1.
Neapel, Vicoletto del Petrajo, 25.

Am Tage des lieben, guten, heiligen Josephus – oder:

Der Mensch entgeht seinem Schicksal nicht.


Mein lieber Max v. Drillinger!


Seit Neujahr, also seit beinahe drei Monaten, habe ich nichts von mir hören, lassen.

Während ich die Feder ansetze und mich nach so langer Unterbrechung zu brieflicher Plauderei mit Dir rüste, kracht auf dem Scheitel des ehrwürdigen Vesuvius ein prachtvolles Gewitter los, das erste Frühlingsgewitter, das ich in Italien erlebe. Wenn ich vom Blatt aufsehe, fällt mein Blick durchs offene Balkonfenster auf den Berg. In ganzer Lebensgröße steht er vor mir, die bezauberndste[1] Vedute im Fensterrahmen, die sich denken läßt, und gerade in der richtigen Entfernung zur Erzielung einer vollkommenen künstlerischen Wirkung: im Vordergrund kräftig braune Konturen neapolitanischer Kuppeltürme und leicht gewölbter Hausdächer, links eine wunderschöne Gruppe von dunkelgrünen Palmenkronen und fast schwarzblau aufstrebenden, sanft verlaufenden Zypressenwipfeln, im Mittelgrund in geschwungener Linienbegrenzung ein Streifen Meer in den silbergrau wogenden Wollustschauern des heiß und flach darüber streichenden Scirokko-Windes, dann üppig aufrollend die alten Herkulaner Ufer mit den dunklen, schattenschweren Gärten, Hainen, Weinbergen, daraus wie lichte Punkte in langer gebrochener Reihe die roten und gelben Villen und die Häuser und Kirchen von Portici und Resina glänzen, darüber hinauf die schwarzen Lavageröll-Gürtel mit dem phantastischen Auf und Nieder der verschiedenen Eruptions-Höhen, wunderbar schattiert nach der Zeit der Verwitterung, so daß sich die Ausbruchs-Epochen genau abstufen, endlich das Prachtstück der kühn und anmutig zugleich formenden Südlands-Natur: der Berg in seiner unbeschreiblichen Herrlichkeit, in leichter, eleganter Plastik schwimmend im himmlischen Aether.[2]

Die schwarze Gewitterwolke sitzt ihm buchstäblich auf dem Scheitel, ringsum scharf begrenzt von der blaugelb überhauchten, mit dem grauen Scirokko-Schleier leicht verhängten Luft.

Wie irrsinnige Glutgedanken umzucken die Blitzschlangen das tiefer und tiefer sich verhüllende Haupt des Berges und werfen einen fahlen Widerschein über die träumende Landschaft zu seinen Füßen.

Erst leise, dann mächtig anschwellend in stolzen Rhythmen, dann abnehmend und verhallend, wie in ersterbendem Grollen, wieder übertönt von dem Rauschen der Strandwellen, klingt die Donnermusik zu mir herüber. Bald scheint es mehr nur ein heiteres akustisches Spiel – bald kracht es plötzlich los, Schlag auf Schlag, wie mit der tragischen Wucht des Schicksals. Ich lege die Feder einen Augenblick weg und lausche – –

Es ist zu schön.

Es ist ein ganzes Musikdrama, eine Symphonie mit elektrischen Beleuchtungs-Arabesken, was weiß ich. Die urewige Künstlerin Natur spottet in ihren grandiosen Launen jedes Regelzwangs. Sie mag mit nichts beginnen und in nichts enden, aber was dazwischen liegt, ist Unerhörtes, Unerschautes, nie Auszuhörendes, Auszuschauendes –[3] kurz Etwas, und wäre es tausendmal eine Apotheose der Sinnlosigkeit. Etwas! Und man bekommt's nie satt. Während man den menschlichen Erfindungs-Krempel so leicht satt bekommt, übersatt.

Ich lege die Feder nochmal weg.

Es ist wirklich zu schön.

Und nun dringt ein Duft herein – ein unbeschreiblich süßer, berauschender und zugleich erfrischender Duft! Wie aus dem Paradiese. – – Man möchte ganz Nase sein! Ich schnuppere und blase die Nasenflügel auf. – – O Gottesluft, erfüll' mich ganz! Oder in der Sprache Dante's: Aria di Dio, entrami in corpo! Ausruf meiner Hauswirtin Donna Rosalia. Zwar ein Phänomen an Häßlichkeit: rothaarig – soweit ihre Glatze noch Haare erkennen und nach der Farbe bestimmen läßt – blatternarbig, schiefmaulig, kropfig, aber eine enthusiastische Seele, die sich täglich mit den Schönheiten der Natur vermählt. Bei diesem mystischen Akt streckt sie ihre nackten magern Arme gen Himmel, schlägt sie dann kreuzweis über zwei längliche, sogar sehr längliche, leere Hautbeutel, welche die Stelle der abwesenden Brüste vertreten, sogar sehr täuschend vertreten, schiebt den Unterleib vor mit der entsetzlichen Grazie eines Schlangenmenschen, wirft den Kopf mit dem kropfigen[4] Schwanenhals zurück, bebt mit den Hüften und den Schenkeln wie eine ekstatische andalusische Tänzerin, schlägt mit den Augenlidern auf die rollenden Augenkugeln und kreischt mit einer Stimme, deren Timbre an die Klangfarbe eines alten blechernen Topfes ohne Boden erinnert: Aria di Dio, entrami in corpo. Daraus kannst Du ersehen, wie überwältigend die Schönheit der südlichen Natur sein muß, wenn sie auf eine von ihr doch einigermaßen stiefmütterlich behandelte schlichte Frau aus dem Volke, Zimmervermieterin und Wittib – ihr Seliger war Schlotfeger-Meister – eine solche orgiastische Wirkung ausübt.

Ich überlese das Geschriebene, wenn Du erlaubst, mit Deinen Augen und mit Deiner Nase. Du schwelgst doch in Gedanken, nichtwahr, so stümperhaft auch meine Schilderung ist? Du siehst, Du hörst, Du riechst? Und Deine Brigitta nickt mit dem Kopf dazu und lächelt so nachdenklich, als ob sie etwas vermisse. Richtig! Die Sonne fehlt in meiner Beschreibung?

Eine süditalienische Landschaft, dazu am Josephi-Tag, feierlichste Natur-Parade in Vorfrühlings-Ausrüstung – und keine Sonne am Himmel?

Sehr gut bemerkt, lieber Leser und Kritiker Max von Drillinger, Hauptmann a.D., fein[5] herausgefunden, aufmerksame Hörerin Brigitta! Keine Sonne! Das ist freilich gegen das Exerzier-Reglement.

Aber es ist so.

Das ist eben der Effekt wunderbarster Beleuchtungszauberei bei Scirokko-Stimmung mit einem Vormittags-Donner-Konzert auf dem Vesuv.

Es blitzt immer noch.

Ich mache wieder eine Pause. Diesmal, um meinen Anzug zu vervollständigen. Ich erwarte nämlich Damenbesuch. Und eben über die Langeweile der Wartezeit will ich mir mit diesem Brief hinweghelfen. Zwei Fliegen mit einem Schlag: ich tilge eine Briefschuld und zerstreue mich. So können wir beide zufrieden sein. Also, wie gesagt, Damenbesuch. O, etwas sehr – Unschuldiges: eine ehemalige Erzieherin, jetzt Malerin in Temperafarben. Auch aus München natürlich; wir haben uns unterwegs kennen gelernt. Alles sehr temperiert.

Nur die hiesige Temperatur nicht.

Darum, ganz unter uns und vielmals Pardon, habe ich das Vorstehende im Hemde geschrieben. Pardon sage ich nur der Jungfrau Brigitta wegen und aus konventioneller, deutscher Wohlanständigkeit. Du selbst bist ja nicht so schamhaft. Was[6] liegt Dir an einem Hemd – mehr oder weniger, nichtwahr? Selbst im sogenannten Aufruhr der Elemente, der reinen, nackten Natur gegenüber – was ist uns da ein Hemd!

Es blitzt noch immer.

Die Silhouette der Gewitterwolke hat sich jetzt total verändert. Ein verrückter Anblick: fast wie –

Nein, ich unterdrücke lieber das Bild. Es – wäre auch zu naturalistisch, und ich weiß, Du Überfeiner magst den Naturalismus nicht, d.h. den geschriebenen. Chacun à son goût.

Es wimmelt überdies heutzutage so viel Verrücktes mit und ohne Naturalismus in der Welt herum, daß selbst einem ausgemachten Narren ganz ängstlich dabei wird.

Da sitze ich vor dem Vesuv und höre in meinem armen Kopfe plötzlich die Isar rauschen, genau so, weißt Du noch, wie sie damals im Abendrote rauschte, draußen bei den Thalkirchener Überfällen. Wir saßen unter der alten Linde. Geputztes, schwatzendes Philistervolk kam auf den schönen, stillen Waldpfaden daher und verlor sich, heimstrebend, in den dunkelnden Isarauen. Wie die Schritte und Worte dieser banalen Naturschänder verhallten, nahmst Du immer die unterbrochenen Betrachtungen wieder auf über – ich[7] weiß nicht mehr was; ich dachte nämlich (in dieser Entfernung kann ich Dir's ja gestehen) an ganz etwas anderes – und ließ Dich deklamieren. Ich wälzte damals in meinem Quadratschädel (tête carrée nennen's die Franzosen, wie Du Dich aus dem Feldzug erinnerst) die ungeheuerlichsten Baupläne; da aber Deine geliebte Isar dabei arg in die Klemme gekommen wäre, so zog ich's vor, Dich nicht in mein Vertrauen zu ziehen, sondern Dich ruhig Deine geistreichen Betrachtungen über die schönsten und rührendsten Dinge in die laue rotgolddämmernde Abendluft und in die rauschende Isar hineinplaudern zu lassen.

Diese Baupläne übrigens – –

Schon wieder so ein irrsinniger Blitz! –

Dieses ewige Geschlängel und Gezickzack macht mich schließlich doch nervös. Es hat etwas so Aufdringliches, wie alles Wälsche.

Ich lege die Feder weg, bis das blödsinnige Gewitter zu Ende. Es wäre jetzt wahrhaftig eine vernünftige Abwechslung, wenn die Tempera-Malerin endlich käme, obwohl ich neulich, als ich ihr die Architektur des San Martino-Klosters (hier von meinem Fenster aus weiter nach links) sehr volkstümlich erklärte, den Verdacht nicht loswerden konnte, sie möchte auch einen Sparren zu[8] viel im Dach haben. Das Tempera-Frauenzimmer produzierte zwischenhinein so merkwürdige Redensarten – und dann hat sie manchmal eine so unheimliche Art des Schauens und des Zuhörens. Kurz und gut, ich werde sie schärfer beobachten. Verrücktheit wirkt ansteckend, weißt Du; wie die Dummheit und Verliebtheit. (In Parenthese: vielleicht verliebe ich mich auch noch – hier, wo ich Dein abschreckendes Beispiel nicht vor Augen habe.) Bei der Gescheidtigkeit kommt ja so etwas niemals vor. Drum sind die Wunder der Aufklärung ebenso sporadisch wie lächerlich. Übrigens so ein Kloster wie das von San Martino (es ist schade, daß man's vom Fenster aus nicht sieht, wenn ich hier sitze, ich würde es Dir sonst sehr anschaulich beschreiben, aber wenn ich mich so setze, daß ich es sehe, so sitze ich so unbequem, daß ich nicht mehr schreiben mag, und so muß ich darauf verzichten, es Dir zu beschreiben, da ich in architektonischen Schilderungen grundsätzlich sehr diffizil bin und nur momentan Geschautes beschreibe – Augenblicksbilder, weißt Du!) – ehrliche, rechtschaffene Augenblicksbilder – –

Ich lege die Feder zum Xten Mal weg, denn ich habe mich im Periodenbau verhaspelt und nun mag ich das Zeug nicht wieder von Anfang an[9] lesen, um den Faden zu suchen. Mit den Parenthesen habe ich nie Glück gehabt. Da habe ich regelmäßig den Zusammenhang verloren. Und immer tappe ich als Periodenbauer wieder in so eine vermaledeite Parenthese hinein und schände die Syntax. Sei versichert, lieber Max v. Drillinger, Du verlierst nichts dabei. Dieser Brief wird noch so schön und reich, daß ich Dir ohne Gewissensbisse eine ungefüge Periode unterschlagen darf. Das macht der Liebe kein Kind, wie Herr Raßler, der große Kunstmäcen in der Quaistraße, so sinnig zu sagen pflegt. Verkehrst Du noch mit – – nein, nein, am heiligen Josephitag keine so indiskreten Fragen. Siehe das Motto!

Es blitzt wahrhaftig immer noch. Diese italienischen Blitze haben etwas so Epileptisches, wie die Gestikulationen eines Tollhäuslers. Ich mag gar nimmer hinsehen. Bei uns daheim, im disziplinierten Vaterland der reinen Vernunft, hat auch die Natur mehr Bescheidenheit und Manier, mehr Zurückhaltung.

Der ehrenwerte Herr Raßler ist mir durch den Sinn marschiert, weil die Tempera-Malerin, von der ich übrigens noch keinen Pinselstrich gesehen habe und deren geschätzten Morgenbesuch ich ebenso sehnsüchtig und, wie's scheint, vergeblich[10] erwarte, mir neulich von ihrem Debüt als Erzieherin in der Raßlerschen Familie die denkwürdigsten Dinge erzählt hat. Natürlich schwebte mir sofort Dein Name auf der Zunge, und schon wollte die Apostrophe dem Gehege meiner Zähne entschlüpfen: »Ach, Fräulein Flora Kuglmeier, da hat wohl auch der Blick meines Freundes Max von Drillinger ermunternd und tröstend auf Ihnen geruht und Ihr Sinn hat sich gelabt an den weisen Sprüchen dieses beredten Hausgeistes der Raßlerschen Familie!« – als mir noch rechtzeitig das Unschickliche eines solchen Einfalls zum Bewußtsein kam. Später merkte ich, daß die züchtige Maid, deren pädagogischen Künsten die Erziehung der Raßler'schen Sprößlinge anvertraut war, zu einer Zeit ihres Amtes waltete, wo Du noch in der Pasinger Malzfabrik dem Gotte Merkur Deine ersten schüchternen Huldigungen darbrachtest. Und der Weg nach Pasing führte damals noch nicht durch die Quaistraße, und der dienstbare Hausarzt hatte der vor überschüssiger Gesundheit kranken Frau Raßler noch nicht die heilsam schwächenden Bäder des romantischen Würmkanals in Pasing verordnet. Nichtwahr, ich bin gut unterrichtet?

Ich bin – warum soll ich Dir's nicht ohne[11] Rückhalt gestehen? – manchmal noch so sehr in den kleinbürgerlich engen Anschauungen vom Zulässigen und Anständigen befangen, daß Du mir's wahrhaftig nicht übel nehmen kannst, wenn ich nicht die Flugkraft besitze, mich hinsichtlich der Moralität Deiner Beziehungen zu jener Frau aus der Enge meiner Vorurteile zu erheben.

Inzwischen bin ich allerdings über Verschiedenes hinausgewachsen. Womit nicht gesagt sein soll, daß ich Deine verschiedentlichen Dummheiten als Geniestreiche preise.

Erlaube, daß ich mir's wieder bequem mache und Rock, Weste und Hofe von mir werfe. Bei dieser wahnsinnigen Scirrokko-Temperatur wäre das adamitische Paradieskostüm das angemessenste; die keuschen Feigenblätter wachsen hier einem zum Fenster herein, man braucht nur die Hand darnach auszustrecken.

So – jetzt sitze ich wieder in Hemd und Strumpf, vor Dir. Da schreibt sich viel leichter. Die Tempera-Malerin kommt heute doch nicht mehr, was mir eigentlich lieb ist, denn ich bin jetzt einmal im Zuge, daß ich Dir gern noch einige Stunden ungestört widme. Eine Plauderei mit Dir hat große Reize, besonders so lange man allein[12] das Wort hat. Du wirst diese Aufmerksamkeit zu schätzen wissen.

Oder nicht? Bist Du seit unserer bald einjährigen Trennung ein kühler Selbstsüchtling geworden? Der Anfang Deines letzten Briefes könnte mich schier auf diese Vermutung bringen. Da steht nämlich in deiner steilen, schattenlosen Schlemihl-Handschrift zu lesen: »Die weite Entfernung verschuldet, daß die Briefe nur langsam und spärlich laufen.« Dabei beziehst Du die Entfernung nur auf den Raum.

Sophist! Sei aufrichtig: beziehst Du sie nicht auch ein wenig auf die Interessen?

Jawohl, und darin allein finde ich einen ausreichenden Grund für die Erkaltung Deines epistolarischen Eifers. Und nun erlaube, daß ich loslege – ich krämple erst die Ärmel auf und streife das Hemd über die Schenkel, damit ich mehr Luft kriege (Flora Kuglmeier überrascht mich leider diesen Vormittag doch nicht mehr, vielleicht macht sie jetzt das interessante Vesuvbild mit Temperafarben an): Du bist im Grund Deines Herzens ein verdammter Egoist, der sich wie ein kostbarer Wurm in sein seidenes Interessengespinst verpuppt; Du denkst ungeheuer viel, aber nicht an mich; Du fühlst ungeheuer tief (Beweis: was sich die Isarwellen[13] an der Quaistraße über Deine Liaison zurauschen – ich hör's bis hierher!) aber Du fühlst nicht die süßen Schauer der Freundschaft in Deinem Mannesbusen – – Das kommt von der Weiberknechtschaft.

Sünder! Bei aller Phantasterei Deiner Gefühle bist Du doch nur ein kühler Realist – oder thue ich Dir Unrecht, mein alter Kamerad? – während ich im Idealismus hängen geblieben bin, wie der fabelhaft langhaarige Absalon am Geäst des Eichbaums. Nun ich dahänge und zapple, rennst Du mir den Spieß Deiner Sophistik ins Herz – –

Es klopft. Herein! Donnerwetter, nein! Mein Negligé! – – Es war nichts.

Also siehst Du, wie unsere Sachen stehn. Dir thut die Aufsicht eines ehrlichen großen Freundes not. Es ist Zeit, daß wir uns wieder näher rücken. Und nun laß mich auch ein wenig von mir selbst reden, nachdem ich mich so lange und liebevoll mit Dir beschäftigt.

Meine italienischen Studien nahen ihrem Ende. Meine Mappen platzen von Kopieen, Skizzen, Entwürfen – ob ich jemals ausgiebigen Nutzen daraus ziehen werde? Ich will's hoffen. Ich mache noch einen Abstecher nach Pästum und[14] Sizilien, um die griechischen Tempelreste (dies lediglich zu meinem Privatvergnügen, versteht sich!) zu studieren und an Land und Leuten einigen Spaß zu haben, dann rutsche ich wieder nordwärts in unsere gemäßigte Kultur- und Kunstzone, nach Biermaniens Hauptstadt an der kühlen Isar, bevor mich hier die vernichtende Hochsommerhitze vollends in Schweiß und Idealität auflöst. Ich hasse dieses Wälschland Italia, wenn ich bedenke, wie unzählig viele deutsche Künstler von Talent und hohem Streben es seit einem Jahrhundert an Leib und Seele ruiniert, wie viel deutsche Original-Anlage und Eigenart es verwüstet hat. Behaupte ich damit, daß das Vaterland eitel Güte und Vorteil für seine Künstler sei? Keineswegs. Aber es ist patriotischer, zwar dem Ausland die Leviten zu lesen, jedoch mit der Besserung daheim anzufangen. Da wäre bei uns freilich ein greulicher Augiasstall auszumisten. Besonders bei uns in München hat die arrogante Mittelmäßigkeit in der königslosen Kunststadt eine so korrupte Wirtschaft auf die Beine gebracht, daß einem für den Ruhm Isarathens bange werden kann, tritt nicht bald eine radikale Änderung ein. Und was sonst noch im Verborgenen gesündigt wird! Das Schicksal unseres armen Knöbelseder, des gehirnerweichten[15] Heiligenmalers, tritt mir hier oft warnend vor die Seele. Ihn haben Heimat und Fremde zu gleichen Teilen auf dem Gewissen.

Was ich daheim zunächst beginnen werde, darüber mögen sich einstweilen die lenkenden Götter ihre allweisen Köpfe zerbrechen. Der Gedanke, bei den Bauten des Königs zugezogen zu werden – ist wohl nichts weiter als ein leerer Wahn. Zum Handlanger und Streber und Katzbuckler hab' ich nicht das mindeste Talent. Von chinesischer Schloß-Architektur versteh' ich auch nichts; auch nichts vom Hundinghütten- und blauen Grottenbau. Also! Überdies durchschwirren jetzt ganz unheimliche Gerüchte über die Verhältnisse des Königs die europäische Presse. Man nimmt sich ja gar kein Blatt mehr vor den Mund und spricht ganz rücksichtslos von der moralischen und materiellen Insolvenz des Idealisten auf dem Throne. Das ist wieder ein gefundenes Fressen für die herrschende Gemeinheit, für diese ewig hungrige und ewig stinkende Vettel, genannt öffentliche Meinung: ein König, verfolgt von dem Gespenst des Bankrotts! Welch' ein Gaudium für die rohe Exaktheit der Kurszettel-Wissenschaft, der nüchternen Einmaleins-Simpelei und der börsenjobbernden Demagogie, die Majestät eines genialen[16] Kronenträgers frech kritisieren zu dürfen auf Grund des Kassabuchs und unbezahlter Fakturen! – An gewöhnlichem Maßstabe gemessen, mag man ja zu Vielem den Kopf schütteln; schwere Fehler liegen vor und dunkle Rätsel – den künstlerischen Verirrungen möchte ich am allerwenigsten das Wort reden – allein das Alles treibt mich nur zu dem heißeren Wunsch, es möge sich das gegenwärtige Chaos recht bald zu voller Ordnung und Schönheit lichten.

O, wenn ich Glück hätte und selbständig und im Großen leben und bauen könnte – meine alten Isarpläne verwirklichen! Aber da werden mir auch wieder andere Macher zuvorkommen und bis ich mich durchgerungen und endlich die Aufmerksamkeit der hohen Herren auf mich gelenkt, wird mein Platz besetzt sein. Vor Jahren stand ich schon einmal hart an der Linie des Erfolgs – noch ein kleines Schrittchen und ich wäre ganz patent vorwärts geschoben worden. Schon hatte ich den Fuß erhoben, das entscheidende Schrittchen zu thun, da strauchelte ich – an einer dummen kritischen Äußerung über ein allmächtiges Tier – und wie durch Zauber war ich der Linie entrückt. Zur rechten Zeit schweigen und sich neigen, ist aller Künsten größte und für einen geraden, ehrlichen[17] Kerl schwerste. Wir stehen uns mit unserer dummen Ehrlichkeit immer selbst im Wege. Die Welt – die Welt! das heißt die paar Leute, welche das Heft in der Hand haben – ist nie fähig, die volle Wahrheit zu vernehmen; sie will immer belogen sein, damit ihr die Freude an ihrer eingebildeten Herrlichkeit nicht verdorben werde. Also schweigt der Wissende oder Vernünftige oder Vorsichtige. Aber zuweilen ist man das nicht, sondern ein widerhaariger Esel mit langen Idealitäts-Ohren. Da predigt man sich vor, daß die unumwundene Aussprache unserer tiefsten Gedanken und Stimmungen der Menschheit bestes Teil sei; daß die Schlachten des Geistes nicht von Schweigern, sondern von den lauten Zeugen und furchtlosen Bekennern geschlagen werden. Ja, wenn das Lumpengesindel nicht wäre! Und der Knechtssinn!

Blauer Dunst bringt Ehr und Gunst. Leider gehörte der Dunst bis jetzt nicht zu dem Material, aus dem ich zu bauen verstehe. Vielleicht lern' ich's noch!

Mit dem spekulierenden Kapital zusammenzuarbeiten, mit dem vollen Einsatz gereiften Talentes, wäre freilich das verlockendste. Das Aufblühen aller Kunst, besonders aber der auf Riesensummen[18] angewiesenen Baukunst, ist an den Besitz des Goldes gebunden. Sind wir endlich über den blutigen Milliardensegen mit seiner gemeinen Protzerei, seiner geilen Genußgier auch im Kunstschaffen, glücklich hinaus, so sind wir doch der rohen materialistischen Richtung noch nicht entwachsen. Was fordert heute noch die Aufschneiderei und Reklamemacherei der Geldprotzen und Börsenjobber und Spekulanten und Bodenwucherer nicht für haarsträubende Zugeständnisse vom Baukünstler! Wie verroht und unsolid ist der Geschmack des großen Publikums in allem, was mit der Bauthätigkeit zusammenhängt!

Unter solchen Umständen die Möglichkeit zu finden, Werke zu schaffen, welche des aufgewendeten Talents würdig sind und den feinen Sinn, das edle Gemüt befriedigen, ist unendlich schwer.

Und dann die Stilfexereien, die altertümelnden Schrullen der zahlungsfähigen modischen Halbbildung, überhaupt die Renommisterei der Mode in der Kunst! Und das spielt sich als maßgebendes Kennertum auf! Wie mich das anmaßliche Treiben dieser lackierten Barbaren oft kunststadtmüde gemacht hat, kann ich nicht mit Worten sagen. Kreuzmillionendonnerwetter!

Aber wie natürlich ist's auch wieder, daß sich[19] diese Stilhanswurste an ihre »echt« etikettierten Schachteln anklammern: sind sie doch bei allem äußeren Reichtum innerlich so bettelarm, so aller wurzelhaften Empfindungen und quellenden Ideen baar, daß sie nur durch das emsige Spielen mit allen erdenklichen, aus allen Himmelsgegenden und Kunstepochen zusammengeschleppten und mit einem Heidengeld bezahlten Stilformen sich über ihre individuelle Armseligkeit hinwegtäuschen können. Man muß eigenartige, weltbewegende Gedanken haben, um das heiße Bedürfnis zu verspüren, sie in eigenartigen Baudenkmalen niederzulegen; man muß eine starke Persönlichkeit mit bedeutsamen künstlerischen Triebkräften sein, um einen originellen Baumeister zur Ausgestaltung neuer Ideale nötig zu haben. Von der monumentalen epochemachenden Kunst gar nicht zu reden, da eine Blüte derselben den monumentalen Zug des Geistes und Charakters eines hochstrebenden Geschlechtes zur Voraussetzung hat. Kein Wunder, daß diese ästhetischen Schnorrer ihren künstlerischen Lebensbedarf bei den Trödlern und Antiquaren zusammenfechten – ein wahrer Hohn auf alles ernste, vernünftige Sammlertum.

(In Parenthese: es ist doch rücksichtslos von dem Tempera-Frauenzimmer, mich umsonst warten zu lassen.)[20]

Jetzt stehen die Sachen so: wie es Mode-Schneider gibt, so etablieren sich die Mode-Architekten. Diese thun ein Büreau auf. Da liegen die architektonischen Modezeitungen. Man hat alle Stilmuster auf Lager: das klassische, das gotische, das deutschrenaissanceliche, das kompromißliche u.s.w. Alle Vierteljahre schiebt man, den neuesten alten Stil als den tonangebenden in den Vordergrund: dem gehört die Zukunft!

Wie man zum Schneider geht, um sich einen Anzug nach neuester Mode zu bestellen, so geht man jetzt zum Baumeister und steckt die Nase in das letzte architektonische Modejournal und bestellt sich ein Haus nach neuester Mode.

»Sie befehlen, Herr Kommerzienrat?«

»Wünsche mir ein Haus beizulegen.«

»Sehr schön. Stehe zu Diensten. Habe die größte Auswahl.«

»Was können Sie mir als das Modernste empfehlen?«

»Hier dieses Barock, ein steinaltes famoses Muster, würde Ihnen ausgezeichnet stehen.«

»Gut. Lassen Sie das Maß nehmen. Baugrund liegt da und da.«

»Wie Sie befehlen.«

»Und bis wann kann ich das Haus haben?«[21]

»Wir liefern in kürzester Frist fix und fertig ab. Ist die Witterung günstig, spätestens in drei Monaten. Garantie für gute Ware.«

Auch die architektonischen Abzahlungsgeschäfte kommen mehr und mehr in Schwung. Da werden im Fabrikbetrieb gleich eine ganze Anzahl Häuser fertig gestellt. In irgend einer unmöglichen, aber billigen Gegend, in der Nähe der Vororte, auf steiniger, schattenloser Ebene, wo alle Winde im Winter zusammenheulen und pfeifen, daß es ein Grauen ist, schießen plötzlich Dutzende von Häusens, gleich Pilzen aus einem Sumpfe, aus der Erde. Nun sucht das wohllöbliche Baukonsortium seine Fabrikware stück- oder wenigstens stockwerkweise an den Mann zu bringen. Natürlich gibt man dieser noch unbewohnten Ansiedlung gleich einen lockenden, am liebsten recht patriotisch klingenden Namen, z.B. Neuwittelsbach, Neugermanien u.s.w.

Und eine solche Kunst soll das Volk ins Herz schließen? Eine solche Kunst soll unsere nationalen Bestrebungen, unsere sozialen Ideale verkörpern? Eine solche Bauerei soll einen edleren, lebendigeren Zusammenhang zwischen den Menschen stiften und zur Begeisterung für höhere Ziele entflammen?

Wenn Du einmal, mein lieber Max von Drillinger, in kritischer Stimmung bist und nicht gerade[22] in verliebten Absichten durch die Quaistraße schlenderst, bitte, betrachte Dir diesen ungeheuerlichen Häuserblock mit ästhetisch prüfendem Auge; stelle Dich unter eine der schönen alten Kastanien, die man bei der Quai-Anlage allerdings bis zum Halse hinauf in Kies eingestampft hat, so daß sie über kurz oder lang elend ersticken müssen, einstweilen aber lebensmüden Münchener Packträgern als einladende angenehme Naturgalgen zum Aufhängen dienen – und mustere einmal Haus für Haus!

Daß das Material unecht und der Sandstein nur nachgeahmt ist, wäre noch die geringste Ausstellung an diesen erlogenen Prachtbauten, die wie Schwalbennester aneinandergeklebt sind, plump und massig; aber diese Öde der Stilmengerei, diese entsetzliche Langeweile in der Linienwirkung, dieser Ungeschmack im gelben, roten, grauen, ochsenblütigen Verputz!

Und nun überschreite die Isar auf der Maximiliansbrücke und betrachte Dir am andern Ufer von der Höhe, der Gasteig-Anlagen nochmal dieses Barbarenwerk der Quaistraße, wie es mit seiner blöden, plumpen, protzenden Massigkeit die schöne, malerische Silhouette der alten Stadt zudeckt, als hätte man einen Riesenwürfel oder eine Kulisse davorgeschoben, so daß mit knapper Not[23] noch einige ferne Turmspitzen über diese dicke wagerechte Linie am Horizonte aufragen. Und erst bei Mondschein, wie schlägt diese trostlose Ausgeburt der Architektenspekulation aller Poesie des Isar-Ufers ins Gesicht! Überhaupt die ganze Gegend der Maximiliansbrücke: ist das nicht alles wie eine Satyre auf die vielbelobte Kunststadt, die hier das schönste Stück Natur, zu den geistreichsten architektonischen Aufgaben lockend, jammervoll verpfuscht hat? Die imposante Maximilianstraße durch den schauerlichen Kasten des Maximilianeums in eine »innere« und »äußere« auseinandergerissen, hart an der Brücke auf der Praterinsel eine Schnapsfabrik, weiter hinauf eine stinkige Fell-Niederlage, eine Gipsmühle u.s.w. u.s.w.! Was ließe sich hier Herrliches schaffen, wenn die Isar einmal aus ihrem Bette treten und diese Schandgeschichten fortspülen wollte!

Aber ich weiß, ich entrüste mich vergeblich: um eines holden Weibes willen, das dort zwanzig Schritte von der Brücke aus einem Eckfenster Dir heimliche Liebesgrüße und verheißende Liebeszeichen zuwinkt, – nichtwahr, ich bin gut unterrichtet? – spottest Du aller Architekten-Phantasieen und erklärst die Quaistraße an der rauschenden Isar für das größte und schönste Bauwunder der Welt.[24]

Und wenn Du noch einer seligen Stunde am Busen des süß verbuhlten Weibes im nächtlichen Sternenschein heimwandelst, isaraufwärts, am baufälligen Torf-Magazin mit dem hohen, windschiefen Ziegeldach, am alten Ketterl- und grünen Baum-Wirt und an der schweren Reiterkaserne vorüber, immer den rauschenden Fluß, mit seinen hochwaldduftigen Flößen zur Linken, weiter und weiter bis unter die hochragenden Uferbäume an der Auenstraße: da ziehen Dir andere Märchen durch die Seele, als die ich hier träume mit offenen Augen, auf der Höhe des neapolitanischen Vicoletto del Petrajo gegenüber dem Vesuv, im sehnsüchtigen Gedenken an die ferne bayerische Heimat.

Ah, es hat ausgeblitzt und ausgedonnert. Es ist, als ob die ganze Spektakel-Maschinerie im Krater des Berges, des alten Feuerspeiers, versunken wäre. Darüber hin schweben, ziellos, planlos, wie vergessen, einige Wolkenfetzen. Der Himmel hat eine Regenmiene aufgesetzt. Das ist immer das nasse Ende vom Lied, aber es ist ein gutes, erfrischendes Ende. Man kann dabei wieder aufatmen.

Mir selbst ist jetzt so wohl und leicht, nachdem ich mich ausgegrollt, und bei Gott, wenn jetzt[25] plötzlich meine bayerische Landsmännin hereinträte, die jungfräuliche Flora Kuglmeier, ich wäre im stande, sie in die Arme zu schließen und an die vaterländische Brust zu pressen, daß uns beiden Sehen und Hören vergehen sollte.

Flora Kuglmeier scheint mich mit ihrer Besuchs-Zusage für diesen Vormittag positiv zum Besten gehabt zu haben. Eigentlich gefällt mir das von dem zarten und doch so eigenwilligen Ding; ja, es imponiert mir sogar. Dieses eigentümliche Persönchen mit seinem blonden Falkenköpfchen fängt an, einen unheimlichen Reiz auf mich auszuüben. Ich nehme mich schon ordentlich zusammen in ihrer Nähe. Ihr langer, kritischer Blick hat etwas Beängstigendes; sie hat eine gewisse Art, mit ihren dunkelblauen Augen Fragen zu stellen, daß man sich selbst, bei Gott, ganz fragwürdig vorkommt. Und ich, der ich gewohnt bin, das weibliche Geschlecht so schopenhauerisch von oben herab zu nehmen! (In Parenthese: Brigitta galt mir stets als eine große Ausnahme; ihr schlichter, starker Sinn, ihr hausmütterlich treues Walten, ihre Entsagungskraft – ja, da gehe Einer hin und thue desgleichen!)

Mein lieber Max v. Drillinger, gemütreicher Leichtfuß, spitzfindiger Phantast, pessimistischer[26] Optimist, Mann der Widersprüche, Zusammenreimer von Ungereimtheiten – ist das genug auf einmal? – was wärst Du, ohne Brigittas Herz, diesen festen Schlußstein im luftigen Gewölbe Deines Lebensbaues?

Ich lege nun einen Eid darauf ab, daß mich die Tempera-Malerin mit Wissen und Willen gefoppt hat und schmiere ruhig Briefbogen um Briefbogen voll; ich tilge nicht nur Briefschuld, sondern kapitalisiere, damit ich für den Rest meiner Italiafahrt von epistolarischen Renten leben kann und Dir überhaupt nicht mehr zu schreiben brauche. Wenn ich Flora Kuglmeier auf diesem Stern jemals wiedersehe, werde ich sie überzeugen, daß sie mir mit ihrem Wortbruch einen nützlichen Dienst geleistet hat.

»Fragwürdig« habe ich oben gesagt. Ja, eigentlich sind wir zwei, Du und ich, fragwürdige Kerls, d.h. Du hauptsächlich, ich viel weniger. Schon deshalb, weil ich jetzt fest entschlossen bin, bei der Stange zu bleiben, mir im Leben nichts mehr gefallen zu lassen, was meine Thätigkeit stören oder beeinträchtigen könnte, und schließlich als freier Mann zu irgend einem schönen Fleck Erde in der bajuwarischen Heimat zu sprechen: »Hier ist gut sein, hier laßt uns Villen bauen!«[27]

Fräulein Flora, wie gefällt Ihnen der Scherz?

Das ist zwar noch alles ziemlich kompliziert, aber ich stehe für mich ein, daß ich hinausfinde. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg – das Wort soll nicht bloß für Amerikaner gesprochen sein.

Aber Du? ...

Wille und Weg, wohin sollen sie schließlich führen? Zur Berühmtheit, zur Unabhängigkeit und Herrschaft großen Stils, zu Reichtümern und allem, was damit zu erwerben?

Was damit zu erwerben? Käuflich ist heute nahezu alles. Leider. Und das verdirbt dem feineren Ehrgeiz alle Freude. Erstreben was jeder reiche Lump haben kann, ist das noch erstrebenswert für den raffinierteren Kopf? Gewährt uns das noch eine höhere Befriedigung, was für jeden aus der gemeinen Herde erreichbar ist, sobald ihm das große Los zufällt?

Aufgepaßt: das wäre ungefähr Dein Gedankengang, nicht Dein eingestandener, sondern Dein geheimer – und das ist just nicht der meine.

Ich will mich einfach ausarbeiten und ausleben; ich will beweisen, daß ich eine Kraft bin. Die kleinen Hilfsmittel und Verzierungen des Lebens kümmern mich wenig, sofern sie nicht eine[28] besondere Verstärkung meiner Kraft bedeuten. Ich will meine eigenen Werte prägen: ich will meine höchstpersönliche Meinung vom Glück allen andern Meinungen gegenüber zur Geltung bringen. Großzügig, siehst Du; monumental in Gesinnung!

Nun glaubst Du aber selbst, daß die geheimnisvolle Flora Kuglmeier heute nicht mehr zu mir kommt, so heiß auch meine – Neugierde sie ersehnt, nichtwahr? Krampfhaft halte ich die Feder und schreibe fort, wütend, zähneknirschend – wenn nur kein Handschriftendeuter diese Blätter jemals in die Klauen bekommt und Dir mit dem Tüpferl auf dem I und dem U-Häuberl und dem andern Schnickschnack beweist, daß der Schreiber ein rasend verliebtes Rhinozeros gewesen. Da thäte ich mir selbst leid. Denn gerade meine Schreibfuria soll ja bezeugen, daß ich nur kraft körperlichen Zwanges in dem Vicoletto del Petrajo, einer Steinbruchgasse hoch über Neapel, hause, hingegen mein Geist bei Dir weilt an der rauschenden Isar, bei Dir, Max v. Drillinger, dem unausstehlichsten Freunde, den mir Gott in seiner unergründlichen Gnadenlaune beschieden.

Träte Fräulein Flora Kuglmeier jetzt plötzlich durch die verschlossene Thür zu mir, oder schwebte sie über den Balkon leise herein, oder senkte[29] sie sich vom Plafond herab, etwa am Faden eines Spinngewebes, oder tauchte sie aus der schwarzen Tiefe meines Tintenfasses auf – Du wirst's erleben, daß sie nichts dergleichen thut – aber angenommen: ich versichere Dir, ich bliebe kalt wie eine Hundenase und plauderte ganz gelassen da weiter, wo ich gerade mit der Feder aufgehört.

Also von Dir, Unvergleichlicher!

Komisch. Sie erzählte mir neulich aus ihrer Lehrerin-Vorbereitungszeit von einem Examen, das ihr die erste Auszeichnung eingetragen, eine Prämie in der Physik, weil sie so gründlich und anschaulich die Gesetze von der Anziehung der Körper dargelegt habe.

Anziehung der Körper, welch' ein Thema für eine junge, feurige, geistreiche Dame! Freilich muß es schon recht lange her sein, da sie selbst so wenig mehr von der Wirkung dieses interessanten Gesetzes verspürt. Oder sollte mein Körper alle intimere Anziehungskraft verloren haben? Sollten keine geheime Kräfte mit siegender Allgewalt sich Bahn brechen zu der entfernten Ersehnten, daß sie dem Zwange der Natur sich füge? Und heute ist Josephitag!

Wie ganz anders haben wir gewirkt in unserer Jugendjahre Maienblüte, guter Max! Neulich,[30] in einer schlaflosen Nacht, habe ich die Flammen rekapituliert, die ich einst als studentischer Schmetterling umgaukelte.

Wieder ein Beweis, was ich für eine treue Seele: ich habe im Stillen den Lebenslauf dieser unschuldigen Kinder verfolgt. Die Beobachtung ergab seltsame Resultate. Die dicke, runde Klara, die Bräumeisters-Tochter, ist mit einem Kassier verduftet; Seraphine aus der Sendlingergasse hat ihr Herz an einen Pfaffen gehängt und hat sich aus mystischen Gewissensskrupeln in der Isar ertränkt; die sentimentale Amalie der Professorswittwe Streuhuber ist eine tüchtige Geschäftsfrau geworden und verkauft Hosen an die Landshuter Garnison; Fanni Kranzler vom Rochusberg hat sich dem Trunk ergeben und ist im Irrenhause gestorben; die rabiate Bella ist zuerst Komödiantin und dann eine resolute Pensionatsmutter geworden. Was für Lebenswendungen!

Und unsere Jugendeseleien! Noch nicht hinter den Ohren trocken, wollten wir berühmt werden und die Augen von ganz Europa – oder wenigstens von unserm Stadtviertel auf uns lenken. Berühmt werden! Jeden Morgen war die erste Frage: wie fangen wir's an? Und dabei erreichten wir zunächst, daß wir beim Examen mit[31] Pauken und Trompeten durchfielen. Dann wiederum: sollen wir fünfaktige Dramen schreiben, um schneller ans Ziel zu kommen, wenigstens öffentlich ausgepfiffen zu werden, oder eine neue Religion oder ein neues Schießpulver erfinden, um der Menschheit ein ungeahntes Heil zu bringen? Mit unserer Sehnsucht nach der Heilandschaft verband sich nur ganz selten die sehr praktische Erwägung: Berühmtheit bringt Moneten, jene Berühmtheit, welche von den Kindern einer materialistischen Zeit als die überhaupt allein erstrebenswerte betrachtet wird. Unser Sinn ging zunächst immer, dieses Lob dürfen wir uns nicht versagen, auf etwas Schönes ohne Hinterlist, etwas Reinliches ... Zum Teufel auch, hätten wir doch wenigstens Richard Brands Schweizer-Pillen erfunden!

Da fällt mir eben etwas sehr Menschliches ein: wenn Fräulein Flora Kuglmeier krank geworden wäre? Wir haben gestern bei einem Ausfluge eine Menge Zeug durcheinander gegessen: Orangen, Makkaroni, Salat, Würste, Feigen ...

Ich werde mich ankleiden und im Gasthofe nach ihr sehen. Sie wohnt da unten, dem Meere zu, in einem Kranze blütenreicher, duftiger Gärten, Rione Principe Umberto. Ich bin ganz gerührt,[32] wenn ich mir das liebe Kind leidend denke, im Bett vergraben, mit der Kolik, der Ruhr oder sonst einer wüsten Krankheit ringend; das Gesichtchen bleich, verzagt, von einem weißen Häubchen umrahmt; auf dem Nachttischchen eine herabgebrannte Stearinkerze in einem grünspanfleckigen Messingleuchter mit zerbrochener Glasmanschette, daneben halbleere Medizinflaschen in allen Größen und Farben. Hilfesuchend streckt sie mir aus der Decke ihr feines, vom Fieber brennendes Händchen entgegen ...

Ja, ich will gleich hinuntergehen. Ich erfülle eine heilige Menschenpflicht. Das hätte ich eigentlich schon vor einer Stunde thun sollen. Statt an diesem unnützen, überflüssigen, ungeheuerlichen Brief zu schreiben, für den ich doch keinen Dank ernte, höchstens eine mokante Kritik.

Trotzdem will ich zum Schlusse auch Dir gegenüber das Maß meiner Güte voll machen und Dir zu Deinem bevorstehenden Geburtstage gratulieren – ich merkte ihn, weil er in den kalendermäßigen Frühlingsanfang fällt, worauf Du Dir in grenzenloser Eitelkeit immer so viel zu Gute thatest, obwohl Du diesen Datums-Vorzug mit einigen Millionen anderer Menschenkinder teilst, hochgeborener Max von Drillinger. Da ich Dich nun[33] einmal mehr liebe, als Du verdienst, und das Schicksal – die präsumptive Krankheit – meiner armen Flora mich in weiche Stimmung versetzt, hat, so will ich ein ganzes Füllhorn innigster Wünsche auf Dein edles Haupt ausgießen. Möge das neue Lebensjahr all' die Wechsel – so warte doch mit Deiner nervösen Grimasse! – all' die Wechsel – einlösen, welche Dir das alte auf Glück ausgestellt haben sollte. Im Übrigen kannst Du bleiben wie Du bist; Du bist mir drollig und amüsant genug. Ziehe aus dem Umstande, daß die Zahl Deiner Jahre um eins vermehrt wird, nicht den voreiligen Schluß, daß Du älter geworden seist. Ich weiß, man ist gerade an solchen Tagen zu so jammerhaften Meditationen geneigt, und besonders Leute, die wie Du gar kein Talent zum Altwerden haben, sind's am meisten.

So. Und jetzt lass' mich gefälligst in Ruhe. Schreib' mir gelegentlich, was die Isar neues rauscht, wie's der tapfern Brigitta geht, der bewundernswerten Heldin, die das Unerträglichste erträgt – Dich!

Gott mit uns. Amen.


Mit Schwert und Eichenlaub


Dein getreuer Joseph Zwerger.


– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


[34] Nachschrift. Zwei Stunden später. Flora Kuglmeier ist gekommen, Flora Kuglmeier ist gegangen; sie ist frisch und gesund, der Name des Herrn sei gelobt! In die Arme sind wir uns zwar nicht gesunken, aber das kommt noch. Sie! ist ein wunderbares Geschöpf. Ein Charakter! Da läßt sich daraufbauen. Ich habe mich nicht enthalten können, sie auszuforschen: sie kennt Dich nur vom Hörensagen, aus weiter Entfernung. Das gereicht mir zu großer Beruhigung. Nun hab' ich ihr zum Dank viel Gutes von Dir erzählt.

Entsetzlich war's, daß ich vor Zerstreuung, Eile, freudigem Schreck u.s.w. im Hemde die Thür öffnete. Je nun, Flora hat nicht aufgeschrieen, ist nicht in Ohnmacht gefallen – sie hat den Anblick ertragen wie ein Mann! Das werde ich ihr all' mein Lebtag nicht vergessen.

Sie wünscht, Du möchtest die Bekanntschaft des Bildhauers Achthuber machen. Er hat sein Atelier drunten am »Gries«, im Wäscherinnen-Viertel, Ende der Isarstraße.

Quelle:
Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. 2 Bände, Band 1, Leipzig [o. J.], S. 1-35.
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