3.

[68] Brigitta rieb sich wiederholt die Nase. Das that sie gewöhnlich, wenn sie voll innerer Unruhe war.

»Meine Nase juckt so, da erfahr' ich heute gewiß noch was Neues.«

Sie brachte diese Redensart in einem Ton heraus, der einem aufmerksamen Ohre sofort verraten hätte, daß die Alte mit einer obenhin gesprochenen Phrase nur vor der Kundgebung ihrer eigenen quälenden Gedanken sich flüchten, oder durch Gleichgültiges viel Wichtigeres, das in ihrer Empfindung bohrte und nach Aussprache rang, zerstreuen und ablenken wollte.

Allein Max v. Drillinger besaß in diesem Augenblick die Feinheit eines aufmerksamen Hörers durchaus nicht.

»Schließ das Fenster, Brigitta, ich bitte Dich; ich bin ja in Hemdärmeln! Die Luft ist mir zu frisch, kaum fünfzehn Grad. Und das Rauschen der Isar ist mir heute so zuwider; das ewige[69] Gesumme, Gesause und Geplätscher, Geklatsche und Gegurgel – schließ zu, schließ zu! Es geht mir auf die Nerven. – So recht, mein Hausmütterchen. Danke!«

Brigitta hatte die Nase wieder hereingezogen und den halbgeöffneten Fensterflügel mit zitternder Hand zugelehnt. Nun fuhr sie tastend an dem Rahmen hinauf, drückte und klopfte, daß die Scheiben leise klirrten und die Angeln knarrten.

»Ach, diese neumodischen Verschlüsse!« seufzte sie; »es ist jedesmal eine ordentliche Arbeit, bis man so ein hohes, schwankendes Fenster wieder zubringt. Die alten Reiber in unserem Gartenhäuschen da droben waren so einfach und hielten so gut. Es ist nichts mit dem neuen Zeug. Überhaupt –, ach, das war dort doch ein ganz anderes Wohnen, so zwischen Wiesen und Feldern und Gärten, und die Isar-Auen vor der Thür und die Stadt weit fort im Rücken und doch nah genug, wenn man sie brauchte. Das Glockengeläute hat man immer so schön in unsere Einsamkeit hereingehört. Einmal, an Ostern oder Charfreitag – – ich hör' ihn noch, diesen tiefen, bebenden, von fern hallenden Ton, er schwebte her wie aus dem Himmel. – – Und die Isar rauschte wie Auferstehungslieder ...«[70]

So schwatzend, trippelte sie vom Tisch zur Komode, Kleinigkeiten ordnend.

»Da hast Du wohl recht, Brigitta; es ist nichts mit dem neumodischen Zeug. Aber erst das Allerneueste! Da wirst Du was erleben, wenn wir hier wieder ausziehen müssen aus unserem stillen Winkel und weiter hinaufgedrückt werden in die Wasserstraße oder Quaistraße. So eine wachsende Großstadt – wie ein Riesenungeheuer sperrt sie den höllischen Rachen auf und frißt sich weiter und weiter in die stille, geduldige Natur hinein, und Felder und Wälder und Dörfer ringsum werden von ihr verschlungen und verschluckt wie kleine Kaninchen von der Klapperschlange. Und wir werden mitverschluckt, Brigitta. Die Klapperschlange Großstadt frißt uns auf ... Es ist keine Rettung mehr. Hinaus können wir nicht mehr ... Hier lassen sie uns gewiß auch nicht mehr lang in Ruhe, die verfluchten Stadterweiterer und Bauspekulanten. Dann sind wir verdammt, in einem allerneuesten Massen-Miets-Palast billigen Unterschlupf zu suchen; die Zeit des eigenen, freien Gartenhauses ist ewig dahin ... Lauter architektonische Fabrikware. Sicht großartig aus und ist doch nur stilvolles Gelump, mit Wohnungen, eng wie Häftlings-Zellen.[71] Ist das Fenster wirklich zu? Ich spüre immer noch einen leichten Luftzug. Geh' mir, die Isar ist doch ein rechtes Zugloch. Ich pfeife auf die ganze Wasser-Poesie, wenn man nichts als Schnupfen und Rheumatismus und Ärger davon hat. Ist das Fenster wirklich dicht geschlossen? Brigitta? Antworte, Hausmütterchen! Träumst Du denn schon wieder? Vom nächsten Umzug vielleicht und unserem Zukunftspalast? Sei ohne Sorge, das kommt nicht über Nacht und an der Isar bleiben wir doch immer – gibt ja in der ganzen Welt nichts Schöneres als unsere frische, grüne, wilde Isar zwischen – sagen wir einmal: Großhesselohe und Brunnthal. Na, Hausmütterchen?«

Die alte Wirtschafterin hatte inzwischen ein ganz anderes Gedankenfädchen weiter gesponnen und von den abgerissen gesprochenen Sätzen Max v. Drillingers nichts als den musikalischen Klang einer nervösen Bariton-Stimme vernommen. Indem sie mit den magern, blutleeren, vom Alter und von der Gicht gekrümmten Fingern die weiße, dünne Haarlocke, welche der Morgenwind unter dem schwarzen Wollhäubchen hervorgezaust hatte, zurückstrich, tappte sie nach dem ledernen Lehnstuhl und ließ sich auf dem alten, durch ein aufgelegtes[72] Federkissen verbesserten Sitz nieder. Dann sprach sie, ohne Übergang und Anrede, halblaut vor sich hin:

»Es ist komisch mit der Luft. Wenn ich so am Morgen einen Mund voll am offenen Fenster einschnaufe, erinnert sie mich immer an etwas. Ja, es ist wahr, es liegt etwas in der Luft. Sie ist gewiß nicht bloß zum Schnaufen da. Und sie ist oft so anders. Heute ist sie gerade so wie damals, als Ihr Herr Bruder abgereist ist nach Amerika. Sie riecht so, und kitzelt so. Man wird so unruhig davon, ganz ängstlich. Es geht auch wieder der nämliche Wind. Das seh' ich an der großen Wetterfahne da drüben über der Isar auf dem Steigerturm der Feuerwehr. Die ist gerade so gestanden, als Ihr Herr Bruder in dieser Stube heimlich Abschied von mir genommen hat. Damals waren wir kaum hier eingezogen. Ach Gott, es hat schlimm angefangen im neuen Haus – – Jetzt ist draußen wohl alles verwüstet, das Häuschen mit seiner Holzaltane und den Epheuranken, und der Garten. – Eine Fabrik haben sie hingebaut? Etwas so Garstiges. Und uns haben sie verjagt, und die vielen Vögel, die werden von selbst davon sein – und die wilden Tauben mögen den Rauch und[73] Dampf auch nicht. Der schöne Duft im Garten – –«

»Ja, Du hast noch eine ausgezeichnete Nase und vortreffliche Augen, Brigitta,« bemerkte Max v. Drillinger. Er stand vor dem Pfeilerspiegel; die eine Hälfte des Gesichts noch dicht mit weißem Seifenschaum bedeckt, hantierte er jetzt mit dem Rasiermesser an einer schwierigen Stelle der linken Wange. Er drückte das linke Auge zu und zog, die halbe Unterlippe schief nach rechts. Das Licht war heute selbst in der Wohnstube, wohin er seit dem Winter der besseren Beleuchtung wegen einen Teil seiner Toilette-Besorgung verlegt hatte, wirklich recht unzulänglich. So große Mühe hatte ihm das leidige Rasieren schon lange nicht mehr verursacht. Aber er konnte sich nicht entschließen, in seinem Gesicht eine fremde, von Schweiß und Seife duftende Hand herumfahren zu lassen. Das wäre ihm zu ekelhaft.

»Für mein hohes Alter freilich,« fiel Brigitta langsam ein. »Aber ich spüre doch, wie's mit den Kräften abwärts geht.«

Drillinger machte noch eine Grimasse, dann setzte er das Messer ab, um das Schabicht von der feinen Klinge abzustreifen und diese wiederholt auf dem Streichriemen zu schärfen. Dabei[74] wandte er den Kopf gegen Brigitta und bemerkte lächelnd: »Geh' Du mir doch mit Deinem Alter. Siebzig Jahre – die schönste Jugend! Die ganze Weltgeschichte wird heute von lauter so jungen Leuten in Deinem Alter gemacht: der Kaiser, der Papst, der Bismarck, der Moltke, der Grévy in Paris, der Gladstone in London – das sind ja lauter historische Wunderkinder zwischen siebzig und hundert Jahren. Wer unter fünfzig oder sechzig ist, der ist ein Grünschnabel, der in der Weltgeschichte gar nichts mitzureden hat. Und den Windthorst nicht zu vergessen – was macht der noch für jünglinghaften Spektakel in der großen und kleinen Politik! Und Dein Liebling Döllinger! Und Du sprichst von der Abnahme der Kräfte mit Siebzig – heute, wo die Greisenhaftigkeit das Monopol hat, so kräftiglich die Welt zu regieren! Brigitta, versündige Dich nicht an Deinen Zeitgenossen! Ich habe mir auch einen runden Hunderter vorgenommen. Kein einigermaßen anständiger und gebildeter Mensch thut's mehr unter hundert. Es ist taktlos, früher die Platte zu putzen. Erst der steinalte Mensch ist der wahre, der moderne und zeitgemäße Mensch. Methusalem – das ist das hohe Vorbild, dem wir nacheifern müssen. Dann blüht vielleicht[75] auch uns noch die Möglichkeit, es zu etwas zu bringen. Hörst Du?«

Aber diese halb spaßhafte, halb ironisch ärgerliche Rede war für die gute Alte doch zu lang. Ihr siebzigjähriges Fassungsvermögen mochte so ausgedehnten Vorträgen nicht mehr folgen. Besonders heute nicht. Sie spann daher ihr abgerissenes Fädchen wieder an:

»Auch vom Südbahnhof herüber der nämliche Pfiff. Das ist ein Zeichen, daß das Wetter umschlägt.«

»Paperlapap, das ist ein Zeichen, daß der Kufsteiner Schnellzug hereingefahren ist, unfehlbare Wetterprophetin! Vielleicht bringt er Nachrichten von unserem Italia-Bummler, dem groben Architekten. Seit seiner kurzen Neujahrsepistel hat er nichts mehr von sich hören lassen. Vielleicht fängt er schon an über neue Bekanntschaften die alten zu vergessen. Die Menschen sind einmal so. Man muß sich auf alles gefaßt machen, besonders bei einem Weltläufer von verrücktem Künstler. Hast Du's nicht über die Isarbrücke stampfen und schnauben hören, das sogenannte Dampfroß?«

»Schon, schon. Ich meine doch, es müsse von dem Architekten ein Brief unterwegs sein.«[76]

Brigitta war wieder an die Scheiben getreten und hob ihr rührend edles, wenn auch verrunzeltes Gesichtchen mit der feinen dünnen Nase zum grauen Frühlingshimmel empor. Die matten Augen zwinkerten.

»Es ist halt kein Frühling mehr wie in meinen jungen Jahren. Die ganze Natur ist nimmer froh. Da war alles so voll Sonnenschein und Wärme und Blumen und hellen Kleidern, und die Füße waren so leicht, und die Wolken schwebten viel heiterer. Heute ist der Himmel gar so schwer und dunkel. Sehen Sie nur, wie die schwarzen Wolken sich in das Thal hereinschieben. Man meint, das Isarwasser fließe heute noch schneller, um den drückenden Wolken zu entkommen. Es ist, als wollt' es Reißaus nehmen ...«

»Ja, Du magst Recht haben, gute Alte,« bemerkte Drillinger ebenso zerstreut wie liebreich, indem er, den linken Arm hoch erhoben, mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenspitze faßte und nach links zog, um die rechte Wangenfläche glatt unter das Messer zu bekommen. »Geh' mir ein wenig aus dem Licht, Brigitta, ja? Es wird ja ganz dunkel.«

»Jesus Maria, ein Blitz!« rief die Alte und[77] fuhr sich mit der Hand ins Gesicht, mechanisch das Zeichen des heiligen Kreuzes machend.

»Und ein tüchtiger Schnitt gerade unter'm Ohrläppchen, zum Donnerwetter!« fuhr Drillinger auf. Er legte das Messer weg und griff nach dem Schwämmchen, das Blut zu stillen. Eine Perlenreihe roter Tröpfchen zog sich schon den Hals hinab.

Die Alte war in den Lehnstuhl gesunken. Sie schloß die Augen und bewegte lautlos die Lippen wie im stummen Gebet. Draußen rumorte der Donner und übertönte mit seinem Krachen und Rollen das Rauschen des Flusses. In die Intervalle des Donners fielen die hohen Uferweidenbäume mit mächtigem Sausen und Brausen ein, und pfeifend warfen wuchtige Windstöße den klatschenden Regen gegen die Scheiben. Im Nu war die ganze zweifenstrige Stube in Dämmer gehüllt.

»Da hast Du die Neuigkeit: das erste Frühlingsgewitter – Deine juckende Nase hat's richtig erraten!« Drillinger schob das flüchtig gereinigte Rasierzeug beiseite, schlüpfte in seinen roten Schlafrock und warf einen raschen Blick durchs Fenster auf das Aufruhrschauspiel der Elemente. Dann wusch er sich noch das Gesicht, stäubte[78] etwas Puder auf und trat zu der Wirtschafterin, die wie entschlafen im Lehnstuhle hockte, das Haupt gegen die Schulter geneigt.

»So, Wetterhexe, das hast Du wieder brav gemacht mit dem überraschenden Donnerwetter,« scherzte Drillinger und strich der Alten das Kinn.

»Ist's vorüber?« – Brigitta hob ein wenig, den Kopf.

»Ei, das war ein kurzer Schreck; sieh nur, wie die Sonne jetzt durch die zerfetzten Wolken zu uns hereinlacht! Und die Isar rauscht wieder ganz gemütlich, als ob sie der Spaß gar nichts angegangen wäre. Komm, Brigitta, Dein Tyrann hat Hunger bekommen von all' der Aufregung. Ein Gabelfrühstück wär' jetzt sehr schön!«

Aber Brigitta blieb fest sitzen. Sie richtete aus den halbgeschlossenen Augen plötzlich ihren Blick wie forschend auf sein lächelndes Gesicht. Wie im Verfolge unausgesprochener Gedanken sagte sie dann: »Und so wird der Mensch von schweren Wettern heimgesucht und seine Ahnungen bestätigen sich. Man weiß niemals, woher es kommt und wohin es geht. Aber Gott spricht durch Ahnungen.«

»Was, Ahnungen! Es ist ja alles vorbei[79] und die goldne Frühlingssonne lacht vom Himmel. Mir ist jetzt ganz warm und wohl geworden. Der Donner hat meine Nervosität fortgeorgelt. Hungrig bin ich, Brigitta, nur hungrig!« Und Drillinger wiegte seine leichte, zierliche Gestalt, die keine Spur von Münchener Bierverschlammung zeigte, auf den Zehen, die Hände in die Hüften gestützt. Man merkte die Gewöhnung eleganter, ritterlicher Körperbeherrschung des ehemaligen Offiziers, trotz der vierzig Jahre. Die Augen glänzten freundlich, wenn auch leicht verschleiert, in ihrem lichten Braun; der von einem nicht sehr starken dunklen Schnurrbart überschattete Mund, in dessen Winkelspiel sich zuweilen eine interessante Mischung von Widerwillen, schmerzlicher Empfindung und genußlüsterner Erregung auszudrücken pflegte, hatte jene feine jugendliche Schwellung der Linien, als ob über die Lippen niemals ein schneidiger Kommandoruf, sondern stets nur ergötzliches Geplauder und verliebtes Gekose geflossen wäre. »Ein süßer, phantastischer Dichtermund« hatte ihn einst eine Kennerin definirt. Nur von der wenig gewölbten, fast steil ansteigenden, nicht mehr ganz, glatten Stirn schwebte ein Schatten hernieder, der dem offenen, geistvollen Gesichte einen Anflug von Melancholie verlieh.[80]

Unbeweglich verharrte Brigitta in ihrem Lehnstuhl. Die verschlafene weiße Angorakatze Franzi war lautlos vom Sopha gesprungen, hatte sich den hochgezogenen Rücken wollüstig an den Waden Drillingers gerieben und reckte sich jetzt auf den Hinterbeinen am Lehnstuhl empor. Die Alte legte der Schmeichlerin die welke Hand auf den Kopf, eine bescheidene Liebkosung, welche das Thier gewohnheitsmäßig als Einladung betrachtete, unter der Armlehne hinweg der Alten in den Schooß zu schlüpfen.

Draußen rauschte die Isar und die goldene Sonne sprühte übermütigen Lenzes-Glanz, während in Drillingers neuer Junggesellenklause in der Auenstraße eine fast beklemmende Stille herrschte und von dem stummen, bleichen Bilde der greisen Brigitta, die vorhin noch so erinnerungssüchtig schwatzte, es wie lebenerstickendes Grabeswehen durch die schweigende Stube schauerte.

Da schrie Drillinger angstvoll auf: »Gute Brigitta, sprich doch, ist Dir was? Du machst einem ordentlich bange!«

Und ohne eine Entgegnung abzuwarten, stürzte er ans Fenster, riß mit den Worten »Luft, Luft!« beide Flügel auf, nahm vom Toilettentisch ein Riechfläschchen und bespritzte mit dem starken[81] Duftwasser seiner Wirtschafterin Stirn und Schläfe und rieb ihr kräftig die Hände und den Puls. Mit einem Satz flog Franzi auf den Boden, und Brigitta öffnete langsam und mit erstauntem Blicke die Augen, als käme ihr Geist aus einer fernen, fernen Welt. Drillinger drückte seinen Kopf zärtlich an ihr Gesicht und behorchte dann die aussetzenden, kraftlosen Schläge des Herzens.

»Es kann ja nicht sein, nicht wahr, gute, treue Brigitta?« flüsterte er.

»Ach, das war wohl ein Anfall – eine Ohnmacht?« Und ein flüchtiges Lächeln bewegte ihre schlaffen Züge. »Wie das so schnell über einen kommt! – Aber es war diesmal nicht schmerzlich – es that nicht weh – ich hörte eine süße, berauschende Musik – und Bilder sah ich, zuerst deutlich, dann verschwommen – und Musik und Bilder gingen in eins – dann war ich wohl tot? Und Sie haben mich wieder aufgeweckt?«

»Geh, geh, treue Brigitta, ein garstiger, plötzlicher Traum am hellen Tage war's; aber erschreckt hast Du mich doch. Das darfst Du mir nicht wieder thun, hörst Du?« Und er streichelte ihr die Wangen und küßte sie auf die Stirn: »Hausmütterchen, Du weißt, ich bin kein sentimentaler Einfaltspinsel, aber diesmal ist mir's[82] ans Herz gegangen, und das Weinen ist mir jetzt noch näher als das Lachen. Solche Scherze darfst nicht wieder machen! Hörst Du, wie die Isar zu Dir herauf rauscht? Das war Deine Traum-Musik. Siehst Du, wie die Sonnenstrahlen zu Dir hereintanzen? Das waren Deine Traumbilder. Und nun komm', jetzt will ich, der Herr, Dein Diener sein, und ich, der Hungrige, will Dich speisen, damit Du rasch wieder zu Kräften kommst. Bist Du's zufrieden?«

Brigitta nickte unbestimmt mit dem müden Kopfe. Sie wußte selbst noch nicht recht, was sie zu so viel gütiger Aufmerksamkeit sagen sollte, obwohl sie das liebreiche Herz ihres Herrn kannte. Warum er denn nicht das Dienstmädchen, die Resl, hereinrufe?

»Die schlendert noch auf dem Marktweg herum, oder gafft irgendwo oder schwatzt sich einen Kropf. Auf diese Mädels ist ja kein Verlaß.«

Drillinger war an die Thür geeilt, welche auf den Hausgang und in die Küche führte. Den Drücker in der Hand, wandte er sich noch einmal um: »Nicht wahr, Brigitta, es war nur blinder Lärm? Ich brauche keinen Arzt zu holen? Du wirst sehen, meine Kochkunst bringt's auch fertig. Nun will ich 'mal mit dem Kochlöffel die dumme[83] Ohnmacht in die Flucht schlagen. Ich hab's in meiner Karriere bloß bis zum Hauptmann gebracht, aber kochen kann ich wie ein General, wenn's sein muß. Du hast einen leeren Magen, das war's. Die elende Kaffeebrühe ...«

Die Alte mußte lächeln über die Wärter-Geschäftigkeit ihres Herrn Hauptmanns. Sie winkte ab.

– Nicht doch! Am Essen lag's nicht. Die Nacht war schon so eigentümlich gewesen. Böse Träume. Ihre Schwester, die verrückte Magdalena, hatte ihr zugesetzt. Die verschollene Afra war auch wieder aufgetaucht und schnitt teuflische Grimassen. Dann war der amerikanische Bruder des Herrn dazu gekommen, mit einem Strick um den Hals; an das eine Ende band er die Magdalena, an das andere knüpfte er die langen schwarzen Zöpfe der Afra, und dann tanzten sie alle drei wie wahnsinnig, bis ihm schließlich die zwei Frauzimmer den Hals zuzogen und ihn elend erdrosselten. Es war eine fürchterliche Hetzjagd im Halbschlummer. Und von der Isar krachte es herauf, als wäre es ein Wasserfall, der geradenwegs vom Himmel stürzt und auf die Straße schlägt und vom Pflaster wieder aufklatscht und die ungeheure Wassermenge zurück an die Himmelsdecke[84] wirft, als ob geplatzte Wolken wie Riesengummibälle zwischen Himmel und Erde mit mörderischem Geplatsch hin und her hüpften. Und der amerikanische Bruder des Herrn, der »rote Ludwig«, kam in diese tosende Wassermenge auch wieder hinein, mit den beiden Schwestern, in Form langer, schlapper Schläuche zu einem häßlichen Knoten verknüpft, an welchem man die drei Gesichter deutlich unterscheiden konnte – nur waren sie schauderhaft verzerrt, entstellt, grinsend wie Totenköpfe – – O, es war schrecklich. Erst gegen Morgen verschwanden allmählich die Phantome und es stellte sich ein kurzer, ruhiger Schlaf ein.

»Und von all' den Greuelgeschichten hast Du mir bis jetzt keine Silbe gemeldet?«

– Freilich nicht. Brigitta wollte selbst nicht mehr daran denken; sie wollte die Erinnerung gewaltsam niederdrücken. Drum war sie die ganze Frühe her so unruhig, so zerstreut. Besonders den Bruder des Herrn brachte sie nicht aus dem Sinn.

»Laß den roten Ludwig; Du weißt, wie peinlich es mir ist, ihn nur nennen zu hören.«

– Natürlich wußte sie das; aber sie konnte es doch nicht überwinden. Sie mußte vorhin wie[85] zufällig seiner gedenken und merkte es wohl, wie der Herr Baron dabei die Miene verzog. O, er hat nicht bloß des bequemeren Rasierens wegen ein krummes Gesicht gemacht. Brigitta kennt dafür ihren Herrn zu gut.

Drillinger war von der Thür wieder zurückgegangen, hatte einen Stuhl herangeschoben und sich kopfschüttelnd neben Brigitta gesetzt. Er faßte ihre Hand, hielt und rieb sie zwischen seinen beiden Händen und lauschte auf ihre mit schwacher Stimme zusammenhanglos hervorgestoßene Erzählung mit gepreßtem Herzen wie ein Kind, dem ein grausiges Ammen-Märchen erzählt wird. Die verrückte Magdalena, die verschollene Afra, der rote Ludwig! – – – Vor den dunklen Abgründen des Lebens schauert der Stärkste zusammen, und der schweifende Geist hält geduldig an, wenn alte, bebende Lippen, die viel Gift und Weisheit geschlürft in einem langen, prüfungsreichen Dasein, mit gebrochener Stimme an die Rätsel des Schicksals rühren.

»Ich weiß alles,« warf Max v. Drillinger dazwischen, »und ich weiß nichts. Wissen macht Herzweh, gute Brigitta.«

– Wer ergründet, was die Isar rauscht? Wer findet die Noten zu ihrem ewig wechselnden[86] und ewig gleichen Wellenlied, und wer setzt den Text unter diese Noten? Alles ist Geheimnis. Wer vermöchte auch sonst das Leben auszuhalten?

»Hör' auf, Brigitta, Du ermüdest Dich zu sehr. Nach der qualvollen Nacht laß Dir einen stillen, milden Tag beschieden sein. Ich will den Vorhang niederlassen. Im Dunkeln wirst Dich wohler fühlen.«

– Einen Schluck Wein? Warum man doch in solchen Fällen nicht immer gleich an das Nächste und Beste denkt! Auf dem Kredenztisch steht noch eine volle Flasche neben einer angebrochenen von gestern Abend, ganz passabler Bordeaux. Natürlich darf man's mit der Echtheit der Marke nicht so genau nehmen. Daran liegt aber nichts; ist's nur unverfälschter Traubensaft, so mag die Rebe in Spanien oder Italien oder sonstwo gewachsen sein. Und die alte Brigitta weiß einen guten Tropfen zu schätzen. Sie macht sich aus dem Bier nicht übermäßig viel; nur im Hochsommer, wenn's recht heiß ist, da ist eine frische Halbe, oder auch eine Maß, ein rechtes Labsal. Jetzt geht eben ein schräger Strahl durch's Zimmer und trifft die Flasche. Sonnengrüße! Wie das feurig funkelt! Rasch den Pfropfen heraus![87]

»Zur Gesundheit, Brigitta! Noch einen Schluck?«

»Danke, das thut wirklich gut!«

– Aber nein, das Zimmer nicht verdunkeln, die freundliche Helle verscheucht eher die bösen Gedanken und Einbildungen und Ahnungen. Und wenn heute Herr v. Drillinger die Alte nur nicht so lang allein lassen wollte. Mit dem dummen Mädchen ist nichts zu reden; was macht sich auch so eine Gans aus einer alten gebrechlichen Frau! Jedoch Herr v. Drillinger – ei, der versteht das Plaudern, der ist nachsichtig und gütig und weiß, was einer alten Frau wohl thut.

»Auch was einer Jungen wohl thut Brigitta!« warf Max v. Drillinger unbedacht scherzend dazwischen und lachte und reichte der braven Wirtschafterin, die sich wieder sichtlich erholt hatte, noch ein Glas Bordeaux, schänkte sich auch eins ein und stieß mit ihr an: »Prosit, den Alten und den Jungen!«

»Ja, Sie haben gut lachen – ich weiß doch, was ich weiß. Stellen Sie sich nur nicht so leichtfertig!«

»Und was weißt Du denn, Brigitta?«

»Daß Ihnen nicht so wohl um's Herz ist, als Sie sich den Anschein geben. Sie haben zu[88] lange mit den Weibern getändelt. Wie oft habe ich Sie gewarnt. Und es ist immer schlimmer geworden. Ihr Ruf hat darunter gelitten, man traut Ihnen alles zu. Ich weiß, daß man Ihnen vielfach Unrecht thut. Manche gute Gelegenheit, in ein braves, glückliches Verhältnis zu kommen, haben Sie mutwillig verscherzt. Wie sicher könnten Sie heute dastehen, wenn ... Doch, guter Gott, das ist ja alles vorbei ... Jetzt wird Ihnen der Entschluß so schwer, sich für eine zu entscheiden.«

»Ich traue keiner. Und habe auch gar nicht nötig, einer zu trauen. Wozu?«

»Das ist ja das Unglück. Und doch müssen Sie heiraten.«

»Muß ich? Jede Ehe ist ein Verhängnis, ein Schicksal, besinne Dich! Muß ich wirklich?«

»Ja, Sie müssen,« antwortete Brigitta bestimmt und mit merkwürdig fester Stimme, und ihre Augen leuchteten seltsam auf in jähem Glanz. »Ich habe es Ihrer seligen Frau Mutter in der letzten schweren Stunde versprechen müssen, daß ich ihren Lieblingssohn, auf den sie so große Stücke gehalten, nicht eher verlasse, als bis Sie an der Seite einer rechtschaffenen Frau Glück und Ruhe gefunden und einen Hausstand begründet.«[89]

»Ja, willst Du mich denn verlassen, Brigitta? Du denkst doch nicht daran? Ich bin Dir ja auch die große Abrechnung noch schuldig!«

»Gewiß denk' ich daran.«

»Geh', Du phantasierst! Der Wein hat Dich in Fabulierlaune gebracht.«

»Ich stehe auf dem Sprung, ich verlasse Sie.«

Brigitta hatte bei diesen Worten die Hände gefaltet und sich im Sessel aufgerichtet, als wäre eine geheime Kraft über sie gekommen.

»Du redest irr!« sagte Drillinger mit vibrierender Stimme und sein Blick flimmerte in scheuer Erregung.

»Ich habe Ihnen noch nicht alles erzählt, was heute Nacht sich zugetragen. Eine hohe dürre Gestalt, in einen grauen Mantel gehüllt, ist an meinem Bett erschienen und hat mich lange betrachtet. Ich wollte aufschreien, aber der Schreck hatte mich gelähmt. Dann strich die Gestalt mit der Hand vom Kopfende des Bettes bis ans Fußende am Rande hin. Eine Kälte, die mir durch Mark und Bein fuhr, daß meine Zähne klapperten, ging von dieser Hand aus, wie ich's noch nie erlebt. Ich konnte immer noch nicht reden – aber fragend riß ich meine Augen auf, daß ich ordentlich ein Krachen an den Schläfen spürte. Da[90] nickte die Gestalt fast traurig mit dem Kopf und sprach – ich vernahm keinen Ton und doch hörten meine Ohren deutlich jedes Wort: ›Brigitta, ich habe das Maß zu Deinem Sarg genommen; ich bin der Tod.‹ Dann war die Erscheinung verschwunden. Eine Weile sah und hörte ich gar nichts. Es war, als läge ich schon im tiefsten Grab. Plötzlich höre ich leise die Isar rauschen: ›Ich bin der Tod, ich bin der Tod ...‹«

Stumm schloß Drillinger das alte zitternde Weib in seine Arme.

Nach einer Weile fragte er: »Und warum hast Du mich nicht aufgeweckt? Es geht doch ein Klingelzug von Deinem Zimmer ins meine?«

»Weil Sie noch nicht zu Hause waren. Sie sind jedenfalls wieder bei jener Frau gewesen – – und hatten sich verspätet.«

Es entstand eine neue Pause.

Drillinger hatte die Alte sanft in den Lehnstuhl zurückgedrückt. Er ging unruhig in der Stube auf und ab. Seine Stirn runzelte sich; er fuhr wiederholt mit der Hand darüber, als wollte er die Falten glätten und unbequeme Gedanken verwischen.

Endlich platzte er unmutsvoll heraus – seine[91] Stimme klang merklich heiser: »Ist denn heute der reine Gespenstertag? Wie viel dummes Zeug habe ich nun diesen Morgen schon von Dir hören müssen! Es ist wirklich ärgerlich. Ihr Weiber könnt einem auch gar nichts ersparen. Und dann immer diese Umständlichkeit! Alles wird so nach und nach herausgedrückt, tropfenweise – damit einem der Genuß des Unangenehmen ja nicht verkürzt wird. Ich bin gewiß ein guter Kerl, aber heute, Brigitta, hast Du mir den Humor gründlich verdorben. Hättest Du beim Aufstehen gleich alles herausgesagt, was Dir in dieser Nacht Tolles durch den schlaflosen Kopf gefahren, dann wären wir jetzt längst darüber hinweg. Aber so ...«

Er grollte noch eine Weile leise in sich hinein. Träume – Ahnungen! Mein Gott, ja, dergleichen kann freilich sehr unangenehm und beängstigend sein: aber welcher vernünftige Mensch wird etwas darauf geben? Eine schlechte Lage, ein verstimmter Magen – richtig: Brigitta hatte gestern gewiß etwas Unverdauliches genossen. Und ein mißhandelter Bauch rächt sich durch allerhand böse Träume und Gemütsbeklemmungen. Was im Unterstübchen gesündigt wird, dafür muß man gewöhnlich im Oberstübchen büßen. Das ist trivial, aber es ist einmal so. Und Drillinger mußte[92] plötzlich laut auflachen, daß er selbst auch nur eine Minute solche Schlafstuben-Geschichten einer zwar lieben, aber gebrechlichen und abergläubischen Wirtschafterin tragisch nehmen und zersetzend auf seine gute Laune wirken lassen konnte. Er hatte wahrlich auch keine übermäßig gute Nacht gehabt – in den Armen »jener Frau«. Es können's nun einmal nicht alle gleich gut haben. Was weiter? Und die Alte hatte die Marotte, vom Hundertsten ins Tausendste zu fahren und alles durcheinander zu wursteln und in den nämlichen geheimnisvollen Ahnungs- und Schicksals-Darm zu stopfen. »Jene Frau!« Wußte er nicht selbst recht gut, daß es mit dieser Liaison bald ein Ende haben müsse? Daß es im Grunde ein dummes, unmoralisches Verhältnis war? War es sein erstes – oder auch nur einziges? Und im Vergleich zu anderen! – Aber sind unmoralische Skrupeln in solchen Fällen nicht überhaupt lächerlich? Bis hinauf zu den höchsten Sittenwächtern kommen solche Dinge vor. Man thut so etwas, wenn das Blut dazu treibt und läßt's bleiben, wenn der Sinn sich ändert. Man kommt dazu und weiß nicht wie. Alles ist Zufall. Dergleichen Dinge zu sittlichen Haupt- und Staatsaktionen aufzubauschen, ist doch gewiß abgeschmackt. Die[93] Dummheit solcher Beziehungen ist eigentlich schlimmer, als deren Unsittlichkeit ...

»Ach, gute Brigitta, Kleinod des Drillingerschen Hauses, thu' mir zu den tausend Gefälligkeiten, die Du mir von Kindesbeinen an erwiesen hast, noch die einzige, außerordentliche –: rück' mir jene Frau nicht mehr vor. Willst Du? Die Geschichte wäre wahrscheinlich längst im Sand verlaufen, wie so manche andere, wenn Du nicht so hartnäckig einen raschen Schnitt empfohlen hättest. Jene Frau hat neben allerlei andern Qualitäten den Teufel im Leibe – und ich habe Teufelsaustreibungen satt, glaube mir. Ich sehne mich selbst nach edleren Befriedigungen. Solche Dinge lassen sich aber nicht im Handumdrehen machen.«

»Die Sünde frißt das Glück. Es gibt keine Befriedigung im Unrecht.«

Drillinger stutzte. Wahrlich, das war wieder jener unerbittliche Geist der einstigen jugendlichen Erzieherin, deren hohe Sittenstrenge sprichwörtlich war in der Drillingerschen Familie, welcher jetzt aus der greisen Wirtschafterin redete.

Brigitta schwieg aufs neue. Ihr Antlitz nahm einen sehr gramvollen Ausdruck an, allein Drillinger achtete im eigenen plötzlichen Gefühlsaufruhr[94] nicht darauf. Auf- und abgehend zwischen Thür und Fenster, sprach er weiter: »Ich bin leider kein Mensch aus ganz hartem, deutschem Eichenholz. Meine Eltern mögen's verantworten, wie ich gewachsen bin und welche Säfte meine Art bestimmten. Aber wie ich bin, bin ich kein Mann der Gewaltsamkeiten. Man muß mir Zeit lassen – auch zur Tugend, wie Du sie verstehst. Ich habe schon schwer genug an meiner Eigenart zu leiden gehabt. Denke nur an den Jammer meiner Karriere und meiner späteren freien Existenz! – Bei dem Abstreifen des Militärrocks ist auch ein gutes Stück Haut mitgegangen. Aber ich habe doch gezeigt, daß ich auch ohne die bunte Jacke leben kann. O, ich habe den Stoß gespürt und mir nie einreden lassen, daß meine angebliche Invalidität meine Entfernung aus dem Dienst allein bewirkt habe! Und wie sie mich dann gnädigst berücksichtigen und in einem Ämtchen unterducken wollten – die menschenfreundlichen Feinde, die gütigen Zivilversorger! Weißt Du das noch alles? Du solltest mich endlich durch und durch kennen. Und weil ich mich kenne, sage ich Dir: Brigitta, sei ohne Sorge, gräme Dich nicht um meinetwillen, ich will alles allein durchfechten. Wie habe ich schon gerungen, um Ordnung[95] und ruhigen Gang in mein Leben zu bringen! Mehr als Du glaubst. Aber ich habe vielleicht kein Talent zum Glücklichwerden ... Wozu habe ich überhaupt noch Talent?!«

»Morgen ist Ihr vierzigster Geburtstag.«

»Da wirst Du mir gratulieren und mir einen Strauß von schüchternen Märzenveilchen überreichen, vielleicht auch etwas vom Schwabenalter deklamieren – und ich werde Dich herzlich auslachen. Das heißt – im Ernst, ist morgen schon mein Vierzigster? Diesmal habe ich wirklich nicht daran gedacht. Ja, ja, um die Sturmzeit der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche war's – o, die selige Mutter hat mir's oft erzählt, wie entsetzlich weh ich ihr mit meinem Einzug in die Welt gethan – Mutterglück! wie teuer muß es erkauft werden – Brigitta, danke Gott, daß Du ein altes Jüngferchen geblieben! Also morgen mein Vierzigster. Hm. – Eigentlich ist mir das überraschend.«

»Und am Einundvierzigsten werde ich nicht mehr bei Ihnen sein.«

»Das wollen wir in Gottes Namen abwarten.«

»Sie sollten meinem alten Herzen die Erfüllung einer heiligen Pflicht nicht so schwer[96] machen. Ich will Ihnen keine Strafpredigt halten und nichts Vergangenes mehr vorrücken. Nur möchte ich ...«

Die Alte hielt inne.

Drillinger war an den Spiegel getreten. Ängstlich musterte er seine braunen Haare. »Kein Zweifel, die weißen Fäden fangen bedenklich zu wuchern an.« Plötzlich einen etwas erzwungen humoristischen Ton anschlagend: »Übrigens hat meine Zukünftige, die Du für mich jedenfalls schon in petto hast, nicht zu befürchten, daß sie bald eine widerwärtige Junggesellenglatze mit zärtlichen ehefräulichen Händen streicheln müsse. Das Wachstum ist noch gut. Und wenn ich mich jetzt wirklich an der Schwelle des Schwabenalters entschlösse, noch die Pomade der Tugend aufzustreichen und etwas Glorienschein der Enthaltsamkeit drunter zu mischen, so würde das einen ganz superben Kopf geben, nicht wahr? Bist Du aber auch ganz sicher, Brigitta meines jungen und meines alten Herzens, daß morgen mein Vierzigster ist?«

»Ach, wie Sie heute so leichtsinnig scherzen mögen!«

»Strafpredigten sind gegen die Verabredung, gib Acht!« Und er reichte ihr die Hand mit[97] herzlichem Drucke. »Bin neugierig, was uns morgen Deine Isar zu meinem Vierzigsten vorrauscht. Wird sie keifen, wird sie schelten?«

Das Dienstmädchen öffnete leise die Thür, steckte ihr breites, häßliches Kartoffelgesicht durch die Spalte und reichte einen Pack Zeitungen und Briefe herein.

»Die Post für den gnädigen Herrn.«

Die Thür schloß sich wieder. Aber noch eine Weile blieb das breite Kartoffelgesicht lauschend und spähend am Schlüsselloch.

Drillinger musterte die einzelnen Briefe. Es war richtig schon wieder einer darunter, der sich durch sein Parfum als von »jener Frau« herrührend verriet. Er glitt unbemerkt in die Rocktasche. Da ein anderer, der besondere Aufmerksamkeit erregte – mit einem Totenkopf auf dem schwarzen Siegel.

»Von meinem guten Schmerzenreich Dr. Edgar Trostberg; weißt Du, dem Pessimisten. Was der nur wieder für Anliegen und Kümmernisse haben mag. Will er mich anpumpen? Da kommt er jetzt an den Unrechten.«

Nachdem er flüchtig gelesen: »Zu einem philosophischen Bummel lädt er mich auf morgen Abend ein. Köstlich! Ich soll ihm aus allen[98] Frühlingsblumen wieder Gift saugen helfen. An meinem Geburtstage! Das trifft sich gut. Nun soll er mich diesem bösen Vormittag zum Trotz einmal in der ganzen Pracht und Macht meines Optimismus kennen lernen.«

»Nichts aus Amerika? Nichts aus Italien?«

»Nein. Nichts.«

»Dieser Doktor Trostberg ist auch kein richtiger Umgang für Sie. So ein unzufriedener, unpraktischer Raisonneur ... Da ist kein sittlicher Ernst dahinter ...«

»O, ich bin ihm viel Anregung schuldig zu mancherlei philosophischen und sozialen Studien.«

»Und was ist dabei herausgekommen?«

Drillinger schüttelte den Kopf. »Erlaube, das verstehst Du nicht. Und nun, beste Brigitta, feierlicher Friedensschluß zur morgigen Lebenswende! Auf welchen Forderungen beharrst Du?«

»Daß Sie sich endlich ein braves Weib – und für den Hausstand wieder eine geregelte Beschäftigung suchen. Das Leben wird besser für Sie, wenn Sie einen neuen Pflichten- und Erwerbskreis haben. Nur als Offizier gelten Sie für invalid, nicht als Mensch. Und der Mensch ist das Höhere. Nicht der invalide Offizier, der invalide Mensch ist etwas Schreckliches.«[99]

»Top! Ich werde mein Möglichstes thun.«

»Ach, das haben Sie schon oft gesagt ... Und dann ... Und wegen dem Ludwig sollten Sie sich doch endlich an den König wenden, damit er wieder ins Vaterland zurück darf. Der arme Mensch verkommt in der Fremde ... In diesem rohen Amerika ...«

»Brigitta!! Heute kein Wort mehr von diesem Unglücksmenschen, diesem Deserteur ... Und an den König! Bist Du verrückt? Wie kann ich an den hohen Einsiedler kommen? Der sitzt auf seiner Alpenburg wie ein olympischer Gott, den keinerlei irdisches Leid rührt; denn er hat genug mit sich selbst zu thun. Die Götter müssen sich auch um ihre Existenz wehren – das ist der tragische Spaß der Weltgeschichte. Sehe jeder, wie er's treibe, und wer steht, daß er nicht falle!«

»Wenn wir ihm nicht helfen ...« Die Alte schwieg, fast erschreckt, als sie seine strenge Miene sah und seine Stimme rauh und heiser klang.

Aber nach einigen Sekunden lächelte Drillinger wieder, und seinen Schnurrbart streichend: »Dir zu Liebe will ich mir sogar einmal das Unerhörteste überlegen. Der Minister haßt mich zwar, ich weiß nicht warum, ich hab' dem guten Mann nie etwas gethan. Ist heute übrigens auch gar nicht nötig,[100] daß man etwas positiv Unrechtes thue, um nach oben in Mißkredit zu kommen. Es genügt schon, wenn man nicht in das allgemeine Horn tutet; man verlangt noch Uniformität der Gesinnung und des Gehabens, selbst wenn man die Uniform ausgezogen hat. Man haßt die eigenartigen Köpfe – und behandelt sie verächtlich. Meinetwegen. Vielleicht entdecke ich doch einen Mittelsmann. Erlaubt Dein Befinden, daß ich mich jetzt zurückziehe?«

Die Alte nickte und reichte ihm die Hand. »Danke.«

»Auf Wiedersehen zu Mittag. Laß inzwischen mein Täubchen für Dich braten und laß Dir's recht gut schmecken. Mir ist der Hunger vergangen. Im Notfall esse ich unterwegs einen Bissen. Hörst Du, wie frisch und fröhlich die Isar rauscht? Auf Wiedersehen! Ich bin bald wieder zurück, spätestens gegen Eins. Ich habe einige notwendige Gänge.«

Schmerzversunken, rührte sich die alte Brigitta lange nicht von der Stelle. Das Sonnenlicht fiel wärmend auf ihren greisen, müden Leib.

»Nein, nicht länger so hinbrüten,« dachte sie, als sie von draußen plötzlich die Stimme ihres Herrn vernahm, wie er, was allerdings[101] selten genug geschah, das Dienstmädchen ausschalt.

»Ich muß an die Wirtschaft. Wie der Psalmist sagt: Unser Leben währt siebzig Jahre und wenn es hoch kommt, sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen, ist es Mühe und Arbeit gewesen. Ja, eitel Mühe und Arbeit und Sorge ohn' Unterlaß.«

Als es aber draußen im Gang wieder stille geworden war und nichts als das eintönige Rauschen der Isar mit der lauen Frühlingsluft in die Stube drang, da rückte sich Brigitta das Kissen zurecht und wollte sich noch kurze Rast gönnen nach den bösen Stunden.

Sie legte den Kopf auf die Lehne zurück und erhob ihre Augen nach oben. »Ja, Herr Gott, wenn es Zeit ist, dann laß Deine Dienerin in Frieden fahren – sie vermag wenig mehr zu richten in dieser Welt.«

Dann schweiften ihre Augen an den Wänden. Dort hingen auf den dunkel gemusterten olivengrünen Tapeten eine Reihe von alten Kupferstichen in schwarzen Holzrahmen, Städtebilder, zur Erinnerung an liebe Orte, die einst im Leben der Drillingerschen Familie eine Rolle gespielt. Aus freundlicher Aufmerksamkeit für Brigitta[102] hatte ihr Herr auch einige schweizer Landschaften dazwischen gehängt, auch eine Abbildung der Stadt Basel, wo Brigitta bei entfernten Verwandten einen Teil ihrer Jugend verlebt und den guten Grund zu ihrer Erziehung und ihrer fast protestantisch strengen Lebensauffassung gelegt. Auf einer Schweizerreise war es auch gewesen, wo sich ihre ersten Beziehungen zur Drillingerschen Familie anknüpften. Herr Dr. Karl v. Drillinger, Professor in München, hatte eine Schulfreundin Brigittas kennen und lieben gelernt und später zu seinem ehelichen Weibe genommen. Die erste Wiederbegegnung Brigittas mit der Baronin v. Drillinger hatte erst stattgefunden, als Ludwig und Max bereits halbwüchsige Buben waren und ihr nachgeborenes Schwesterchen Amalie, dem ein früh entwickeltes Lungenleiden schon im achtzehnten Jahre den Tod brachte, die Aufnahme einer Erzieherin wünschenswert machte. So war Brigitta als Gouvernante und Stütze ihrer gleichfalls kränkelnden und den Beschwernissen des Ehelebens nicht gewachsenen Freundin Helene in das Drillingsche Haus gekommen. Wie lange war das alles her!

Und doch dieser Schattentanz der Erinnerung, als wäre es gestern erst geschehen![103]

Und auch von dem alten Familienhause in der Vorstadt ist kein Stein mehr auf dem andern ... Freilich, wie dankbar war damals Brigitta der Fügung, die sie in dieser Familie ein sicheres Asyl und eine festumgrenzte Lebensarbeit finden ließ! Und so fest schlug ihr Dasein hier Wurzeln und so gesegnet war ihr Wirken, daß nach Helenens Tod Herr Dr. Karl v. Drillinger der seitherigen treuen Stütze der Hausfrau die Hand zum ehelichen Bunde bot. Aber nach tiefer Gewissenserforschung mußte sie ablehnend antworten: es genüge ihr Rang und Pflicht der Wirtschafterin – – Im Grunde ihrer Seele war's freilich kein allzu schwerer Verzicht. Ihrer still ehrlichen Natur widerstrebte es, anders als in geräuschloser, nach außen unbeachteter und der gesellschaftlichen Kritik und Bosheit entrückter Weise diesem Hause zu dienen, nachdem über ihre eigene Familie Heimsuchung über Heimsuchung gekommen war.

Drillingers Haus war ihr jetzt ein Refugium geworden – und es wäre ihr als eine Entweihung erschienen, hätte sie's in ein weiches Nest der Liebe verwandelt. Als später der Sturm des Lebens ihre viel jüngere Schwester Afra erfaßt und in die Irrnis der Sünde gewirbelt, wo sie[104] verschollen seit einem sensationellen Skandalprozeß – und als gar die andere Schwester, die arme Magdalena, infolge eines geheimnisvollen, bis heute nicht entschleierten Verbrechens, welches ein namenloser Wüstling an ihr begangen, das Licht der Vernunft verlor: da segnete Brigitta ihren einstigen Entschluß des jungfräulichen Alleinbleibens in hingebender Arbeit für das Wohl anderer und dankte Gott, daß sie den bittersüßen Kelch begehrlicher Mannesliebe nicht getrunken. Das Haus Drillingers, im Garten, draußen in der einsamen Isargegend, war ihr damals wie ein wohlverwahrter Taubenschlag: da konnten keine Geier herein ...

Überkam es aber später ihr Herz doch manchmal wie ein Bedauern, dem Werben des Witwers, der wenige Jahre hernach ganz eigentümlich rasch und plötzlich aus dem Leben geschieden, sich so schroff verschlossen zu haben, so brauchte sie sich nur einen gewissen unbeschreiblichen, wie Höllenglut sengenden und verzehrenden Blick ins Gedächtnis zurückzurufen, mit dem Herr v. Drillinger sie einmal in der Dämmerstunde am Krankenbette seiner Frau angesehen. Nein, nein, nein! An seinem Liebesbegehr haftete zu viel sündhafte Lust und mörderisch Dämonisches ...[105]

O, jener verräterische Blick, der wie eine feurige Schlange ihren jungfräulichen Leib umzüngelte, während sein Weib nebenan mit den Schrecken des Todes rang! Wie viel rätselhaft Unheimliches barg doch auch diese Mannesbrust ...

Von ihrer unglücklichen Schwester bekam sie einmal, als die Fittiche der Schwermut und des Wahnsinns sich schon dicht über die Seele gelegt hatten und auch der Baron längst zu seiner Gattin ins Totenreich hinabgesunken war, die düstern Worte zugeraunt: »Trau' nicht, Brigitta! Keine, die in seiner Gewalt gewesen, hat je wieder gelacht; sie meidet die Menschen und wird gemieden; von ihrem Leben weiß sie nichts mehr und ein ewiger Schmerz zerfrißt ihr Erinnern.«

Ohne Vorwurf durfte die Greisin auf ihre Vergangenheit zurückblicken in lückenlosem Denken; sie hatte wie durch höhere Gnade ihr Einziges und Höchstes, das Glück und den Ruhm ihrer Reinheit, durch alle Anfechtungen des wechselreichen, heimtückischen Lebens bewahrt. Ja, das Leben ist voller Heimtücke, die Welt voll verderblicher Hintergründe ...

Als das Drillingersche Haus seines Hauptes beraubt war, führte Brigitta ganz allein mit einem alten Diener die Wirtschaft. Ludwig v. Drillinger[106] hatte nach Vollendung seiner Studien zunächst ein Lehramt an der polytechnischen Hochschule in München übernommen. Zwar ein herzensguter Mensch, war doch ein schweres Auskommen mit ihm, seiner radikalen Gesinnungen und seines jähen Charakters wegen. Er hatte den Lehrstand plötzlich satt, als er mit einem Vorgesetzten in wichtigen Fragen in Zwiespalt geraten war – und lief dem Wehrstande davon, als er eine Disziplinar-Untersuchung gegen sich im Werke sah. Waren das schreckliche Tage voller Aufregung! Max hatte als Artillerie-Offizier den großen Feldzug zwar mit Glück überstanden, allein seine frühe Außerdienstsetzung hatte ihn verbittert und in allerlei soziale Fährnisse gebracht. Die Ruhe war dahin ...

Jetzt weilte ihr Blick auf dem Bilde der Stadt Basel. Dort rauschte der grüne Rhein wie hier die grüne Isar. Da war sie einst mit Helene durch die alten Gassen gewandert. Plötzlich standen sie vor dem prächtigen Portal des altersgrauen Münsters. Sinnend verfolgten sie die Einzelheiten in dem reichen Bildhauerschmuck. Eine beinahe unscheinbare Figur in dem reichen Schnörkelwerk, die sie lange unbeachtet gelassen, hatte schließlich ihre Aufmerksamkeit aufs stärkste gefesselt. Sieh[107] nur, wie merkwürdig, – Brigitta stieß dabei die Freundin an – diese Gestalt: ein üppiges Weib mit schwellendem Busen, stolzem Nacken und schön gebildetem Haupte, aber der Rücken – o wie häßlich! – mit Schlangen, Nattern und Kröten behangen, mit Beulen und Geschwüren bedeckt. Eine Allegorie, bemerkte Helene. Gewiß, aber was bedeutet sie? Und Helene nach einigem Besinnen: Ich hab' davon gelesen – das ist Frau Welt, die mit all' ihrem Schönheitszauber ihre Häßlichkeit und Krankheit doch nicht zu verbergen vermag. Ein garstig Bild, das gewiß kein Glücklicher erfunden. Uns soll's nicht schrecken ...

Die kluge, mutige Helene!

Ja, Frau Welt, ein garstig Bild ... Helene sieht und hört schon lange nichts mehr davon ...

Langsam erhob sich die greise Träumerin und prüfte vorsichtig ihre Beine, ob sie nach dem langen Sitzen nicht noch schwächer geworden – und bedächtig setzte sie einen Fuß vor den andern und schlich zur Stube hinaus.

»Der gnädige Herr ist soeben ausgegangen,« meldete das Mädchen in der Küche, mit blutbefleckten Fingern eine Taube rupfend. »O, der war bös heute, der hat mich ausgezankt! Ich hätte die arme Taube geschunden, sagte er. Es ist doch[108] nicht meine Schuld, wenn das dumme Vieh mit zwei Stichen durch den Kopf noch nicht hin werden will? Sie flatterte noch, da hab' ich ihr den Kragen umgedreht ...«

Brigitta winkte der Schwätzerin ab. Wie sehr war ihr heute die blecherne, gemeine Stimme zuwider!

Aber das Klapperwerk Resl's ließ sich nicht so leicht stille stellen.

»Der gnädige Herr hat vorhin auch noch eine Depesche erhalten. Vielleicht war die nicht nach seinem Geschmack. Überhaupt ...«

»Was überhaupt?«

»Überhaupt, ich mein' nur so, man weiß oft gar nicht, wie man mit den vornehmen Herren daran ist. Die sind so wetterwendisch. Besonders aber der Herr Baron ...«

Jetzt unterbrach sie sich, warf die gerupfte Taube auf den Tisch, öffnete mit scharfem Schnitt den Bauch und griff mit den blutigen Fingern hinein, das Eingeweide herauszureißen. Dabei schwatzte sie fort: »Man weiß niemals, was der im Kopf hat. Da geht alles durcheinander. Einmal ist er so freundlich, daß man sich ordentlich scheniert, dann wieder ...«

Sie hielt das zerschlitzte Tier unter den Wasserhahn,[109] um es auszuspülen. »Dann wieder sieht er einen so zornig und mit so funkelnden Augen an, daß man sich vor ihm fürchtet.«

»Du hast ja die Taube nicht flammiert!«

»Jesses, ja, das hätt' ich jetzt schier vergessen. G'schwind abtrocknen und über die Spiritusflamme damit! So, jetzt sehen Sie, Fräulein, wie das fein wird; kein Härchen mehr dran. Ein wunderschönes Tier, so zart. Aber ich hab' auch zwanzig Pfennig mehr dafür zahlen müssen, sonst hätt' ich's nicht kriegt. Die guten Sachen werden jeden Tag teurer, je mehr davon auf den Markt kommt. Gleich zwanzig Pfennig teurer – woher kommt denn das?«

»Vielleicht von der Ehrlichkeit der Dienstboten, Schwätzerin.«

»Ja, die Dienstboten müssen's immer büßen. Denen schiebt man alles in die Schuhe. Wie vorhin. Der gnädige Herr bekommt eine schlechte Depesche und die Köchin bekommt dafür ein böses Gesicht.«

»Schweig'!«

Brigitta hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen. Sie fühlte sich zu unkräftig, selbst mit Hand anzulegen, so wollte sie wenigstens die Hantierung der Köchin überwachen. Die Wärme[110] that ihr wohl, die dem knisternden Herdfeuer entströmte und die Küchenluft mit dem lieblichen Duft harzreichen Tannenholzes durchzog. Aber das Wetter hatte sich wieder verdüstert und drückte den Rauch durch den Schlot zurück. Brigitta rieb sich die Augen, hüstelte und jammerte still vor sich hin.

Jetzt jagte Resl die Flammen mit dem Blasebalg auf, daß die Funken stoben und der Rauch in grauen Wolken aufflog.

»Mach's ordentlich, Du weißt schon,« stieß die alte Wirtschafterin keuchend heraus und verließ mühsamen Schritts die Küche.

»Weiß schon, – ist kein Kunststück,« machte Resl mit höhnischer Fratze und salutierte hinter dem Rücken der Abgehenden mit dem Blasebalg.

»Rechtsum oder linksum, gleichviel, die alte Hex' treibt's nimmer lang – und dann werden wir mit dem schönen Herrn Baron wirtschaften, daß es eine Art hat. Ist zum lachen – ich fürcht' mich nicht vor seinen Mucken. Ich kenn' die Sorte schon. Hätscheln und tätscheln hilft immer, und das kann unser eins auch.«

Sie zog einen kleinen Handspiegel mit halbem Glas aus der Geschirrschrank-Schublade und betrachtete sich wohlgefällig, zog die Lippen rund[111] und kraus, schob die Zunge vor und zurück – und warf dann den Spiegel wieder an seinen Ort.

»Und der schöne Herr Baron mag's gewiß recht gern, das Hätscheln und Tätscheln; da wird's ihm wohl von einer Jungen noch lieber sein, als von einer Alten.«

Sie brach in ein freches Lachen aus.

»Hätt' ich nur die Alte vom Hals, diese Aufpasserin und G'schaftelhuberin, die Filzerin, die eine Laus um den Balg schindet und immer verhungern will. Jesses, der möcht' ich doch gleich in die Suppe spucken. Eine solche Hungerleiderin!«

Mit raschem Griff faßte sie einen Wurststrang, schnitt ein Stück ab und ließ es in einer Schachtel, die ihre gestohlenen Vorräte barg, verschwinden.

»Für den Hans! Das heißt, so lang' ich ihn noch mag – und noch nicht zur Baronin avangsiert bin. Ich wollt's erraten, was ihm in der Depesche so ins Geweih gestiegen ist. Ein Tächtelmächtel, ein verunglücktes Liebesabenteuer. Da geht's immer gleich per Telegraph, da pressiert's! Bei mir könnt' er's so gut haben.«

Indem sie mit dem Finger von dem Apfel-Kompot naschte, das sie auf einer Schale zurichtete: »Sehr fein ist's. Das hat der Franzl[112] immer so gern mögen, wenn er von Tölz heruntergekommen ist. Jetzt geht die Flößerei auf der Isar bald wieder an; dann kommt er gewiß wieder mit seinen langen Wasserstiefeln und läßt mir keine Ruh ... O die Mannsbilder – und lauter Schleckermäuler sind's. Jesses, jetzt ist mir vor lauter Gedanken gar die Soss' (Sauce) anbrennt ...«

Quelle:
Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. 2 Bände, Band 1, Leipzig [o. J.], S. 68-113.
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