47. Der brennende Hirsch.

[150] Mündlich in Wunstorf.


Es waren einmal drei Brüder, die hießen Süden, Norden und Westen; Süden, der älteste von ihnen, liebte eine Königstochter und heiratete sie. Nun war er König von einem unermeßlichen Reiche und wohnte in einem großen goldenen Schloße, vor welchem drei hohe Bäume standen; seine beiden Brüder aber lebten bei ihm, und es war lauter Freude und Friede unter ihnen allen. Eines Tages wollten Norden und Westen in die weite Welt, um ihr Glück zu suchen; da wurde Süden traurig[150] und sprach: »Was fehlt euch hier? Bleibt doch bei eurem Bruder!« Als jene sich nicht erweichen ließen, fuhr er fort: »So will ich wenigstens ein Zeichen haben, ob ihr todt oder lebendig seid!« Und er ließ die hohen Bäume umhauen, tauschte für die drei Stämme drei Meßer ein und brachte die Brüder am folgenden Tage auf den Weg. Sie waren noch nicht lange gegangen, da kamen sie in einen großen Wald und am dritten Tage mitten im Walde an eine große Eiche; hier hielten sie den Abschiedsschmaus. Als sie gegeßen und getrunken hatten, steckte Süden stillschweigend die drei Meßer in den Baum und sagte alsdann: »Wenn mein Meßer rostig ist, so bist du todt, Norden; wenn Nordens Meßer rostig ist, so bist du todt, Westen; wenn Westens Meßer rostig ist, so bin ich todt. Ich werde oft genug nachsehen; kommt auch ihr alle Jahr und sehet nach.« Nun gaben sie sich die Hand und schieden; Norden schlug den Weg rechts, Westen den zur Linken ein, und Süden begab sich zu seiner Gemahlin zurück.

Als Süden am folgenden Morgen erwachte, wurde es draußen so hell, als ob die ganze Welt in Feuer und Flammen stehe; er sprang auf, schaute aus dem Fenster, und siehe! da lief ein brennender Hirsch vorbei, der machte es draußen so hell. Rasch kleidete Süden sich an und sprach zu seiner jungen Gemahlin: »Reich mir doch einmal die Flinte von der Wand!« Die Königin gehorchte, und Süden bestieg sein gutes Ross und jagte hinter dem Hirsche her. Doch der Hengst mochte ausgreifen, so weit er nur konnte; immer mehr entfernte sich der Hirsch, und endlich gegen Abend setzte er über einen Berg und verschwand Süden aus den Augen. Dieser indessen hatte nicht Rast noch Ruh: er sprang vom Pferde, erklomm den Berg und sah eben noch, wie der brennende Hirsch in den großen Teich sprang, der hinter dem Berge war. Doch auch da gab Süden sich noch nicht zufrieden, eilte vielmehr in das kleine Haus, welches oben stand, und sprach zu der Bewohnerin desselben, einer alten Frau mit einer eisernen Ruthe: »Gieb mir von deiner Salbe; ich muß und muß den Hirsch wiedersehen!« Die Frau erwiderte: »Willst du Salbe, so[151] hol sie dir aus dem Keller!« und als Süden stärker in sie drang, drohte sie mit ihrer eisernen Ruthe. Da verstummte jener und gieng selber in den Keller; denn hätte ihn die Alte mit der Ruthe berührt, so wäre er in einen Stein verwandelt worden. Es ergieng ihm aber dennoch sehr schlimm; die Hexe nämlich schloß den Keller hinter ihm zu, und er mochte noch so viel bitten und betteln, sie ließ ihn langsam da unten verhungern, und als er in den letzten Zügen lag, stieg sie hinab und berührte ihn mit der Ruthe; da war der arme Süden ein langer Stein. Sein treues Ross erwartete ihn unten am Berge drei Tage und drei Nächte; da weinte es helle Thränen und gieng nach dem Schloße zurück.

Eben war das Jahr zu Ende, da kehrte Norden von seiner Wanderschaft heim und hatte das Glück nicht gefunden. Als er nun an die große Eiche kam und Westens Meßer rostig fand, seufzte er und sprach: »So ist Bruder Süden todt?« Und er wanderte ins goldene Schloß, beweinte den Bruder und heiratete hierauf die junge Königin. Als er am Morgen nach der Hochzeit die Augen aufthat, war es ihm, als ob draußen die ganze Welt in Feuer und Flammen stehe; er sah zum Fenster hinaus und erblickte den brennenden Hirsch. Rasch kleidete er sich an und bat seine Gemahlin um die Flinte, er wolle den brennenden Hirsch erlegen; die Königin jedoch verweigerte sie ihm und erwiderte: »Süden ist fortgegangen und nicht heimgekehrt; willst du mich nun auch verlaßen?« Norden aber ließ sich nicht bedeuten; er ergriff die Flinte, bestieg sein gutes Ross und jagte hinter dem Hirsche her. Da ergieng es ihm, wie es Süden ergangen war: der Hirsch entfernte sich immer weiter und verschwand gegen Abend hinter dem Berge; Norden erklomm den Berg, sah das Thier ins Waßer springen, bat die alte Frau mit der eisernen Ruthe um Salbe, gieng, als die Hexe nicht wollte, in den Keller und wurde eingeschloßen. Hier setzte er sich nach vielem Pochen und Klopfen auf einen langen Stein, der am Boden lag, und als er eben sterben wollte, trat die alte Frau herzu und berührte ihn mit der eisernen Ruthe; da war auch[152] er ein langer Stein und sank neben Süden nieder. Sein treues Ross erwartete ihn unten am Berge drei Tage und drei Nächte; da weinte es helle Thränen und gieng nach dem Schloße zurück.

Als das zweite Jahr zu Ende war, kehrte Westen von seiner Wanderschaft heim und hatte das Glück nicht gefunden. Er gieng nach der Eiche, und ach! sowohl sein Meßer wie das des Bruders Süden – beide waren voll Rost. Traurig zog er ins goldene Schloß, beweinte Süden und Norden lange Zeit und heiratete hierauf die junge Königin. Am Morgen nach der Hochzeit wurde es draußen so hell, als ob die ganze Welt in Feuer und Flammen stehe; er sah zum Fenster hinaus und erblickte den brennenden Hirsch. »Reich mir einmal die Flinte von der Wand, daß ich den Hirsch erlege!« sprach er zu seiner Gemahlin, indem er sich ankleidete; diese brach in Thränen aus und erwiderte: »Süden und Norden sind dem Hirsche nachgejagt und sind nicht heimgekehrt; willst du mich nun auch verlaßen?« Er aber bog sich über das Bett der Königin, ergriff die Flinte, bestieg sein gutes Ross und sprengte hinter dem Hirsche her. Doch nimmer erjagte er ihn, und gegen Abend verschwand das Thier hinter dem Berge. In größter Hast kletterte er hinauf, und als der Hirsch ins Waßer gesprungen war, sprach er zu der alten Frau: »Gieb mir Salbe!« Sie verweigerte. »Gieb mir Salbe!« rief Westen, und als er es zum drittenmal gesagt hatte, und sie ihn schlagen wollte, faßte er die eiserne Ruthe unten beim hölzernen Griff, wand sie der alten Hexe aus der Hand und sprach: »Holst du mir nun nicht sogleich die Salbe, so verzaubere ich dich in einen Stein.« Da mußte sie wohl; und als sie im Keller war, schlug er die Thür zu und ließ sie da unten langsam verhungern. Nachdem sie eben verschieden war, gieng er auch hinein und berührte sie mit der eisernen Ruthe; da war sie ein krummer Stein und lag neben Süden und Norden. Als Westen aber seine Brüder sah, freute er sich; schnell holte er die Salbe, bestrich sie damit und schlug jeden dreimal mit der eisernen Ruthe: siehe, da waren sie lebendig! Das war ein Jubel![153]

Am andern Morgen traten sie den Heimweg an; weil aber immer nur einer reiten konnte, so dauerte es ein volles Jahr, bis sie an die große Eiche kamen. Hier zog jeder sein Meßer heraus, und alle Meßer glänzten wie Silber. Als die Brüder da nun lagen und sich über dieß und das besprachen, sagte Westen plötzlich: »Wer soll denn nun aber die Königin haben? Ich denke, sie gehört mir; denn ich habe sie zuletzt geheiratet!« »Die hast du geheiratet?« rief Norden; »sie gehört mir, denn ich habe sie vor dir beseßen!« Und er faßte sein Meßer und erstach Bruder Westen. »Du hast mir meine Gemahlin geraubt?« schrie Süden; »das sollst du schwer büßen!« Und er faßte sein Meßer und erstach Bruder Norden. Da war nur noch Westens Meßer blank, und nur Süden noch am Leben. Dieser aber erschrak, als er sich allein sah, und kehrte traurig ins goldene Schloß zurück. Am andern Morgen kam der brennende Hirsch vorbei; doch Süden verfolgte ihn nicht, denn das Thier war roth wie Blut. Und weil es immer roth aussah wie Blut, jagte Süden es nimmer wieder; und weil der Hirsch nicht wieder verfolgt wurde, lief er jeden Morgen am goldenen Schloße vorüber und läuft daselbst bis an den jüngsten Tag.

Quelle:
Carl und Theodor Colshorn: Märchen und Sagen, Hannover 1854, S. 150-154.
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