seines Geistes, welche Luthern in ein Kloster trieb, nach seinem Eintritt darin nicht so bald gestillt, als er vielleicht gehofft haben mochte. Sie verfolgte ihn selbst in die einsame Stille seiner Zelle, und wurde noch lästiger unter dem äußern Druck einer strengen Klosterzucht, und bei dem Gebrauch aller jener harten Mittel, durch welche sie seiner Erwartung nach hätte gehoben werden sollen. Er empfand zu lebhaft, als daß er es vor sich selbst hätte verbergen können, daß die unbarmherzigsten Büßungen, daß die pünktlichste äußere Beobachtung aller Regeln seines Ordens, daß die treueste Übung in demjenigen was man damals gute Werke nannte, ihn im Grunde nicht besser, also auch der Gnade Gottes nicht würdiger machen, ihm wenigstens diese Gnade nicht so gewiß versichern könne, daß er sich mit beruhigender Zuversicht darauf verlassen dürfte. Es ahndete seine Seele, daß es einen andern Grund unsrer Beruhigung geben müsse, als das Selbstbewußtsein eigener Güte und eigener Gerechtigkeit – aber bis er diesen andern Grund fand, bis sich die trübe Vorstellung seines Geistes davon nach und nach aufhellte, mußte er unaufhörlich von Zweifeln verfolgt werden, welche alle Kräfte seiner Seele zu erschöpfen drohten. – Daß er lange die ganze Bitterkeit dieses Zustandes empfinden mußte, erhellt vorzüglich aus der ungestümen Freude, mit der sich sein Geist, von den Fesseln der Vorurteile befreit, dem Licht entgegendrängte, das in der Folge ihm aufging, der Überzeugung entgegendrängte, daß freie Gnade Gottes und nicht unsre Werke, daß Christi Verdienst und nicht das unsrige, der Grund unserer Seligkeit und unsrer Beruhigung sei, aus dem dankbaren Enthusiasmus, mit[404] welchem er diese große Wahrheit ergriff, und ihr nicht nur Aufklärung aller seiner Begriffe, nicht nur Auflösung aller seiner Zweifel, sondern die ganze Ruhe seines gegenwärtigen Lebens, und alle Freuden des künftigen schuldig zu sein bekannte, etc.«

Es ist merkwürdig, daß zu dieser unsrer Zeit grade das Gegenteil verteidigt wird und Aufklärung und Wahrheit heißt, und daß itzo alles schier umgekehrt ist. Bei Luthern ging die Vernunft von sich selbst aus, um etwas Höheres zu haben; itzo wirft sie das Höhere weg, um zu sich selbst zu kommen. Damals war die Religion über die Vernunft, itzo ist die Vernunft über die Religion, und kann gar selbst Religion schaffen.

Daß die Vernunft auf dergleichen Vermutungen geraten kann, ist wohl zu begreifen und zu erklären. Sie ist sich nämlich ihres Adels bewußt, sieht auch vor Augen, was sie in ihrem Gebiete getan hat und tun kann, und hat denn grade nicht Zeit und Lust an sich zu verzweifeln. Der Adler, dem die Flügel gebunden sind, kann zwar eigentlich nur an der Erde hin flattern; aber er fühlt doch in sich die Kraft und den Beruf, durch alle Himmel zu fliegen.

Daß aber diese Vermutung sollte wahr gemacht werden, daß die bloße Vernunft sich und andre sollte frei machen, oder Religion schaffen können; das ist nicht wohl zu erklären und zu begreifen.

Mag die Vernunft hin und wieder ein neues Licht aufgesteckt haben; der Grund muß da sehr dunkel sein, wo dergleichen Lichter so viel Aufsehen machen und so sehr in die Augen fallen. Mag sie Vorschritte gemacht und Feld gewonnen haben, so viel sie will; alle ihre Schritte und selbst ihre schönsten Siege und Eroberungen sind grade Beweise der Unwissenheit und Abhängigkeit chez soi, und machen, wie Blitze, die Finsternis sichtbar, darin sie sich eigentlich befindet.

– The observation of human blindness and weakness is the result of all philosophy, sagt Hume.

Zu deutsch: »Das Gewahrwerden der menschlichen Blindheit und Schwachheit ist das Resultat aller Philosophie.« Dies Resultat nun kann doch, selbst, die Religion nicht wohl sein, von der sie reden. Und schwerlich kann sie auch bloß daraus oder damit gemacht werden.

Wer die Vernunft kennt, verachtet sie nicht. Sie ist ein Strahl Gottes, und nur das radikale Böse hat ihr die himmelblauen Augen verderbt. Aber, es schwebt noch um den blinden Tiresias[405] etwas Großes und Ahndungsvolles; und sie hat, wie der König Lear, auch wenn sie irreredet, noch die Königsmiene und einen Glanz an der Stirne.

Wir sind vom königlichen Geschlecht, und wir können und sollen Könige werden. Nur, sie wollen uns weismachen, wir wären schon was wir sein sollen, und wären es durch Talisman' und Formeln geworden. Und das ist lächerlich, und nicht wahr, und nicht ehrlich.

Was soll uns leidiger Trost und Großtun, wenn man darbt und vor Hunger nicht schlafen kann.


– of comfort no man speak:

Let's talk of graves, of worms, and epitaphs –

For heav'ns sake let us sit upon the ground,

And tell sad stories of the death of kings: –

Cover your heads, and mock not flesh and blood

With solemn rev'rence: throw away respect,

Tradition, form, and ceremonious duty,

For you have but mistook me all this while:

I live on bread like you, feel want like you,

Taste grief, need friends, like you: subjected thus,

How can you say to me, I am a KING?


Das einzige, was übrigbleibt, ist Herstellung durch eine höhere Hand. Die, oder gar keine. Denn die bloße Vernunft ist die bloße Vernunft. Sie weiß nicht mehr als sie weiß, und kann nicht mehr als sie kann; und sie soll sich mehr wissen machen als sie weiß, und soll sich mehr können machen als sie kann. Die Blindheit soll Gesicht und die Schwäche Stärke machen, und das ist gleich so närrisch und unmöglich, als daß einer sich selbst soll über den Kopf springen können.

Voilà, sagt der alte naive und verständige Skeptiker Montaigne zu dem Spruch des Seneca: »daß, nämlich, der Mensch eine res contempta sei nisi supra humana se erexerit«.

Voilà, sagt er, un bon mot, et un util désir: mais pareillement absurde. Car de faire la poignée plus grande que le poing, la brassée plus grande que le bras, et d'espérer enjamber plus que de l'estendue de nos jambes; cela est impossible et monstrueux: ny que l'homme se monte au dessus de soy et de l'humanité: car il ne peut voir que de ses yeux, ny saisir que de ses prises. Il s'eslevera si Dieu luy preste extraordinairement la main: Il s'eslevera abandonnant et renonçant à ses propres moyens, et se laissant hausser et souslever par les moyens purement[406] célestes. C'est à nostre foy Chrestienne, non à sa Vertu Stoique, de prétendre à cette divine et miraculeuse métamorphose.

Diese »moyens purement célestes«, die dem Tugendhaften in dem schwersten und edelsten Kampfe unsichtbar zur Seite stehen, und ihm, wenn er treu kämpft, in der letzten heißesten Stunde erscheinen und lohnen wollen, sind, an und in sich, so etwas Erhabenes, Heiliges und Teures, daß man denken sollte: die bloße Sage davon würde, wie ein in der Nacht aufgehendes erfreulich Gestirn, alle gutgesinnte Menschen erregen und sammlen, sich, unter seinem Schein, einander die Hände zu geben und sich einan der Mut zu machen. Streben nach der Herrschaft des Geistes, Verleugnung, Kampf gegen sich selbst, Tugend etc. ist doch zu allen Zeiten und bei allen Völkern als die wahrhaftige Größe des Menschen angesehen und geachtet worden. – Und sie, in ihrer Unwissenheit und Unsicherheit, trüben und dunkeln dies milde wohltätige Gestirn, das allein vielleicht manchen edlen Kämpfer nur noch unverzagt und aufrecht erhalten konnte, durch ihre blöden Zweifel, und sind so vielleicht schuld, daß er, nahe am Ziel, umwendet, und die Hände sinken läßt. Aber, wer des schuld ist, er sei wer er wolle und heiße Heinz oder Kunz, der soll wissen, daß er nicht wohlgetan, und sich an der Seele seines Bruders vergriffen habe.

Es schickt sich schlecht für vernünftige Leute, in Dingen von solchem Einfluß und Belang leichtsinnig zu fahren, und es wäre wohl gescheuter, daß man, anstatt über die »moyens purement célestes« mit eiteln Meinungen zu faseln, daß man statt dessen, durch Ernst und Ausdauern im Kampf gegen das Böse außer und in uns, über ihre Existenz oder Nichtexistenz zur Gewißheit zu kommen suchte.

Zum Beschluß noch von den politischen Einsichten des Ungenannten.

Er ist bekanntlich ein Freund und Anhänger der neuen politischen Lehre. Und warum sollte er das nicht sein, wenn er nur die Gabe hätte die Geister zu unterscheiden. Was in der neuen Politik wahr und für den Menschen nützlich ist, wer wollte dem nicht anhängen? Und wer – hat dem nicht lange angehangen; denn, wahrlich, manchem älteren Schriftsteller, unter andern nur dem Verfasser des bekannten Schulbuchs »Télémaque« würde und müßte, wenn er itziger Zeit noch lebte, einfallen zu sagen, was Erasmus seinerzeit von Luthers neuer Lehre sagte: mihi videor omnia docuisse quae Lutherus, sed non tam atrociter.[407]

Es ist schon oben von dem Ungenannten gesagt, daß er in der Politik sich ein paarmal billiger ausdrücke als man durchgängig gewohnt ist. Es kann vielleicht sein, daß er selbst mehrmal billiger wäre, und daß die Welle, Schein und Neuheit ihn nur hinreißen, nicht recht zu bedenken was er saget und was er setzet. Aber bedacht hat er es oft nicht recht, und außerhalb einer wüsten Insel möchte seine Politik nicht wohl dienen. Ein paar Proben mögen die Leser selbst urteilen lassen.

Pag. 45. »Kennst du ein Individuum, welches sich gegen die Gesetze des Landes auflehnt, d.h. unruhig ist; gib es bei der Obrigkeit an, es muß gestraft werden.«

Ja, ja, Herr Amtmann, ja. Recht so!

»Kennst du jemand, der die Regierungsform und die Gesetze des Landes freimütig beurteilt, und dennoch überall ein gehorsamer Untertan des Gesetzes ist, weil seine Überzeugung ihm heißt, sich nie gegen die Majorität aufzulehnen, ehre diesen und lerne von ihm Bescheidenheit.«

Nein, nein, nicht recht so!

Denn erstlich, wenn auch von dem freimütigen Beurteiler selbst würklich Bescheidenheit zu lernen wäre; so möchte sie von allen denen, die seine freimütige Beurteilung der Regierungsform und der Gesetze des Landes lesen und hören, nicht zu lernen sein. Auch da, zweitens, was einem recht allen recht, und was einem frei allen frei sein müßte; und da ein jedweder Untertan, so viel ihrer sind, seine eigne Art die Dinge anzusehen hat; so möchte es mit den freimütigen Beurteilungen der Regierungsform und der Gesetze des Landes am Ende etwas bunt werden, und möchte niemand übrigbleiben, der von den schönen Exempeln der Bescheidenheit lernen und profitieren könnte.

Etwas unerwartet ist es ferner an sich schon, daß, wenn der »Beurteiler die Regierungsform und die Gesetze des Landes freimütig beurteilt hat und dennoch überall ein gehorsamer Untertan des Gesetzes ist«, daß ihm das so hoch und als eine Bescheidenheit angerechnet wird. Aber vollends weiß man sich in diese Bescheidenheit und in die ganze Sache nicht zu finden, wenn man den Grund hört, warum der Beurteiler ein gehorsamer Untertan ist, nämlich »weil seine Überzeugung ihm heißt, sich nie gegen die Majorität aufzulehnen«. Wie edel! Wie schön! Wenn also die Majorität die Gesetze knickt oder umstößt; was denn? – – Es möchte doch wohl für den Staat kein rechter Verlaß auf solche Bescheidenheit und Gehorsam sein, und es möchte[408] doch, besser und sicherer, beim alten bleiben, daß nämlich der Untertan kurz und gut gehorsam sei, weil er Untertan ist und Gehorsam schuldig ist.

Überhaupt sind die Gesetze da, befolgt und nicht, beurteilt zu werden; und der Sinn zu gehorchen ist, ceteris paribus, ein weit weiserer und edlerer Sinn als der Sinn zu waagschalen, wenn einer auch Recht dazu hat. Es mag wohl Regierungen gegeben haben oder noch geben, wo Mißtrauen am Ende nicht unnatürlich ist. Wenn aber eine Regierung das Gute will, und davon Beweise gibt und gegeben hat; so ist nichts so natürlich als Dankbarkeit, Vertrauen und Liebe. Und, wenn du würklich einen guten Rat zu geben weißt; so ist der Weg offen. Und wem es nur um die Sache zu tun ist, der geht den kürzesten Weg, und, ohne Not, nicht den längern, sonderlich wenn der längere, außer dem daß er der längere ist, noch andre Unbequemlichkeiten hat.

Wie nicht alles was gesagt wird wahr ist, so kann nicht alles was wahr ist gesagt werden.

Quaedam inter se tatentur Theologi quae non vulgo expediat efferri.

Sokrates dünkte sich unwissend, und war weise. Wer sich, im Kleinen wie im Großen, lässet dünken, er wisse etwas, der weiß noch nicht wie er wissen soll.

Wären alle Schriftsteller gute Bäume, da wollten wir laufen ihre Früchte zu sammlen; und sie schütteln, wenn sie keine abgeworfen hätten; aber –

Wenn es nur halb wahr ist, was S. 29 für eine »große Wahrheit!« ausgegeben wird: que c'est la plume qui gouverne les états; so kann denen die gouverniert werden sollen, nicht wohl zumut sein, wenn sie an alle Hände denken, die eine plume halten können, und diesen Szepter zwischen ihren Fingern wissen.

S. 43. »Wie will Herr Callisen würklich allen dänischen Bürgern glauben machen, daß es Sünde sei, in Dänemark von den Vorzügen einer republikanischen Verfassung innerlich überzeugt zu sein?«

S. 63. »Man kann ein großer dänischer Patriot sein, und doch den Bestand der französischen Republik hoffen und wünschen etc.«

Man mag innerlich überzeugt sein, wovon; man mag hoffen und wünschen, was man will; dawider hat kein Mensch etwas, und soll kein Mensch etwas haben. Nur, wie sie in Frankreich keine Dachprediger und keine Dachpredigten vom Königtum wollen, weil sie keinen König wollen; so wollen wir in Dänemark[409] keine Dachprediger und keine Dachpredigten vom Republikanismus, weil wir keine Republique wollen, und uns das »Märchen: vom ewigen Frieden und den gebratenen Tauben« noch zur Zeit nicht einleuchten will.

S. 35 usf. setzt der Ungenannte, was ein Geistlicher eigentlich alles zu tun hat. »Er soll sich nicht allein nicht wider die schöne Sache der Freiheit und Aufklärung, nein er soll sich auch offen für sie erklären.« »Er ist berufen, die Dämmerung aufzuklären etc. Er soll die Finsternis schön mit dem Lichte der Vernunft aufhellen etc.« – S. 38. »Zuerst freilich soll er die moralische Freiheit und Aufklärung befördern – dann aber hat er allerdings auch die strenge Verpflichtung, richtige Begriffe über die bürgerlichen Verhältnisse des Menschen zu verbreiten. Der Geistliche ist kein Soldat der nicht räsonieren darf; grade dazu ist er bestimmt.«

Ei ja freilich, warum sollte ein Geistlicher, wenn er grade nichts Besseres zu tun hat, nicht einmal über die verschiedene Regierungsformen sprechen können? Er kann auch wohl einmal, wenn er's versteht, über die verschiedene Bauart der Bürger- und Bauerhäuser sprechen. Den so großen gewaltigen Nutzen sieht man freilich nicht ein. Wenn er auf der einen Seite einzelnen Bürgern und Bauern, die sich ein neues Haus bauen können und wollen, dadurch nützlich werden kann; so kann er dagegen vielen, die das nicht können, ihr Haus verleiden. Die Hauptsache ist doch, daß der Bürger und der Bauer, in dem Hause das er hat, vergnügt und glücklich sei, und das kann er in seinem Hause sehr sein, ohne zu wissen, ob, und ohne daß es nach dieser oder jener Art gebaut ist. Mit der Doktrin über die verschiedene Regierungsformen hat es gleiche Bewandtnis, nur daß hier der Geistliche bloß verleiden kann, denn gewiß wird er auf keine neue Bauten denken sollen.

Wie gesagt, der Geistliche kann gern einmal räsonieren über die Dinge dieser Welt; aber bestimmt ist er nicht dazu. Dazu ist der Philosoph bestimmt, und der Geistliche hat ganz und gar ein anderes Geschäft.

Alle Gesetze sind für Kranke; sie können nicht gut machen, sondern nur das Böse im Zaum halten; und alle Regierungsformen und überhaupt alle Formen sind Einschränkungen des Lebens. Der Philosoph hat es bloß mit den Gesetzen und Einschränkungen zu tun, und wo das Leben anfängt da hat seine Kunst ein Ende, denn seine ganze Kunst besteht im Zergliedern und Wiederzusammensetzen, und das Leben läßt sich nicht[410] zergliedern und zusammensetzen; der Geistliche fängt beim Leben an, und hat es nicht mit den Gesetzen, sondern mit der Ursache der Gesetze oder mit der Krankheit, zu tun. Der Philosoph sinnt, den Menschen die Gesetze und Einschränkungen füglich anzufügen, um dem Ausbruch des Bösen zu wehren und ein künstliches äußerliches Gute zuwege zu bringen; der Geistliche soll durch ein innerliches Gute dem Bösen ein Ende und alle Gesetze und Einschränkungen unnötig und überflüssig machen. Der Philosoph braucht Tod und Mechanismus, sein Α und Ω um, wenn er kann, daraus das Leben zu demonstrieren und zu erklären; der Geistliche soll das Leben brauchen, um über den Mechanismus zu triumphieren und den Tod abzuschütteln. Er soll dem Menschen sagen und predigen, daß es Gesetze und Formen, Oben und Unten, Herr und Knecht, Regent und Untertan, geben muß, und daß es ihm gebühre alle Gerechtigkeit zu erfüllen; daß aber er, der Mensch, Herr oder Knecht, Untertan oder König, einen Geist in sich habe, der nicht für äußre Form und vergänglich Ding gemacht ist, und daß er größer sein könne, als alles was ihn umgibt, und es dazu Mittel und Weg gebe, die aber für eitle Neugierde und Eigenwillen nicht feil sind.

Dazu ist der Geistliche eigentlich bestimmt; das soll er verstehen und treiben; und nichts Kleines an sich kommen lassen, noch Menschen zu Gefallen reden.

Wenn also der Geistliche seinen Beruf kennt; so wird er zwar nicht anstehen, dem andern mit Ehrerbietigkeit zuvorzukommen, und die Philosophen für das halten und achten was sie sind; aber er wird sich auch nichts vergeben, und, zur Steuer der Wahrheit, mit aller Demut und Bescheidenheit wissen und sagen, daß zwischen den Philosophen und Christus kein Vergleich stattfinde, und daß die größten und berühmtesten unter ihnen nicht wert sind seinem Vorläufer, dem Wasser-Mann Johannes, die Schuhriemen aufzulösen.


Daran mag es denn Von und Mit dem Ungenannten genug sein, und ich scheide nun in Friede von ihm. Ich habe ihm für seine Unart, neben dem was geschehen mußte, das Beste was ich weiß gesagt, und die »Überzeugung, sich nie gegen die Majorität aufzulehnen« hat mich nicht dazu getrieben. Er mag darüber nachdenken, und sehen, da er die Wahrheit doch nicht hat umstoßen können, ob er sie vielleicht nützen kann.[411]


Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 399-413.
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