2.

[35] Die Vorstellung im Gärtnerplatztheater war zu Ende. Jung-München lärmte heraus.

Der Schwarm der Besucher hatte sich bis auf wenige Nachzügler im urbajuwarischen Gaslichthalbdunkel der von der Rotunde strahlenförmig auslaufenden, schön langweilig nach der Schnur gebauten Straßen mit allmählich verhallendem Geräusch von Menschenstimmen, Massenschritten und Wagengerassel verloren. Die Kandelaber an der Freitreppe des Theaters wurden gelöscht und die Thüren geschlossen. Die Feuerwehrmänner mit ihren blitzenden Helmen marschierten in militärischem Tempo und kräftigem Absatzaufschlag davon.

Ehrsame Nachtstille lagerte wieder über dem dämmerigen Platz und träumte in den schwarzen Wipfeln der Kastanienbäume, welche die statuengeschmückte Rotunde umsäumen.

Aus dem Seitenausgang des Theaters gegen die Klenzestraße war eine elegant in Kapuze und Mantel gehüllte Dame in eine wartende Droschke gestiegen. Der wohlabgerichtete Kutscher fuhr[36] langsam die Theaterseite hin und zurück, bis endlich behenden Schrittes eine Männergestalt den Platz durchquerte, direkt auf den Wagen zueilte und den Schlag öffnete.

»Aber Max, wie konntest Du mich wieder so lange warten lassen!« erklang zärtlich vorwurfsvoll eine tiefe Frauenstimme aus dem dunklen Wagengehäuse. »Rasch herein!«

»Den alten Weg,« rief der Herr zum Kutscher hinauf und schwang sich zu der vor Ungeduld und verliebtem Begehr fiebernden Dame in die Droschke. Kaum war die Thür geschlossen, so fielen auch schon die Gardinen und das Liebesgespann – nahm den alten Weg. Hü, hot!

»Natürlich war er's wieder, Max v. Drillinger, der Heißbegehrte,« höhnte eine meckernde Baßstimme aus einer Gruppe, die beobachtend im Dunkel der Hausecke den Vorgang verfolgt hatte.

»Kein Zweifel.«

»Die Abfahrt stimmt. Der Rest läßt sich denken.«

»Wie gewöhnlich hat die kluge Dame ihren eigenen Wagen heimgeschickt mit der Erklärung, sie ziehe bei dem schönen Wetter den Spaziergang vor, die Nachtluft werde ihr wohl thun und so weiter.«[37]

»Wird ihr auch wohl thun.«

»Sehr wohl. Der Drillinger versteht sein Metier als patentirter Frauentröster.«

»Wie der brave Gatte in der Quaistraße – sprich auf münchenerisch: G'weih-Straße! – sein Metier als König Menelaus versteht.«

»– Laus der Gute, – Laus der Gute –« spottete der Dritte, den Offenbachschen Refrain aus der »Schönen Helena« summend.

»O, der hat als richtiges Ehe-Trampelthier eine Elephantenhaut. Alle Pfeile des Spottes auf dem letzten Faschingsball im Hoftheater sind wirkungslos abgeprallt.«

»Und es sollte kein Mittel geben, ihm die Augen zu öffnen?«

»Er gehört zu jenen Blinden, die nicht sehen wollen. Und die sind inkurabel.«

»Bah, man müßte ihn nur bei den Ohren nehmen und einmal der Katze die rechten Schellen anhängen.«

»In der Presse?«

»In dem berüchtigten, ›Vaterland der schönen Seelen‹, Organ für sittliche Unterhaltung und Belehrung der Wachtstuben- und Kasernenwanzen?«

»Das ist abgeschmiert. Die kluge Donna ist[38] eine zahlungsfähige Klientin der Revolverpresse unserer königlichen Haupt- und Residenzstadt.«

»Ein Versuch wäre doch zu machen. Aber welcher reinliche Mensch mag sich mit solchen Schmieranten und Preßbanditen einlassen?«

»Ich! Reinlichkeit in Ehren, aber gibt es nicht Zangen, mit denen sich auch das Schmutzigste anfassen läßt? Gibt es nicht Mittelspersonen? Das sind zwar auch Hallunken, aber wenn's einmal nicht anders geht! Dem Drillinger muß endlich ein ordentlicher Prügel zwischen die Beine geworfen werden.«

»Einverstanden. Das wird wenigstens eine Abwechslung sein für seine verehrten Beine. Also überlegen wir das Geschäft!«

»Preis ist Nebensache!« spottete der Dritte.

Die Gruppe entfernte sich durch den dunklen Portikus, überschritt die Reichenbachstraße und trat in das Café Paul, dem Stelldichein der Theaterbummler und Nachtschwärmer des Gärtnerplatz-Viertels.

Auf dem Asphalt unter den Kastanienbäumen promenierten mehrere Studenten, schweigend ihre Zigaretten rauchend und die Pferdebahn erwartend.

»Ich muß sagen, nach der ›Nacht in Venedig‹ mit der entzückenden Straußschen Musik verspreche[39] ich mir wenig von dieser Nacht in München, die Ihr mir zum Besten geben wollt«, nahm eine schlanke Gestalt mit ein paar Schelmenaugen im träumerischen Siegfriedskopfe die Rede auf. »Eine Gondel auf den Lagunen und eine Droschke auf dem Münchener Pflaster – wer weiß mir lächerlichere Gegensätze?«

»Und eine Droschke, die nie zu haben ist, wenn man sie braucht, und zu deren Ersatz man auf eine Trambahn wartet, die nie ankommt.«

»Ihr Norddeutschen könnt eben unser herrliches München nur in kritischer Sauce genießen. Das ist zwar fade für unsern Gaumen, aber wir haben uns daran gewöhnt.«

»Nun hören Sie einmal, Kuglmeier, die Rheinländer sind nicht so norddeutsch, wie Sie glauben und meine Wiege hat bekanntlich in der großen Pfaffengasse am Rhein gestanden,« protestierte der träumerische Siegfriedskopf und schob seinen Arm unter den seines Münchener Kameraden. »Wir Rheinländer wissen zu leben und leben zu lassen. Wir sind die gemütlichsten Kerls.«

»Na, und wir Münchener erst!«

Das brachte der kleine Kuglmeier so drollig heraus, daß alle lachten.[40]

»Na, und diese Luft, direkt aus Italien, von einer Weichheit ...«

»Als ob sie Deine Schwester Flora in Neapel extra für uns präpariert hätte.«

»Also heute nicht raisonnieren!« hob wieder der Rheinländer an. »Nehmen wir Kuglmeiers Münchener Nacht, wie sie ihm Gott beschieden hat; trinken wir noch Eins, scherzen mit hübschen Mädchen womöglich – plaudern, faseln, kannegießern, aber warten wir nicht länger auf diese marode Pferdebahn!«

»Dort kommt sie schon herangekrochen mit müdem Geklingel.«

»Wir haben noch gar kein Vergnügungs-Programm gemacht!«

»Das laßt meine Sorge sein,« rief Kuglmeier.

»Da kann's uns nicht fehlen. Kuglmeier ist die rechte Hand des Zufalls,« bemerkte der Mediziner Stich, der auf den Kneipnamen Hippokrates hörte.

Der einspännige blauweiße Kasten rollte vorüber, die jungen Herren sprangen einer nach dem andern auf die Plattform. Im Innern saßen, beschienen von der gelben Laterne, zwei etwas auffallend geputzte Mädchen, eine stumpfnäsige Brünette und eine langnäsige Blondine, beide mit[41] exzentrischen Hüten aus hochgestülptem, schwarzem Filz und steifen, gespreitzten Federn, wodurch die ermüdeten Gesichter etwas gewaltsam Kühnes und Herausforderndes erhielten. Fest im straffen Korsett sitzend, die Beine übereinander geschlagen, mit den Stiefletten klopfend, die einen kräftigen, aber wohlgeformten Fuß umspannten, wandte sich die Brünette mit einer raschen Bemerkung ans Ohr der Blondine, worauf diese mit einem schmachtenden Blick auf die Plattform antwortete. Als Fortsetzung unterdrückte sie ein Gähnen, hielt die gelbgantierte Hand muschelförmig über den Mund und flüsterte: »Hunger hab' ich.«

»Und ich Durst. Prost Mahlzeit!« kicherte die Brünette und gähnte gleichfalls mit Anstand.

»Wohin fahren die Herren?« fragte der Kondukteur.

»Ja, wohin fahren wir gleich –« meinte Kuglmeier mit komischer Unsicherheit.

»Der rechte Führer! Prädestiniert für den deutschen Generalstab! Du lieber Gott, Damen haben überall den Vortritt: wir fahren den Damen da drinnen nach!« vermittelte lachend der Rheinänder und seine Schelmenaugen umspielten einladend die beiden Mädchen, denen die Geschichte offenbar gar nicht übel gefiel, denn sie stießen sich[42] an, schlugen die Augen à tempo halb nieder und zwinkerten durch die Lidspalte mit leisem Kopfnicken dem munteren Sprecher zu.

»Also geben Sie uns für zehn Pfennige pro Mann,« sagte Kuglmeier trocken und steckte dem Kondukteur ein halbes Markstück in die Hand.

Der Wagen durchrollte die lange Reichenbachstraße und hielt an der Haltestelle bei der Einmündung in die Frauenhoferstraße. Niemand machte Miene zum Aussteigen. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Eine leichte Steigung gegen die Reichenbachbrücke veranlaßte den Kutscher langsamer zu fahren; auf der Brücke angekommen, einem alten Balkengerüst von der architektonischen Schönheit der Pfahlbauzeit, ließ der Kutscher sein Pferd vorschriftsmäßig im Schritte gehen. Der müde Schimmel, dankbar für diese ortspolizeiliche Vorschrift, streckte den Kopf rechts und links, pustete seinen glühenden Atem in die schwarze Nachtluft hinaus, daß weiße Nebel um seine Nüstern sprühten, hob den Schweif und blieb mitten auf der Brücke stehen, um ein natürliches Bedürfnis zu befriedigen.

Die Mädchen stießen sich wieder an, zupften ihre exzentrischen, hochgestülpten Filzhüte mit den[43] gespreitzten Federn zurecht – und benützten den unfahrplanmäßigen Halt zum Aussteigen.

»Erlauben Sie, daß wir die schöne Gelegenheit bei der Hand ergreifen,« sagte der Rheinländer galant und erhaschte die flinke Brünette bei den Fingerspitzen, zog damit ihren Arm an sich und, mit ihr gleichzeitig den Boden betretend, schlang er als vorsichtiger Ritter noch seinen Arm um ihre Hüfte, damit sein Schützling auf der schlecht beleuchteten Brücke ja nicht zu Fall komme.

Die übrigen Kameraden, elektrisiert von seinem Beispiel, wollten sich gleichzeitig um die Blondine bemühen, aber da kam einer dem andern in die Quere, das Pferd zog plötzlich an und der kleine Kuglmeier blieb mit dem Absatz am Tritteisen hängen, fiel und drückte die lange Blondine mit zu Boden.

Die Brünette schrie und lachte zugleich, sich fest an den Rheinländer drückend, der sie im ersten Schreck mit beiden Armen umschlang, während die Andern im Rettungseifer blind dreintappten – merkwürdigerweise keiner nach Kuglmeier, alle nach dem Mädchen! – und der eine ein Bein, der andere einen Arm, der dritte den Federhut erwischte.

»Hippokrates vor!« rief der Rheinländer.[44]

Inzwischen hatte sich die Blondine in die Höhe gearbeitet und lachend den kleinen Kuglmeier mit aufgezogen.

»Hippokrates, walte Deines Amtes! Biete der Gefallenen Deine hilfreiche Kunst!«

Die Brünette hatte sich mit einem letzten zärtlichen Druck von dem Rheinländer losgemacht, um ihrer Freundin die Kleider und den Hut ordnen zu helfen.

»Ach, es ist gar nichts,« versicherte die Blondine mit dem besten Humor von der Welt.

Hippokrates ließ sich aber dadurch nicht abhalten, als gewissenhafter Medizinmann seine Pflicht zu erfüllen. Er strich und tastete und drückte mit beiden Händen an dem Mädchen herum, das sich nur zum Schein gegen so sachverständige Sorgfalt wehrte. Die Brücke war menschenleer; die kleine Gesellschaft stand allein in ihrer abenteuerlichen Intimität da, über sich den schwach besternten Wolken-Himmel, unter sich die rauschende Isar, ringsum die dunkle, laue Nacht, in welche die Gasbeleuchtung diskrete Lichtpünktchen säete.

Der emsige Hippokrates ließ sich auf ein Knie nieder, nahm die Fußknöchel der Blondine zwischen Daumen und Zeigefinger, frottierte mit der Hand[45] hurtig bis an die halbe Wade hinauf – und »Eine Röte, eine verdächtige Röte! Thut's weh?« rief er und erfaßte das Strumpfband.

»Was Röte! Das ist ja die Farbe des Strumpfes!« rief lachend das Mädchen. »Sie sind mir ein schöner Doktor –« und mit einem Ruck entzog sie ihm das Bein.

Allgemeine Heiterkeit. Der Heiterste aber war Hippokrates: er richtete sich hoch auf und schwang triumphierend das Strumpfband.

»Nein, ist das lustig!« und die Brünette hüpfte wieder zu ihrem Ritter, der ihr galant den Arm bot.

Der Rheinländer mit den glücklichen Schelmenaugen hob jetzt mit kömischem Pathos an: »Meine Herrschaften, danken wir unserem Freunde Kuglmeier für die ungeheuere Geschicklichkeit, mit welcher er dieses ebenso erschütternde wie angenehme Ereignis inszeniert hat. Er ist der Mann der Überraschungen und stets Herr der Situation.«

»Bravo! Bravo!«

»Da wir nun in anbetracht der vorgerückten Stunde die Damen nicht mehr allein ihrem Schicksale überlassen dürfen ...«

»So bleiben wir hübsch beieinander,« fiel Kuglmeier ein und machte sich begehrlich an die[46] lange Blondine, die sich in schwachen Anstrengungen gefiel, von dem glühenden Hippokrates ihr Strumpfband wieder zu erlangen.

»Ausreden lassen!«

»So finde ich es schicklich, daß wir uns den Damen zunächst vorstellen. Hier der Medizinmann Herr Stich, Herr Kupfer, genannt der ›große Schweiger‹, Herr Schlichting, der ›Einsame‹, Herr Kuglmeier und meine Wenigkeit, der ›große Unbekannte‹, der in diesem Augenblicke gar nicht weiß, in welcher wildfremden Gegend er sich befindet.«

»Wir sind Blumenmädchen,« lachte die Brünette.

»Aus der Nacht in Venedig – oder aus Parsifal? – Zauberhaft!«

»Nein, – aus dem Bellingerschen Atelier. Ich mache Blätter und Blüten und die Nanni die Stiele.«

»Noch zauberhafter.«

Helles Gelächter.

Der als Herr Kupfer, der »große Schweiger« Vorgestellte, wollte nun die Last seiner Gefühle in dieser närrischen Frühlingsnacht auch nicht länger stumm bei sich tragen. Die Dunkelheit machte ihn so kühn, daß er sich mit allerlei phantastischen Griffen an des Rheinländers[47] Schützling heranzuschlängeln mühte. »Ja, sehen Sie, holde Wunschmaid und Blütenfabrikantin, wir sind ganz unschuldige Säuglinge der Wissenschaften und schönen Künste.«

Aber die Brünette wehrte ab: »Bitte, Sie scheinen mir im Gegenteil ein ganz verflixtes Schweinchen zu sein.«

Die Lebhaftigkeit der Unterhaltung und der Gesten hatte das Auge des Gesetzes angezogen das jetzt in Gestalt zweier Gendarmen feierlich beobachtend im Dunkel auftauchte und den Raum der Brücke durchmaß.

Die Gesellschaft war an die Ballustrade getreten, an eine Stelle, wo dichtere Finsternis herrschte.

»Orientieren wir uns. Herr Kuglmeier, urmünchenerischer Ansiedler, leihen Sie uns Fremdlingen Ihr Licht!«

Nun wollte sich der kleine Kuglmeier aus Rache für sein Mißgeschick auch einige Witze leisten. Er warf sich in Positur und brachte folgenden Unsinn zustande:

»Wir sind in Bajuwariens nächtigsten Gefilden. Dort im Süden dehnt sich der furchtbare Urwald von Harlaching-Thalkirchen-Großhessellohe-Höllrieglskreut, durchströmt von dem wildesten[48] und gefährlichsten aller Alpenflüsse. Rätselhaft ist sein Wesen gleich dem Acheron und unheilvoll ist sein Wasser. Wer unbedacht hineinfällt, ersäuft, wenn ihm nicht der Magistrat einen Rettungsbalken zuwirft; und sitzt er auf dem Rettungsbalken, so erfriert er, wenn ihm nicht die barmherzige Kathi vom Beisel in der Wasserstraße einen steifen Grog hinüberbringt. Hier, rechts, sehen Sie eine der gewagtesten menschlichen Ansiedlungen, Monachia, die Stadt der Mönche und anderer Klosterbrüder und ungeschundener Raubritter; links die Au, die sich an einem Nebenflusse der Isar, am duftigen Entenbach, zu einer der größten und elegantesten Villenstädte europäischer Biersümpfler zu entwickeln verspricht; ferner flußauf und -abwärts zwischen dem Ufer und den menschlichen Wohnstätten dehnen sich Promenaden, Alleeen, Gärten, Haine, Wiesen, Mist- und Schutt- und Eisplätze in lieblichem Wechsel, allwo die große heidnische Göttin im Schutze der Nacht ihren Gläubigen die Opferstellen anweist ...«

»Haltet ihm den Mund zu!«

»Was sind das, Opferställe?«

»Opferstellen! Das werdet Ihr heute Nacht[49] zum hundertundsoundsovielten Male praktisch expliziert bekommen, geliebte, keusche Mädchen.«

»Ich verbitte mir solche Randglossen zu meinem Vortrage!« schrie der kleine Kuglmeier, als der Medizinmann Stich die fragende Blondine in die Arme schloß und leidenschaftlich küßte.

»Alle Wetter, Kuglmeier ist eifersüchtig,« spottete der ›große Schweiger‹, noch verstimmt über seinen Mißerfolg bei der braunen Blütenmacherin mit der lustigen Stumpfnase.

»Ich eifersüchtig? Das wäre geradezu beleidigend, wenn ...«

»Kinder, nehmt Vernunft an, die Gendarmen sind in der Nähe. Deren Zartgefühl erträgt solche Scherze nicht. Da kommt auch eine Droschke mit ehrbaren Spießbürgern, skandalisiert sie nicht! Seid dezent!« mahnte der Rheinländer spöttisch, während er mit der Hand seines um die Taille der Brünette gelegten linken Armes den vollen straffen Busen streichelte, daß das Mädchen erregt aufseufzte und in heißem Schmachten sich förmlich in die Feuer und Leben atmende Gestalt des blonden Recken vergrub.

»O, seht hin, die Gardinen zugezogen; ein Ehebett auf Rädern!«[50]

»Ich erkenne den Kutscher; er nahm am Gärtnerplatztheater ein heimliches Pärchen auf.«

»Hetzen wir die Gendarmen darauf!«

»Willst Du gleich stille sein, Kuglmeier?«

»Kutscher, Sie haben wohl etwas Zerbrechliches in dem Fuhrwerk? Schreiben Sie doch ein anderesmal ›Vorsicht‹ auf Ihre Kiste!«

»Ich habe Hunger. Was stehen wir länger da herum? Davon werd' ich nicht satt,« platzte Nanni heraus, die zarte Stengelfabrikantin. »Komm, Mali!«

»Also gehen wir hinüber in die Wasserstraße, in den Isarhof?« fragte Kuglmeier.

»Ich bin zu allen kulinarischen Schandthaten bereit, obwohl ich keinen Hunger habe; nur endlich los!« setzte der Rheinländer kräftig ein.

»Nein, nicht in die Wasserstraße,« protestierte Mali; »da hält man uns für nichts Rechtes, da streunen lauter schlechte Frauenzimmer herum.«

»Dann gehen wir auf die andere Seite, durch die Anlagen mit den hübschen Sitzgelegenheiten – oder über das Muffatwehr, das ist auch romantisch und führt auf die Kohleninsel, eine sehr poetische Gegend.«

»Da mag ich nicht hin,« fiel jetzt wieder die blonbe Nanni ein; »da drüben ist's auch nicht geheuer,[51] und die Gendarmen haben bereits ein Auge auf uns geworfen – dort stehen sie immer noch und passen. Ich fürcht' mich. Mit der Polizei mag ich nichts zu thun haben.«

»So bleibt uns nichts übrig, als in die Isar hinabzuspringen und schwimmend ein sicheres Ufer zu suchen,« bemerkte der Rheinländer ungeduldig.

»Schwimmen? Ja, Schnecken. Da dank' ich. Das ist wirklich stark. Am Ende macht's Ihnen noch Spaß, uns in's Wasser zu werfen! In der Isar sind schon so viele Mädchen umgekommen. Verliebte Mannsbilder mit lauter Redensarten, das sind mir die Rechten! Die sind zu allem fähig!« Mali machte sich vom Arm ihres großen Unbekannten los: »Ich glaube wirklich, die Herren halten uns zum Besten? Prosit Mahlzeit, suchen Sie sich andere dazu aus. Komm, Nanni!«

»Ja, wohin denn?« rief der Rheinländer verdutzt. »Na, das ist komisch.«

Die Mädchen aber schritten tapfer fürbaß, ohne sich umzublicken, an den Gendarmen vorüber, gegen die Au zu. Die Studenten blickten eine Weile den Flüchtigen betroffen nach, dann brachen sie in ein Gelächter aus, aus welchem ebensoviel Enttäuschung wie ärgerliche Spaßhaftigkeit schallte.[52]

Nur einer fand das Wort für die Situation, Schlichting: »Es geschieht uns recht.«

»Der gute Mensch! Uns sagt er – und er hat wahrhaftig von der ganzen Geschichte am wenigsten gehabt,« meinte der Rheinländer treuherzig. »Aber was jetzt thun, Kuglmeier, rechte Hand des Zufalls?«

»Jacta est alea.«

»Ein klassisches Wort. Das stimmt. Aber es hilft uns nichts. Wir können doch nicht so heimtrollen, ohne etwas für die Unsterblichkeit und unser Vergnügen gethan zu haben?«

»Über lauter Narretei habt Ihr vergessen, einen Blick in diese wunderbare nächtliche Flußlandschaft zu thun,« nahm jetzt der stille Schlichting wieder das Wort, über die Ballustrade gelehnt, während die Kameraden heftig vor ihm auf und ab marschierten zwischen zwei Laternenpfählen und beratschlagten, was ferner zu unternehmen sei.

»Die Kneipe? Nein, das ist mir zu öde,« sagte der Rheinländer. »Eine solche milde Frühlingsnacht in der dumpfen Stube?«

»Ich wette, sie erwarten uns da drüben, in einem grünen Versteck der Anlagen. Es war nur eine Finte, der Gendarmen wegen. Wir sollten uns die Geschichte nicht so entschlüpfen lassen.«[53]

»Donnerwetter, es waren doch ein paar patente Mädels mit einer pikanten Nüance ins Verdrehte, Phantastische.«

»Eigentlich that einem die Wahl weh; ich konnte mich gar nicht schlüssig machen, welcher von beiden ich meine spezielle Neigung zuwenden sollte,« behauptete Kupfer mit Wärme.

Der Rheinländer biß sich bei diesen Worten leicht auf die Zunge. »Na, höre!«

»Hast Du das Strumpfband noch?«

»Habe gehabt. Nicht einmal diese bescheidene Trophäe haben wir gerettet. Es ist zu dumm.«

»Eigentlich sind wir die Genarrten. Männer der frischen, fröhlichen That hätten ganz anders gehandelt. Die Mädchen müssen uns für rechte Gimpel halten.«

»Wir haben die schöne Gelegenheit verschwatzt.«

»Was hält uns denn ab, das Versäumte wieder gut zu machen?« rief Kuglmeier ganz erregt und leckte sich die Lippen.

»Die Selbstachtung!« rief Schlichting herüber im Tone kühler Überlegenheit.

»Wieso, die Selbstachtung?« fragte der Medizinmann zurück.

»Weil ich es für eine zweifelhafte Auszeichnung[54] halte, jeder Schürze nachzurennen. Übrigens thut, was Ihr wollt.«

»Das werden wir auch, Herr Schlichting.« Und für sich brummte Stich noch hinzu: »Eine saftlose Seele, ohne elementare Leidenschaft.«

Schlichting warf ruhig den Kopf zurück, sog die milde, wasserduftige Nachtluft ein und lauschte dem Gemurmel der dunklen Flut, die bis zur nächsten Brücke in schnurgeradem, gleichmäßigem Bette mit hastigem Wellenspiel dahinglitt, die Spiegelung der Lichter des Himmels und die Reflexe der Gasflammen auf den Brücken und an den Ufern zitternd zurücklassend. Neben dem kanalartig für die Zwecke der Flößerei regulierten Hauptbett breitete sich wild und regellos, mit niedrigem Buschwerk bewachsen, aus welchem geschlängelte Sandwege und Kiesbänke weiß herausglänzten, das vom Hochwasser alljährlich überflutete Feld aus, eine Art flaches Reservebett, wohl viermal so breit als das Hauptbett, um den Überschwall gefahrlos aufzunehmen und durch Wehre und Kanäle und Seitenbäche abzuleiten. Die rücksichtslosen Launen einer gigantischen Naturgewalt spotten hier der kleinlichen Ökonomie der Menschen und zwingen sie, weite Strecken Landes ungenutzt der Sicherheit der Stadt vor[55] Überschwemmungsgefahr zu opfern. Was jetzt im Dämmer der Nacht wie eine verwahrloste, träumerische Haidelandschaft neben dem geregelten Flußlauf da unten liegt und am Tage von zahlreichen Kinderscharen aufgesucht wird zu fröhlichen Spiel- und Jagdzügen: das verwandelt sich zur Zeit des Hochwassers im Frühjahr und Herbst in einen brausenden, gurgelnden, gelb schäumenden See, gepeitscht vom Föhnsturm und umrauscht von den gewaltigen, vielhundertjährigen hochwipfeligen Weidenbäumen und Pappeln und Buchen und Eichen, welche sich außerhalb der Stadt zu dichten Wäldern zusammenschließen und der Isar vom Fuße des Hochgebirgs bis zur Mündung in die Donau folgen, wie eine grüne lebendige Mauer.

Eine herbe, epische Melancholie liegt über dieser nächtlichen Flußlandschaft ausgebreitet, eine heroische Trauer-Stimmung.

Schlichtings Blicke aber schweifen jetzt südwärts, wo seine Seele durch die Wolken und die Düsternis der Ferne die Konturen der Alpen erschaut in lichter Pracht, und darüber wölbt sich aus reinem Äter der ewige Himmel. Und über das Gebirge hinweg schwingt sich seine Seele, bis an das blaue thyrrenische Meer, bis zum Gestade der Sirenen am leuchtenden Golf der[56] klassischen Wunderstadt Parthenope. Ja, dort weilt sie jetzt, in den glücklichen Gefilden Kampaniens, im Duft und Glanz einer wonnigen, lachenden, mit sich selbst zufriedenen Natur.

O, wie sich sein junges Herz nach ihr sehnt!

Wie er dieses stumme Liebes-Schicksal nur erträgt un dieser dumpfen Werkeltäglichkeit bajuwarischer Bierversumpfung ... Daß der König diese, Stadt meidet, wie innig begreift er's jetzt ... Eine chaotische Häusermasse, liegt sie hier zu seiner Linken; eine dicke, träge, blaugraue Wolke schwebt über ihr gleich einem dummen, boshaften Dämon.

Was ist das? Aus der häßlichen Wolke löst sich plötzlich eine faustgroße Feuerkugel, in wunderbarem grünen Licht beschreibt sie einen Bogen gegen den östlichen Horizont, erleuchtet magisch wie ein langsamer Blitz die schwarze Gegend – das Maximilianeum am Isarufer auf der Gasteig-Höhe glüht auf wie ein Geisterschloß – und die Erscheinung verlöscht ohne Geflacker, bevor sie den Horizont erreicht.

»Flora, ich denke Dein!« rief Schlichting in überquellender Empfindung und hielt die Hand über das geblendete Auge.

»Aber Schlichting, wo bleibst Du denn?« hörte er plötzlich wie durch eine Wand Kuglmeiers[57] Stimme. »Die Andern sind ja längst voraus, den Mädels nach.«

»Die Andern?« fragte Schlichting verwundert aus seinem Traum, erwachend; »ach so! Geg' nur Hans. Ich finde den besseren Weg allein heim. Mich begleitet Flora ...«

Der kleine Kuglmeier war verschwunden.

»Wie wenig er seiner Schwester gleicht! – Daß sie zehn Jahre älter ist – älter ist? – zehn Jahre mehr zählt als ich, das macht sie nur reifer und tüchtiger und begehrenswerter, mehr älter ... Begreiflich, daß die Raßlerischen Kinder für eine solche Erzieherin schwärmen und sie nicht vergessen können. Besonders der Hermann. Ich werde ihn anstiften, ihr wieder zu schreiben und dann werde ich einiges Persönliche von mir hineinkorrigieren – das ist unauffällig und verträgt sich ganz gut mit meinen Verpflichtungen als Nachhilfs-Lehrer in klassischen Sprachen. Und selbst wenn Frau Raßler dahinterkäme – ein so herzensgutes Weib, resolut, und dabei lustig und versteht einen Spaß – lachen würde sie, weiter nichts ...«

Schlichting fühlte sich so wohl und frei bei diesem Selbstgespräch und sein Alleinsein kam ihm jetzt vor wie die Befreiung aus einer Haft. Seine[58] Brust hob sich in unendlichem Kraftgefühl, und elastischen Schrittes verließ er die Brücke. Plötzlich hielt er an: links führt der Weg durch eine schmale Anlage über das Muffatwehr, rechts in die Lindenallee mit dem kleinen Park vor der Frühlingsstraße – geradeaus in die Vorstadt Au. Wohin also?

Daß er den abenteuernden Kameraden nicht noch einmal in die Hände läuft! Die überütigen Bursche hatten ihn überdies heute schon zu Unziemlichkeiten und Geschmacklosigkeiten verleitet. Ein Scherz mit leichtfertigen Mädchen, die dazu noch sauber und anmutig sind, ist zwar kein Verbrechen, allein es ist sicherer, man geht dem verliebten, beutelustigen Gesindel aus dem Weg.

Also links, über das Muffatwehr, das ist der kürzeste, einsamste und sicherste Weg – und der abwechslungsreichste zwischen den beiden Isarläufen, frischeste und lustigste obendrein. In zehn Minuten ist man an der Maximiliansbrücke.

Vom Thurm der Auer Mariahilfskirche schlug eben die elfte Stunde in kräftigen, sonoren Schlägen, so schmetternd, als ob auch die Glocken in ihrer Höhe vom nahenden Frühling wüßten und von der neuen Kraft und Schönheit, die er über die sehnende Kreatur ergießt.[59]

Der ›Einsame‹ zählte halblaut und bog links ab.

»Schon elf! Links, nicht wahr, Flora? Der Nachtschwärmer soll sich sputen, daß er in die Federn kommt, damit er in fröhlicher Herrgottsfrühe ...«

Was ist denn heute auf Weg und Steg Verrücktes los?

Schlichting blieb in seinem Selbstgespräche stecken, als er des seltsamen Bildes ansichtig wurde.

Hart am Ufer stand ein riesig hoher, mannsdicker Weidenbaum mit weitausladendem, gegen den Fluß überhängendem Astwerk. Eine Wurzel, dick wie ein Mannsschenkel, war vom Stamm frei in die Höhe gewachsen mit einer länglichrunden Schlinge nach auswärts, die einen natürlichen Sitzplatz bot, jedoch nur hochgewachsenen Leuten erreichbar.

Auf dem Wurzelsitz hockte ein Mann mit herniederbaumelnden nackten Füßen, angethan mit einem weiten, weißgrauen Talar, das Haupt unbedeckt, Haare und Bart ungeschoren. Neben ihm kauerte ein Weib, in schwarze Tücher und Fetzen regellos gehüllt; die Gestalt war mehr zu erraten, als deutlich zu sehen. Sie hatte die Beine an den Leib gezogen; Kopf und Brust lagen im[60] Schooß des Mannes, die Arme hingen schlaff herab.

Es war Zufall, daß Schlichtings Blick die Gruppe auf dem Wurzelsitz gewahrte. Vom Wege aus war sie nicht leicht zu bemerken; die Schattenwirkung war an dieser Stelle der Anlage so stark, daß nur ein gewitzigtes Auge durch die weißgraue Talarsilhouette angeleitet werden konnte, hier menschliche Gestalten zu suchen. Zudem hielten sich die Umrißlinien fast unbeweglich: nur der herabhängende Arm machte ab und zu eine pendelnde Bewegung, gleich einer Geste, die ein Wort begleitet, und der ruhende Frauenkopf hob sich zuweilen zu einer seitlichen Drehung, um dem Manne ins Antlitz zu sehen, mit dessen Bart- und Haupthaar-Gelock die Nachtluft spielte.

Wie der Jäger sich an ein edles Wild heranpirscht, so schritt Schlichting, nachdem er zuerst überrascht zurückgewichen, auf den Zehenspitzen in weitem Kreise, von Buschwerk und Baumstämmen gedeckt, auf den Weidenbaum zu, um möglichst nahe an das seltsame Menschenpaar heranzukommen, dessen Gebahren und Gespräche zu belauschen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das gelang. Schlichting hatte endlich seinen Standpunkt hinter dem dicken Weidenstamm[61] selbst gefunden, so daß er jedes geflüsterte Wort vernehmen konnte. Zuerst war er so erregt, über diese heimliche Annäherung und so wenig dieser indiskreten Lauscherrolle mächtig, daß er sein Herz laut pochen und seine Ohren sausen hörte.

Das Weib fragte fast immer, aber mit merkwürdiger Betonung, und dann kam wieder ein Tonfall, der wie ein bewußtloses Traumreden klang, und hernach wieder ein leidenschaftliches Wort, dem ein totmüdes folgte.

Der Mann sprach ganz ruhig, ganz gleichmäßig, fast schläferig, doch lag eine wundersame Ueberzeugungskraft in seinen Worten und dazu eine Milde und Herzlichkeit, wie wenn eine Mutter zu einem kranken Kinde spricht. Er antwortete nicht auf jede Frage und nicht in der gestellten Reihenfolge; dann wieder brachte er etwas außer allem Zusammenhang vor, das vielleicht eine gedachte Frage beantworten oder von anderen Fragen ablenken sollte. Zuweilen wurde der Eindruck, als ob der Mann hier nur als Seelenarzt zu einer Verirrten und Geistes- und Gemütsgestörten spreche, doch wieder beeinträchtigt durch Anreden allerintimster Empfindung von ihr zu ihm.

Ungelöst blieben dem Lauscher als ebensoviele schwere Rätsel die seltsame Tracht der Beiden,[62] der seltsame Ort, die seltsame Art und Bedeutung der Gespräche. Er kniff sich in die Nase, um sich zu überzeugen, daß er nicht das Opfer einer Halluzination, einer Vision oder dergleichen sei, sondern alles leibhaftig mit zurechnungsfähigen Sinnen erlebe. Und ächzten nicht die Zweige hoch über seinem Haupte im Nachtwind und tauschte nicht die Isar wehmütig leise herüber? Und war es nicht wie der belebende, drängende und süß erregende Atem des erwachenden Frühlings, was ringsum wehte und webte in geheimnisvoller Nacht? Nein, es ist kein Geisterspuk.

Jetzt aber galt es, alle Kritik zurückzudrängen und von dem Gehörten und Geschauten so viel als möglich und so genau als möglich dem Gedächtnisse einzuprägen. Als sie nach einigem Stillesein wieder zu fragen anhob, unterschied Schlichting ganz deutlich, daß die Stimme des Weibes älter klang, als die des Mannes. Sollte es die Mutter sein, die zu ihrem Sohne spricht? Nein, diese Annahme hat gegen sich, daß der Mann sie stets bei dem Namen Magdalena nennt. Oder wäre es ein verheimlichtes, oder dem einen oder andern Teile unbewußtes Kindesverhältnis? Rätsel über Rätsel! Hieroglyphen vielleicht eines Familiendramas?[63]

... »War's nicht zur Frühlings-Tag- und Nachtgleiche, da das Ungeheure geschah? Wie kann eine Gleiche bestehen, wenn Missethat nicht gerochen wird? Hat Gott seinen Arm erhoben mit dem Schwerte des Rächers? Wird es Frühling und Gott ist nicht nahe? Schreitet er als der Strafende durch die Welt und schlägt die Bösewichte nieder, die seinen Frühling schänden? Wie kommt der Ewige zu uns? ...«

»Als der Allerbarmer ist er uns nahe, wenn wir dem neuen Leben unser Herz erschließen und alles auskehren, was unrein und verdorben.«

»Hast Du ein Zeichen für seine Erscheinung? Wer gibt uns Zeugnis?«

»Gedenke des Propheten Elias; als er von seinem Volke verstoßen war, da ging er in eine Höhle des Berges Horeb, in der Einsamkeit sein Herz zu läutern. So bin auch ich in die Einöd gezogen, in den Steinbruch ... Aber dem Propheten ward der Befehl, auf den Berg zu steigen und vor Gott zu treten. Und siehe, der Herr ging vorüber. Ein großer, starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, ging vor dem Herrn her – aber der Herr war nicht im Winde. Nach dem Winde kam ein Erdbeben, aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und[64] nach dem Erdbeben kam ein verzehrend Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen ...«

»O, ich höre es ...«, hauchte das Weib.

»Und da Elias es hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel, denn Gott, der Allmächtige, war in dem stillen, sanften Sausen.«

»Später aber, als der Prophet der Welt entrückt wurde für immer, nahm ihn Gott hinweg in Sturm und Feuer. Ist's nicht so?« fragte sie.

»Er war nicht der Prophet der Liebe und der Hoffnung; er war der Prophet der Buße und der schrecklichen Vergeltung.«

»Wann wird uns Vergeltung für alles Leid und ihnen Vergeltung für alle Bosheit? Sag' an, warum fliehen sie vor mir, daß ich sie nicht treffen kann mit meinem Fluch? Warum weichen sie aus, wenn ich nahe mit meiner Liebe? Ich habe nach Jahren ihr Haus gesucht, warum fand ich's nicht?« – Und die Stimme des Mannes darauf:

»Ihr altes Haus ist zerstört und der Garten verwüstet, und wo sie nun wohnen, da ist nicht ihr Haus. Je näher sie den Menschen der großen Stadt gerückt und mit ihnen gemeinsam leben, desto weiter sind sie in die Fremde gekommen und trauriger ist ihr Herz geworden.«[65]

»Einst habe ich meine Füße blutig gelaufen auf ihren Pfaden, da ich den Zorn und den Haß brachte; jetzt, da ich Liebe zu ihnen trage, warum verhüllen sie mir ihre Pfade? Und würde ich noch elender auf den neuen Wegen, was ginge sie's an? Hat sie mein erstes Leid gerührt?«

»Darum kehre wieder zu mir zurück in meinen Steinbruch, dessen Felsen die Hölle verriegeln. Wer will Dich dort anfechten?«

»Die Dich anfechten, sagen sie nicht, Du seiest ein verlorener Mann, und dem Untergang bleibe geweiht, wer sich an Dich hält, an Deine Lehre und Dein Leben?« Sie hob fragend den Kopf.

»Ich fürchte nichts, so lang' ich mir selbst Treue halte. Glaube mir, Magdalena.«

»O Dein Leben, ist's nicht schauerlich? Und triebest Du das seligste Werk, nimmer wirst Du Deinen Lohn finden. Du bist anders als die Andern, das ist Dein Verbrechen in ihren Augen. Anderssein ist Schuld. Ist nicht alles verdorben von Anfang an?«

»Ich bin getröstet, wenn Du bei mir bleibst. Dein gutes Schicksal will ich sein. Säume nicht länger, folge mir!«

»Du leidest Hunger und Durst im Steinbruch und Dein Leib friert, wie soll Dein Beispiel der[66] Menge fruchten, die nach Wohlleben lüstet, die kein Laster und Verbrechen scheut, Wohlleben zu erreichen? Armer Mann, Du treibst ein traurig Handwerk! Und die Welt geht an Dir vorüber, zuckt die Achseln und verachtet Dich.«

»Ich gehe an der Welt vorüber und weihe ihr mein Mitleid,« klang des Mannes Stimme.

»Spricht sie nicht, Du seist ein Überflüssiger und Dein Mitleid Thorheit?«

»Die Welt ist, so lange ich sie will, sie ist nicht mehr, werfe ich den Willen von mir.«

»Hörst Du die Isar rauschen? Begrabe Deinen Willen in ihrer Flut und Du hast Ruhe. Alles fließt und zerfließt und sammelt sich wieder. Rauscht die Isar nicht auch an Deinem Steinbruch vorüber?« Das Weib richtete sich auf.

»Sie rauscht vorüber, aber ich höre sie nicht. Ich höre nur Dein Herz an dem meinigen schlagen und fühle Dein Elend. Komm' wieder zu mir, daß ich Deine Last tragen helfe. Es ist Zeit, folge mir!« Weich, bittend sprach's der Mann.

»Geh' an der Zeit vorüber. Es ist nichts.«

»Du zitterst. Deine Hände sind kalt. Feucht fühle ich Deine Haare. Mitternacht naht und verscheucht die Wachenden. Ich trage Dich in meinen Armen davon. Dulde, daß meine Liebe[67] Gewalt braucht ... Das Frührot findet uns geborgen im Steinbruch, Dich und mich ...«

Ein Herabgleiten, ein Wanken, ein Mühen, auf die Beine zu kommen. Endlich war das rätselhafte Paar müden Schritts auf dunklem Waldwege verschwuden. –

Mit sanftem Blinken schlüpfte die Sichel des abnehmenden Mondes aus dem Gewölke und umhüllte Isarlandschaft mit zartem bläulichen Schein. – –

Quelle:
Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. 2 Bände, Band 1, Leipzig [o. J.], S. 35-68.
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