5.

[169] Ende der Liebigstraße – am sogenannten »Gries«. Eine alte zweistöckige Baracke mit hohen Dachkammern, wovon die eine als Studierstübchen eingerichtet. Das Fenster gewährt einen prächtigen Blick auf die Isar und die Maximiliansanlagen, die wie ein Wald hart vom Flußufer aufsteigen und den Höhenzug zwischen dem Maximilianeum und dem Dörfchen Bogenhausen mit einem dichten Wipfelstreifen vom Horizonte trennen. Linde Frühlingsluft strömt durch das offene Fenster und spielt leise mit den schlanken Zweigen eines buschigen Rosmarinstocks, der in einer ausgedienten Zigarrenschachtel auf dem äußeren Simse steht. Auf dem weiten Rasenplatz zwischen der Baracke und dem Fluß flattert weiße Wäsche an schwankenden Seilen, von einem Weidenbaum zum andern gezogen. Sanfte Nachmittagsstimmung ruht über der schwach beleuchteten[170] Landschaft. Leichtes Gewölk umzieht träumerisch die Sonne.

Schlichting hockte am Schreibtisch beim Fenster, Kuglmeier auf dem Bettrand, die Füße auf dem Stuhl, in einem alten Buche mit Kupfern blätternd.

»Höre, Deine Geschichte vorhin von dem nächtlichen Menschenpaar im Astloch, nein, auf dem Wurzelast, war sicher nur eine Vision.«

»Vielleicht.«

»Übrigens passieren ja tolle Dinge in der Welt.«

»Unglaubliche.«

Kuglmeier schob den dicken Schweinslederband unter den Kopf und streckte sich im Bette aus. Er trommelte mit den Absätzen auf dem unteren Rand der Lade herum.

»Deine Zelle hier ist recht gemütlich, da kann man wie ein Benediktiner ochsen – aber ein anregender Bummel wäre mir lieber. Übrigens möcht' ich nicht mit Dir tauschen; meine Bude hat den Vorzug eines pikanten vis-à-vis. Darauf sehe ich immer in erster Linie: abwechslungsreiche Aussicht auf holde Weiblichkeit. Hier außen ist man ja wie am Ende der Welt, nichts als Natur ringsum. Und die Einsamkeit! Allerdings[171] die Wäschermadeln ... Wer den Seifen- und Waschküchengeruch mag ... Wenn sie ordentlich ausgelüftet, reinlich sind sie ja gewiß und auch nett gekleidet, einladende weiße Schürzchen, vielversprechende kurze Röckchen und so weiter ... Wie stehst Du denn zur schöneren Hälfte der Schöpfung da heraußen? ... Keine Antwort ... Natürlich so ein Klosterbruder ... Bist Du nicht bald fertig? Die Hockerei am Schreibtisch ist wirklich nicht gesund, glaube mir ... Ich störe Dich, nicht wahr? Hast Du nie den Schreibkrampf bekommen? Ich habe immer gleich so etwas ...«

Der kleine Kuglmeier wurde allmählich ungeduldig. Er sprang auf und beschaute sich im Spiegel, der schief an der Thür hing.

»Mit meiner Nase scheint eine bedenkliche Umfärbung vorzugehen. Das keusche Weiß weicht einem schamhaften Roth. Auch die Augen gefallen mir nicht. Unschöne bläuliche Ringe. Und der müde Schnurrbart ...«

Schlichting, ohne von seiner Schreiberei aufzublicken: »Natürlich, wenn man ganze Nächte durchkneipt ... Als Zecher wenigstens bist Du groß ... Pernoctari ... hm ...«[172]

»Zum Teufel, was schmierst Du denn da zusammen? Dauert's noch lange? Zeig' mal her!«

»Gleich!«

»Ah, mein Lieber, das ist eine harte Geduldsprobe. Weiht was, ich geh' einstweilen allein – die Isar entlang; es schwant mir, als gäb's im ›Ketterl‹ oder nebenan im ›grünen Baum‹ einen famosen frischen Anstich. Meinst Du nicht? Ich lass' Dir eine schäumende Ganze steigen. In einer kleinen Stunde bin ich wieder zurück.«

»Geht nicht, ist gegen unser Nachmittags-Programm,« entgegnete Schlichting mit ruhiger Bestimmtheit und steckte eine neue Stahlfeder in den Halter. »Ich kenne Deine kleine Stunde – hinter dem Maßkrug. Wolltest Du mich nicht auf einen Sprung zum Doktor Trostberg und zum Bildhauer Achthuber begleiten?«

»Gut, so lass' uns gehen! Ehrlich gesagt, bin ich heute recht flau aufgelegt, neue Sonderlings-Bekanntschaften zu machen. Ich habe einstweilen an Dir vollauf genug. Und dann gleich zwei Originale auf einmal, das verdau' ich nicht. Ich meine, der Trostberg allein thut's auch; ich muß mich heute schonen. Es ist ja recht schön von Dir, meine Menschenkenntnis erweitern zu helfen,[173] – aber nicht immer gleich des Guten zu viel. Hoffentlich ist dieser Geheimdichter des Königs und Schopenhauerianer wenigstens ein trinkbarer Mann und setzt uns nicht bloß alte Schrullen, sondern auch einen frischen Suff vor. Also gehen wir, mit Gott, für König und Vaterland!«

»Ist noch um dreißig Minuten zu früh.«

»Du bist ein Pedant. Hätt' ich nur nicht dieses verdammte Brennen im Hals – und dazu dieses durstige Frühlingswetter.«

»Für Deine Kehle ist das ganze Jahr Frühlingswetter.«

»Gott sei Dank ja!« rief Kuglmeier entzückt, drehte sich auf einem Bein und fuhr dann mit den ausgespreizten Fingern seinem Freund Schlichting in das braune Haargelock. »Ewiger Frühling, so lange der Zapfen aus dem Spundloch fliegt – davon verstehst Du Grübler freilich nichts. Eigentlich solltest Du nicht Schlichting heißen, sondern Nüchterling. Bist ein herzensguter Bursch, aber trinken kannst halt nicht. Das fehlt Dir zu Deiner menschlichen und bayerischen Vollendung.«

»O, nicht so ganz! Aber lass' mich doch! Nur noch eine halbe Seite ...«[174]

Kugelmeier legte ihm von hinten den Arm um den Hals und zupfte ihn am Ohr.

»Weißt Du, Du bist wie die Sommervögelein, von denen es im Liede heißt: ›Sie aßen Licht und tranken Tau‹. Drum wirst auch immer schlanker. Dein Kopf ist das Größte an Dir und Deine braunen schwermütigen Augen ...«

»Wie an Dir das. Größte –«

»Der Bauch? Nun, sprich's nur gelassen aus, das große Wort!« Und Kuglmeier lachte und patschte mit beiden Händen auf seinen Leib. »Ja, das verspricht eine imposante Entwickelung. Aber weißt Du, was noch größer ist? Gelt, das errätst Du nicht? Meine Geduld!« Bei diesem Worte versuchte er von hinten den Stuhl zu heben.

Schlichting stemmte sich gegen den Tisch. Dann warf er die Feder weg.

»Quälgeist!«

»Also darf ich lesen?«

»Meinetwegen.«

Kuglmeier nahm die Blätter und kugelte sich damit wieder in's Bett. Schlichting legte sich inzwischen zum Fenster hinaus und ließ die Zweige des Rosmarinbusches durch die Finger gleiten mit[175] zartem Reiben, wie liebkosend. Ein herbsüßer, würziger Duft hauchte ihm entgegen. Gedämpft rauschte die Isar herüber ... Kuglmeier las, auf dem Rücken liegend, halblaut vor sich hin.


* * *


Es ist ein vierstöckiger, neuer Mietsbau im unteren Isarsträßchen, nur vier Fenster in der Front, so daß der Steinkasten, den dazu noch uralte einstöckige Knallhütten mit windschiefen, mosigen Schindeldächern flankieren, viel höher aussieht, als er wirklich ist. Mit seinen fensterlosen, rotbraunen Backstein-Seitenmauern, die immer noch vergeblich auf Anbau harren, ragt er wie ein Symbol moderner Ungemütlichkeit und poesieverlassener, plumper Spekulationsbauerei über das romantische hölzerne Winkelwerk des armseligen Stadtviertels, das sich planlos, von Mühlbächen und krummen ungepflasterten Gäßchen durchzogen, an die Isar nördlich von der Maximiliansbrücke herandrückt, – eine Ansiedelei von armen Teufeln, die instinktiv zusammenrücken, um sich warm zu halten, wenn vor Winterskälte Stein und Bein kracht, und sich den Buckel zu wärmen im traulichen Neben- und Durcheinander,[176] wenn die Sommersonne feuernd über dem Isarthale steht. Eine stille, träumende Welt für sich, in welche erst an einzelnen Stellen die moderne Zeit hineingegriffen hat, um da einen eisernen Gaslaternenpfahl aufzurichten, dort einen hohen Steinkasten als Mietsbau hinzustellen, da einen Bach brückenmäßig zu überwölben, dort ein Stückchen Pflaster auf den Erdboden zu legen, wo sich höckerige Gäßchen kreuzen. Abseits vom Großverkehr liegend, hat sich für die sorgsamen Väter der Stadt noch keine Notwendigkeit ergeben, planmäßig und gründlich umgestaltend sich mit diesem alten Wasservorstadt-Überbleibsel einzulassen.

Die eigentliche Herrschaft über die mehrere tausend Köpfe zählende Bevölkerung dieser romantischen Ansiedlung führen die Franziskaner vom nahen Lehel-Kloster, unterstützt im Notfalle von der kleinen Kriegsmacht der Gendarmerie, und einige betriebsame Sozialdemokraten, die im Stillen mit ihrer Heilslehre den Kirchenleuten zwar Konkurrenz machen, aber praktisch und öffentlich noch keinen Ersatz zu bieten vermögen für die Bettelsuppen aus der Klosterküche und für die schönen Gottesdienste und abendlichen Erbauungsstunden in der prächtigen Klosterkirche. So bleibt vorerst die Mehrheit der wirklich Bedürftigen,[177] der alten Männer und Weiber insonderheit, dem Krummstabe treu und dem Polizeispieß unterthan, während die Jungen, welche als Kleinhandwerker und Fabrikarbeiter ihren knappen Unterhalt verdienen, innerlich voll revolutionärer Mucken sind und auf die Verheißungen der sozialdemokratischen Zeichendeuter bauen.


* * *


»Aber, lieber Schlichting, was ist denn das für eine gefährliche Stilübung? In wessen Auftrag machst Du das? Zu wessen Nutz und Frommen?«

»Lies weiter, wenn's Dich interessiert; leg's weg, wenn's Dich langweilt.«

»Du foppst mich, nicht wahr? Du machst Dir einen Ulk mit der geschätzten Umgegend?«

»Ein Narr kann mehr fragen, als zehn Weise beantworten.«

»Meine Gutmütigkeit ist grenzenlos. Ich lese weiter.«


* * *


Der vierstöckige neue Mietsbau im unteren Isarsträßchen brachte wieder andere, ganz modern[178] stilisierte Bevölkerungselemente in diese wenig bewegte Kleinwelt.

Das Haus gehört einem unter verdächtigen Umständen pensionierten Steuerbeamten, der mit seiner ehemaligen Köchin in zweiter Ehe lebt, sich Herr Finanzrat titulieren läßt und dabei Wuchergeschäfte treibt. Er bewohnt den zweiten Stock.

Im ersten Stock haust eine der Maitressen eines Grafen aus der Maximilianstraße mit ihrer Tochter. Man nennt sie die »Wappenhure«.

Im Erdgeschosse treibt ein deklassierter Baron sein Wesen mit zwei erwachsenen Mädchen, die er für seine Töchter ausgibt. Von der Beschäftigung dieser sonderbaren Familie weiß die Nachbarschaft allerlei Merkwürdiges zu erzählen: der Baron wasche Handschuhe, stopfe Vögel aus, schnitzle Heiligenfiguren, mehr des Unterhalts als der Unterhaltung wegen, – und seine Töchter, eine Blondine und eine Brünette, die oft wochenlang auswärts kampierten, seien nur zum Scheine in einem feineren Kunstblumengeschäft als Blüten- und Stielmacherinnen angestellt, ihr eigentlicher Erwerb fließe aus unsittlicher Nebenhantierung – kurz, aus der Prostitution besserer Sorte.


* * *[179]


»Schlichting, woher hast Du das? Die Blondine – die Brünette, ja, wie ist mir denn? Verdammter Fabulist, was sind das für Anspielungen?«

»Geht Dir ein Licht auf? Gieb Acht, daß es kein Irrlicht!«

»Saugst Du das aus den Fingern, oder stehst Du mit der Geheimpolizei im Bunde?«

»Keins von beiden. Nimm die Geschichte für den Anfang einer impressionistischen Novelle. Ich hab' so etwas wie Herzweh, und da hab' ich mich aufs Dichten besonnen. Aber ich mache keine Liebeslieder. Die Dudelei freut mich nicht. Ich muß nach authentischen Dokumenten in derber Prosa arbeiten. Das strengt den Kopf mehr an und macht das Herz leichter. Wenigstens hoff' ich das letztere.«

»Du bist ein unglaublicher Mensch. Woher hast Du denn diese Details? Du bist doch kein Urmünchner wie ich, dem so etwas zufliegt ...«

»Und ist mir doch zugeflogen. Zum Teil vor einer Stunde erst. Ganz frisch – und doch schon überprüft. Ich verrate meine Quelle nicht. Bitte, lies weiter, wenn's Dich interessiert.«


* * *[180]


Im dritten Stock hat sich die Verlobte eines Rittmeisters mit ihren drei Kindern, einem Knaben und zwei Mädchen, häuslich eingerichtet. Der Offizier läßt sich nur selten blicken. Doch schickt er desto öfter Körbe mit Wein, gebratenem Geflügel und Naschwerk an seine »ewige Braut« – Sendungen, von denen der dienstthuende Packträger einmal dem lüstern forschenden Baron im Erdgeschosse gestand, daß sie eigentlich nicht aus der Vorratskammer des Offiziers stammten, sondern diesem selbst erst von einer seiner dankbarsten Verehrerinnen, der militärfrommen Frau eines bekannten Weinrestaurateurs, spendiert zu worden pflegen. Die Töchter des Barons wollten den Rittmeister bei einer zufälligen Begegnung im Hallsflur wieder erkannt haben als den Schwerenöter Fra Diavolo, der ihnen auf dem letzten Maskenball im Kolosseum selbst gar leidenschaftlich nachgestiegen.

Im vierten Stock haben sich die beiden eigenartigsten Persönlichkeiten eingemietet: erstens ein einarmiger und einäugiger Zeitungsschreiber, der Herausgeber des sogenannten Witzblattes »Die Kloake«, oder »Das Vaterland der schönen Seelen«, wie es nach einem anrüchig-doppelsinnigen Gratulationsgedicht der ersten Neujahrs-Nummer[181] vom Volkshumor benannt wurde. Den linken Arm will er auf den französischen Schlachtfeldern verloren haben, das rechte Auge wurde ihm bei einer Rauferei zur Nachfeier der Fahnenweihe eines ländlichen Veteranen-Vereins aus dem Kopfe geklopft. Er geht meist nur in der Nacht aus, und die Hausleute, welche dem herkulisch gebauten Einarm-Einaug auf der schwach beleuchteten Treppe begegnen, drücken sich scheu zur Seite.

»Preßbandit« nennen sie ihn. Aber heimlich, weil sie ihn fürchten. Die Frechheit seiner Feder ist beispiellos. Er schont nicht das Kind im Mutterleibe. Wo er hingreift, bleibt ein Schmutzfleck. Seine Tinte ist stinkige Jauche.

Zweitens: der Akt-Photograph Attenkofer, Meister des freien deutschen Hochstifts, Inhaber zweier silberner Medaillen für Kunst und Wissenschaft, Ehrenmitglied des Tierschutzvereins sowie der Gesellschaft zur Verbesserung der Hunderassen, ein Mann mit einem drolligen Löwenkopf, von Gestalt ein Riese Goliath, nach der Tracht, die Sommer und Winter die gleiche, einer der getreuesten Jünger des Stuttgarter Wollenapostels – und dazu eine sanfte Kindesseele, keusch wie, Gletschereis. Seit er neben dem Preßbanditen wohnt, ist die Harmonie seines Gemütes zerstört.[182] So viel Bosheit und Niedertracht bei einem Menschen, der die Feder führt und sich Journalist nennt, hätte er nie für möglich gehalten. Zum erstenmal in seinem Leben hat er einen Menschen hassen gelernt.

Der Preßbandit hat ihn in seiner »Kloake« karikiert als Kohlrabiheiland, der die alleinseligmachende Pflanzenkost öffentlich predige und heimlich Schweinsbraten und Knackwürste pfundweis fresse. Das hat ihn zwar gewurmt, aber er hat's ertragen.

Der Preßbandit hat ihn in seiner »Kloake« als dressiertes vierfüßiges Zirkusvieh abgebildet, ein Ungeheuer, halb Kater, halb Vogel, im grotesken Ringkampfe mit einem ekelhaften, die Zunge herausstreckenden Klown. Ein Blödsinn, eine gassenjungenhafte Unverschämtheit. Es hat ihn wieder gewurmt, aber noch hat er's ertragen.

»Ich bin sein Lückenbüßer,« sagte sich Attenkofer; »wenn ihm nichts Besseres einfällt, nimmt er mich vor, sein Sudelblatt zu füllen; so lange er mich verarbeitet, wird wenigstens ein anderer ehrlicher Mitmensch in Ruhe gelassen. Gut, ich ertrag's und opfere mich.«

Der Preßbandit trieb nun die Frechheit einen Schritt weiter: er brachte in einer der folgenden[183] Nummern den »Traum des Photographen«; in porträtähnlicher Gestalt liegt Attenkofer unbekleidet auf einem Divan, faunisch grinsend im Anblick nackter Mädchengestalten, die ihn umschweben und nach denen er verlangend die Arme ausstreckt. Zu dem scheußlichen Bild gesellte sich noch ein unflätiges Gedicht.

Das ertrug der Photograph nicht mehr. In dieser bübischen Weise seinen reinen Kunstsinn öffentlich verleumdet, mit Kot sich und sein ehrsames Handwerk beworfen zu sehen! Und warum diese Besudlung? Aus purer Lust an der Gemeinheit, am Skandal? ... Sollte er hinübergehen und den Hallunken kurzer Hand niederschlagen? Darf das ein unschuldig Gekränkter, ohne sich selbst zu entwürdigen? Die Gerichte anrufen? ...

Tagelang ging er wie wahnsinnig umher, auf wirksame Mittel zur Abwehr denkend, als plötzlich die Polizei einschritt und – bei dem Photographen eine Haussuchung nach obszönen Bildern vornahm. So schien die Schmähung dem Preßbanditen als Denunziation richtig geglückt ...


* * *


»Das wächst sich ja zu einer ganz unheimlichen Geschichte aus, einer Art Kriminal-Novelle.[184] Diese Richtung hätte ich Deiner Phantasie am wenigsten zugetraut. Du bist zwar eine grüblerische Natur, aber nach der Seite des Ernsten und zugleich Sonnenhaften. Wie mögen Dich nur plötzlich diese dunklen Infamien locken? All' diesen Lumpereien und Schmutzereien zum Trotz: das Leben ist doch viel seliger und schöner und reiner, als es scheint. Das weiß sogar ich, ein Urmünchener.«

»Gewiß, wir haben es nur noch nicht vollständig entdeckt. Es hat noch unendlich viel heimliche Güter und verborgene Werte. Jedoch um zu ihnen zu gelangen, müssen wir uns durch Schutt und Unrat hindurcharbeiten, wie zu verborgenen Schätzen. Und wenn wir nur die innere Gewißheit haben, auf der rechten Spur zu sein – – Ich glaube, man kann schon in Hoffnung des künftigen Besitzes ein fröhliches Genußgefühl vorwegnehmen mitten in der elenden Gegenwart. Wie die wirklich Frommen ihren Himmel schon auf Erden haben, indem sie felsenfest daran glauben. Jawohl, der Glaube macht selig – ob die reelle Seligkeit nachkommt oder nicht, ist eigentlich gleichgültig. Der Glaube ist die Hauptsache. Und darum auch das Notwendige.[185] Es glaubt sich übrigens nicht so leicht, als man oft zu glauben meint.«

»Prächtig gedacht, mein Grübler. Du bist wirklich ein famoser Kopf. Laß Dich umarmen! Nun bin ich doch auf den Fortgang und Schluß Deiner Geschichte gespannt, die sich aus der Lokal- und Personalschilderung herausspinnen wird. Lass' die anderen Blätter sehen! Du hast mich wirklich neugierig gemacht ...«

»Du kannst nicht neugieriger sein, als ich selbst.«

»Wieso?«

»Ich muß das Weitere erst finden. Ich weiß augenblicklich nichts mehr.«

»Du weißt nichts mehr? Ach was, Narrenspossen! Rücke nur heraus mit Deinen Geheimnissen –«

»Visionen!«

»Ich nehme das Wort zurück. Du bist der scharfäugigste Mensch des Jahrhunderts. Ich glaube an Dein nächtliches Menschenpaar auf dem Wurzelast, wie ich an Adam und Eva im Paradiese glaube, oder an die Blondine und die Brünette und die ganze Rotte Korah, oder an den Preßbanditen und seine Kloake. Das läuft ja alles mit und neben uns herum, fährt mit[186] uns auf der Pferdebahn, zecht mit uns in der ›Arche Noah‹, da ist lauter echtes, patentiertes Gesindel – und Du, der stille, schlaue Schlichting, entpuppst Dich als sein Geschichtschreiber. Ich wette, ich bekomm' auch mein Teil ab. Komm', erzähl' mir wenigstens meine geheime Historie der nächsten vierzehn Tage!«

»Ich bin kein Fabulist, erfreue mich auch keines zweiten Gesichts. Ich stehe nur auf Lebenschatsachen und reite nicht in Phantasienebeln herum.«

»Gott sei Dank. Das würde Dir auch schlecht bekommen. Wir sind die positiven Kinder eines positiven Jahrhunderts. Aber das hindert nicht, daß wir uns das wissenschaftliche Ragoût, das uns die Gelehrsamkeit auftischt, heimlich mit etwas Träumerei garnieren. Mach' mir einmal den Spaß und versetz' Dich in meine Haut und träume mir ein Stückchen von meinem nächsten Lebensschicksal mit offenen Augen vor!«

»Dein Lebensschicksal? Offen gestanden, ich glaube gar nicht, daß Du eins hast. Du treibst's einfach wie die anderen, nach der offiziellen Gebrauchsanweisung und den bewährten Mustern: heute noch lustiger Student, morgen ernster Philister, übermorgen kluger Beamter mit Weib und[187] Kind, dann ein gottwohlgefälliger Bureau-Maschinist mit glücklicher Streberei, zuletzt ein protektionsbeflissener, erhabener Troddel, dein schließlich der Staat für treugeleistete Dienste seine höchsten Orden an die Brust steckt und von dem die Kollegen neidvoll-bewundernd sprechen: Da seht den dicken Kuglmeier, der hat eine brillante Karriere hinter sich, der hat's zu etwas gebracht, der ist ein gemachter Mann und eine Zierde unseres Standes, – wenn ihn nur bald der Teufel holte, denn er ist lang genug mit dem faulen Hintern im Schmalztopf gesessen.«

»Wunderschön!«

»Aber das nenn' ich kein Lebensschicksal, das nenn' ich überhaupt kein Leben, sondern höchstens – –«

»'raus damit, göttlicher Grobian!« rief Kuglmeier und schüttelte sich vor Lachen. »Höchstens – –«

»Eine veredelte Affenkomödie, welche das wahre Menschentum mit seinen hohen Zielen und Idealen Parodiert.«

»Auch Du, mein Brutus! Null thust Du mir aber wirklich leid; denn mit einem solchen Begriff vom Leben kannst Du Dich am ersten besten Thürhaken aufknüpfen, – wenn Du nicht[188] irgendwo eine heimliche Million liegen hast, mit der Du höchst souverän nach Deiner Façon leben und selig sterben kannst.«

»Fällt mir gar nicht ein. Ich denke sogar, mich recht und schlecht auch ohne die Million durchzuschlagen, mit ehrlicher Hantierung und ohne auf meinen Begriff vom Leben zu verzichten.«

»Aber nicht bei uns.«

»Dann anderwärts. Raum für alle hat die Erde. Ich bin kein Schollenkleber.«

»Weißt Du, Schlichting, an wen Du mich mit diesen kritischen Extravaganzen und Gedankenausschweifungen erinnerst? An meine Schwester Flora.«

»Das ist ein erlösendes Wort,« dachte Schlichting, und froh, eine so glückliche Wendung des Gespräches erhascht zu haben, fragte er ruhig fast schüchtern: »Hast Du neue Nachrichten von Deiner Schwester?«

»O meine Flora, dieser Prachtkerl von einem genialen Frauenzimmer, denke Dir nur, die nimmt sich jetzt die Welt ordentlich zwischen die Beine. Nachdem sie einige Wochen um den Vesuv herumgeklettert ist und in alle Feuerschlünde geguckt und die Nase an alle Rauch- und Schwefellöcher[189] gehalten hat, will sie auch noch dem Ätna eine Visite machen. Sie ist bereits nach Sizilien unterwegs. Sie hatte immer schon so etwas Vulkanisches – ihre naturwissenschaftlichen und historischen Kenntnisse sichelt nicht hinter ihren künstlerischen Talenten zurück – da kann sie nun da unten auf dem klassischen Feuerboden sich gründlich ausschwelgen. Ja, meine Flora – –« Und Kuglmeier schnalzte mit den Lippen und warf Kußhände in die Luft.

»Du hast keine Angst um sie?«

»Nicht die Spur. Die kleine Hexe hat Kurasche für Zehn; die ist allen Banditen gewachsen.«

»Und sie reist in dem fremden Lande ganz, allein?«

»Ich bitte Dich, Italien ein fremdes Land, diese abgelaufene Gegend! Da wimmelt's voll Einheimischen, wollte sagen, von Deutschen, besonders Münchenern, daß man sich kaum ausweichen kann. Flora sucht ja allein zu sein, um die Eindrücke ganz frisch und intim zu haben und sich nicht von andern vor der Nase weggucken zu lassen. Die will überall etwas Apartes. Und findet's auch. O das ist ein mordsmäßiger Prachtkerl. Ganz mein Ebenbild!«

»Ja, so ungefähr, ich stelle mir's lebhaft vor ...[190] Und sie hat sich unterwegs noch an niemand angeschlossen?«

»Wie komisch Du fragst. Freilich wird sie das, so ab und zu, von heute auf morgen, bei besonders schwierigen Partieen. Mit strengster Auswahl natürlich. O, die ist anspruchsvoll – und eine Menschenkennerin, ganz unglaublich.«

»Du empfindest also wirklich keine Besorgnis um sie? Ich sage Dir, meine Schwester könnte ich nicht so allein hinausziehen lassen. Mich würden die Sorgen umbringen. Ich hätte die schauerlichsten Träume. Unmöglich auf die Dauer.«

»Da haben wir gleich wieder den kühnen Wandrer, der kein Schollenkleber ist! Lass' Dich auslachen, Schlichting! So reise ihr doch nach!«

»Herrgott, ja, auf der Stelle, wenn's möglich wäre.«

»Deiner Schwester, mein' ich.«

»Ja, hätt' ich erst eine ... Sagen wir, unserer Schwester, damit ich wenigstens Sorge hegen kann, wo Du nur Vertrauen und Freude hast, glücklicher Kuglmeier.«

»Komischer Gedanke. Einverstanden: Du bekommst den Sorgenteil. Du könntest übrigens Deine impressionistische Kriminalnovelle so einrichten, daß Du ihr das Manuscript als geistigen[191] Reisebegleiter nachschicktest. Donnerwetter, siehst Du, das ist wieder so eine Idee, wie sie nur mir kommen kann. Flora wird lachen: schick' ihr die Geschichte, sobald Du sie fertig hast. Ich verpflichte mich, zu Deiner Einführung ein Vorwort dazu zu verfassen, das sich gewaschen hat ... Auch einen Titel will ich Dir dazu erfinden helfen, der sich hören lassen soll. Titel erfinden ist meine Hauptstärke – ein Zeichen, daß ich nicht ohne poetische Ader bin. Nur bin ich zu faul, sie auszubeuten. Ein schöner, klingender Titel wäre – wart' einmal – wäre – Merkwürdig, jetzt fällt mir gerade nichts ein ... Weißt Du was? Wir bitten Flora selbst einen zu erfinden. Das giebt einen Vorwand mehr! ...«

»Was ich hier geschrieben, ist doch keine Damenlektüre.«

Das war Ziererei. Der Vorschlag behagte Schlichting über die Maßen.

»Damenlektüre? Na, wenn Du glaubst, daß sich meine Flora für sogenannte Damenlektüre begeistert ... Ihr wird übel, wenn sie auf Kilometerweite einen Marlitt-Roman sieht; nein, mein Freund, diesem zarten Geschöpf ist in geistigen Dingen nichts stark genug. In allem eine Heldennatur ...«[192]

»Ganz Dein Ebenbild!«

»Du hast gut spotten. Ich vertrage auch etwas; im ganze naturalistische Litteratur hat für mich keine Überraschung mehr. Nur mache ich öffentlich keinen Gebrauch davon. Soll ich mich den dummen Menschen am Ende gar als Freigeist vorprahlen? Fällt mir nicht ein. Als neulich der Professor Hirneis – es war in einer seiner berühmten schöngeistigen Soiréen – die Rede auf die Zola-Romane brachte, da protestierte ich empört gegen den Verdacht, jemals dieser After-Litteratur meine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, obwohl die ›Nana‹ der einzige Roman ist, den ich aus meiner Tasche gekauft und sowohl im Original wie in der Übersetzung mit Eifer gelesen habe. Dafür lobte ich die Bauerngeschichten von Maximilian Schmidt als den Gipfel vaterländischer Erzählungskunst und schwur hoch und teuer, daß mich Dahns Völkerwandrungs-Romane bis zu Thränen gerührt – während ich in der That niemals weder von dem einen noch von dem andern Schriftsteller ein Buch zu Ende lesen konnte. Ich werde ein Esel sein und gegen den Strom schwimmen! Was allgemein gelobt wird, hat auch meinen Beifall; so helfe ich die öffentliche Meinung stärken – und habe in meinen[193] vier Mauern den Genuß, ungestört meiner eigenen Meinung zu fröhnen und mich meiner besonderen Liebhaberei doppelt zu freuen.«

»Du wirst's noch weit bringen. Der Geheimrat ist Dir sicher. Ich bewundere Dich.«

»Das hoffe ich. Und wenn ich Dir als guter Kamerad raten darf, schickst Du Dein impressionistisches Novellen-Manuskript über die Grenze, schon damit Du daheim der Versuchung überhoben bist, es am Ende gar einem Verlagsbuchhändler anzubieten. Ich fürchte zwar nicht, daß Du mit diesen gefährlichen Geschichten Geld verdienen und öffentlich unter die naturalistischen Schriftsteller gehen willst. Aber gut ist gut und besser ist besser. Man muß sich heutzutag sehr in acht nehmen, daß man nicht vor lauter Idealität dumme Streiche begeht. Denken und Handeln ist zweierlei. Frauen können so starkgeistig sein wie sie mögen, das erhöht ihren Reiz, gibt ihnen etwas Dämonisches; starkgeistige Männer hingegen werden als Phantasten über die Achsel angesehen. Mit Recht, sag' ich Dir; sie passen nicht in den Rahmen unseres heutigen Staatslebens. Lass' Dir die Gedanken und die Locken beschneiden, Schlichting, wir florieren in einer glattgeschorenen und kurzfrisierten Zeit – und[194] schicke Dein Manuskript, meinetwegen auch Deine Locken, wenigstens eine Probe davon, nach Italien an Flora Kuglmeier, Du wirst ihr damit Spaß machen.«

»Ich staune; diesen geriebenen Meister der Staatskunst hätte ich nun doch nicht hinter Dir gesucht. Für Dein bemoostes Haupt ist's fast der Schläue zuviel.«

»Ja, der kleine Kuglmeier verkauft Euch zehnmal, wenn's auf's Apropo ankommt, mein Lieber.« Und er wiegte sich auf Fußspitzen und Absatz vor dem schiefen Spiegel und strich seine bürstenartig kurz geschnittenen aschblonden Haare, daß sie knisterten. Dann mit einem Dreher gegen Schlichting, der seine zierlich geschriebenen Manuskriptblätter nachdenklich ordnete und in einen blauen Aktendeckel barg: »Schockschwerenot, ich sterbe vor Durst, und Du verwickelst mich noch in diese endlose Plauderei. Hol Dich der Kuckuck, ich habe Deine Zellenhaft satt. Luft, Luft, Bier, Bier! Kommst nach? Das heißt, wenn Du mit Deinem Doktor des Pessimismus fertig bist, denn daß ich jetzt noch mit Dir diesen trostlosen Trostberg besteigen soll, wirst Du mir im Ernste nicht zumuten.«

»Wir gehen ja am Hause vorbei, am Ende[195] der engen, altersgrauen Sterngasse links im benachbarten Hütten-Viertel. Es ist gar kein Umweg. Es ist das Preßbanditenhaus, Rückgebäude, eine weltvergessene Gartenidylle. Die merkwürdigsten Gegensätze ...«

»Im Erdgeschoß die Blonde und die Brünette? Ich habe allen Blumenmädchen Fehde geschworen – bis ich meinen Durst gestillt. Nicht um eine Welt, nicht um ein Sonnensystem geh' ich da hinein. Behüt' Dich Gott, es wär' zu schön gewesen! Komm' nach; Du weißt, wo Du mich wiedersiehst;« dabei machte er den Versuch, die Phrase nach dem reinen Thorenmotiv pfeifend zu wiederholen und fuhr dann komisch deklamierend mit kulissenreißerischen Armbewegungen fort: »Dort, wo die grüne Isar am farbigsten rauscht, sei Gambrinischer Weisheit mit Wonne gelauscht ... Also, Scherz ohne, beim grünen Baumwirt. Hippokrates wird wahrscheinlich auch hinkommen und uns allerhand Gruseliges vom Kadaver des heute geköpften Lustmörders erzählen, in dessen Eingeweiden er den Vormittag verschwelgt hat. Vielleicht bringt er sogar einige interessante Fetzen vom Gedärm des edlen Sünders mit zu belehrsamer Augenweide. Dess' freut sich das entmenschte Paar ... O Schiller, o Schlichting![196] Addio, Zukunfts-Oberklassiker deutscher Nation. Addio.«

Und polternd walzte der kleine dicke Kuglmeier die Holztreppe hinab.

»Schauerlich, was für disparate Dinge in in einem solchen Kopfe beieinander liegen,« dachte Schlichting und fühlte ein leises Frösteln über seinen Rücken hinlaufen. »Teilte ich nicht seine schwärmerische Verehrung für seine Schwester, ich wüßte nicht, was ich Gemeinsames mit diesem Menschen hätte. Nun bin ich richtig wieder aus aller Stimmung herausgeworfen ... Am liebsten möchte ich heute keine lebendige Seele mehr sehen ... Aber Trostberg erwartet mich ... Zu Achthuber wird's heute nicht mehr reichen ... Eigentlich wär' mir dieser Künstler-Naturbursche mit seinem trauten, naiven Wesen der liebste. Diese Geschlossenheit und Lebenszuversicht wirkt wie Balsam. Das ist alles so anheimelnd harmonisch, Kopf und Herz ohne Mißton. Und dabei doch voll stärkster Triebe und der höchsten Aufschwünge fähig. Das ist ein Mensch, der wohl thut ... Trostberg regt an, aber läßt das Gemüt unbefriedigt; man geht von ihm mit einem bitteren Geschmack auf der Junge. Was er wohl zu meinem neueren Manuskript sagen wird? Ob[197] er's als eine ernste soziale Studie nach der Natur gelten läßt oder nicht – ideale Gedanken-Bajazzo-Sprünge wird er mir diesmal nicht vorwerfen können. Nach der Natur! Jeder sieht schließlich seine Natur. Wenn er überhaupt nur die Natur sieht ... Armer Trostberg. Einer, der die Menschen haßt, weil er sie zuviel geliebt hat ... Geliebt? Wirklich geliebt? Wer weiß! Es steckt so schrecklich viel Problematisches in allem Pessimismus ... Mein kleiner Eugen Raßler schlägt und beschimpft die Tischkante, wenn er sich unachtsam daran gestoßen und sich eine blaue Beule geholt hat. Die Tischkante ist schuld an seinem Schmerz ... Kuglmeier geht vorsichtig an allen Kanten herum, drum findet er auch den besten Platz am Tisch. Er wählt sich auch immer den geeigneten Tisch, denjenigen, der am reichlichsten nach seinem Geschmack besetzt ist ... Und sein Geschmack richtet sich nach dem Geschmack der tonangebenden Fresser ... Und sein Urteil formt sich nach dem Urteile beutegieriger Lebensschätzer ...«

Während dieses Selbstgespräches hatte Schlichting mit anmutiger Bewegung seiner jugendlich schlanken und doch kraftvoll gehobenen Gestalt sich eilig umgekleidet, eine zerriebene Hose und[198] Jacke, wie er sie nur aus Sparsamkeit im Hause trug, gegen bessere Stücke umgetauscht und sich besuchsmäßig hergerichtet.

Da überkam ihn plötzlich eine eigentümliche Mattigkeit. Waren es die langen Auseinandersetzungen mit Kuglmeier, die ihn ermüdet hatten, oder die nachtwandlerischen Ereignisse von gestern, die erschlaffend nachwirkten? Oder war es der Gedanke an Flora, der mehr und mehr in all' seinem Thun und Treiben spukte, daß er sich säumig und träumerisch wieder am Fenster niederließ?

Wie gebannt hing sein heißer Blick an den phantastischen Wolkenbildern, die sich langsam über das Isarthal hinbewegten, licht von Süden kommend, gen Norden sich dunkelnd. Die Abendsonne schoß einen mächtigen Pfeil in das blauschwarze Gewoge, eine lange, goldne Strahlenfurche zurücklassend. Nun verblaßt sie. Dort baut sich die Wolke wie ein Riesenfragezeichen auf, silbern umrandet, und gleich dahinter bricht ein Stück hervor, so ideal zart in seiner feinen, gleichmäßig leuchtenden Bläue ... Gestern standen die Wipfel noch wie braune Besen, heute färben sie sich freundlicher; ein grünlicher Schimmer geht darüber hin. Und dort der schwingende, wiegende[199] Punkt – jetzt über die Wiese um die alte, kerzengerade Pappel herum? Eine Schwalbe, fürwahr die erste – nein, so früh! Und da eine zweite, dritte – Willkommen, willkommen, daß euch die Reise geglückt! ... Kräftiger setzt der Pulsschlag des Frühlings ein; die alten Saftquellen brechen auf und steigen mächtig ins Licht, von der abgrundtiefen Wurzel bis in das höchste Gezweige der Krone die Welle verjüngten Lebens treibend ... Und der Tod ... Der Tod? Warum mußte Schlichting plötzlich den Gespenstergedanken denken? ... Was durcheist sein junges Blut?

Er springt auf. Lachen und Schreien die Treppe herauf ...

Schlichting eilt an die Thür und horcht hinaus.

»Nein, es ist wahrhaftig zu stark; treibt er sich noch da unten herum und macht seine Possen mit den Schneidersmädchen:.. Der Alte wird auswärts sein ... auf Stöhren ...«

Jetzt rief es herauf: »Schlichting! Schlichting! Komm doch herab!«

Nach kurzem Besinnen griff Schlichting nach seinem Hute, rollte den Aktendeckel mit den Manuskriptblättern, verschnürte die Rolle und steckte sie in die Tasche.[200]

Am Fuße der Treppe bot sich ihm ein unerwartetes Bild. Kuglmeier über das Geländer gelehnt in Hemdsärmeln. Das Beinkleid am Bunde aufgeknöpft. Eine kleine rothaarige Schneiderin lachend geschäftig, am Hinterteile abgesprungene Knöpfe anzunähen. Das übermütige Geschöpf, dem wilde Strähne über die Stumpfnase baumeln, im weiten, weißen, nur halb geschlossenen Kittel, ruft gellend: »So halten's doch still oder ich steche!« Und sie schien wirklich mit der Nadel daneben zu treffen und ins Fleisch zu stechen, daß Kuglmeier vor Vergnügen und wollüstigem Schmerz aufschrie und mit der Hand nach ihrem Arm haschte, dabei aber fehl griff und ihre Brust erwischte, dann ihre Taille umschlang, worauf sich das Mädchen wehrte, den Faden abriß und mit erhobener Nadel nach ihm stach. Aus dem geöffneten Gemach – der Schneiderwerkstatt – drangen lustige Zurufe: »Ohe, nichts gefallen lassen! Wehr' Dich, Monika! Recht so! Hahaha.« – –

Schlichting in seiner ernsten Weise blieb überrascht auf der halben Treppe stehen und schüttelte den Kopf. »Was ist denn das für ein Sodom und Gomorrah?«

»Nicht schelten, Schlichting!«[201]

»Doch, doch!« fiel die kleine rothaarige Schneiderin lachend ein, sich die wilden Strähnen aus dem Gesicht und die Lachthränen aus den Augen wischend. »Der Herr ist so ausgelassen und wir sollen ihm doch helfen. Herr Schlichting, halten Sie ihm die Hände, damit ich die Knöpfe annähen kann.«

Der Angeredete blieb unbeweglich stehen. Die Treppe lag im Dämmer, von aufgejagtem Staub durchzogen.

»Das ist die lustigste Geschichte, die mir in meinem Leben passiert ist, Schlichting, Wie ich mich da an der Treppenwindung vorbei drücken will, begegne ich dem schönen Kinde; es hat einen schweren Bündel Kleider auf dem Arm; ich knüpfe so ein kleines freundschaftliches Gespräch an und erbiete mich endlich, ihm die Last abzunehmen und tragen zu helfen ...«

»O, es war ganz anders, glauben Sie mir, ganz anders, Herr Schlichting,« rief in den höchsten Tönen die Rothaarige mit mühsam geheucheltem Ernst dazwischen und Funken verhaltener Lust blitzten aus ihren Augen, die treppenaufwärts der Gestalt des schlanken Kandidaten entgegenflogen, als wollten sie ihn herabholen. Denn Monika hatte längst diesen stillen, scheuen Dachstubenbewohner[202] in ihr begehrliches Herz geschlossen. Immer war er ihr ausgewichen und hatte kaum einen Dank für ihren Gruß; jetzt endlich war die gute Gelegenheit da, wo er ihrem Wort und Blick stand halten mußte, wo sie die Hand nach ihm ausstrecken und vielleicht im Vorbeigehen sich leise an ihm reiben konnte. Wie ein Traum war's ihr ums Herz ...

»Bitte, es war gar nicht anders – nach meiner Auffassung wenigstens; der schwere Kleiderpack rollt auf den Boden, ich bücke nach rasch darnach, ihn aufzuheben und kracks! springen mir alle hinteren Knöpfe. Nun denke Dir meine Verlegenheit, wenn das holde Mädchen nicht zufällig eine gewandte Künstlerin mit der Nadel wäre – wie stünde ich jetzt da!« Und er suchte die Rothaarige beim Kinn zu fassen, während er mit der andern Hand den Hosenbund hielt.

»Aber Kuglmeier!« machte Schlichting vorwurfsvoll im Nähertreten. »Zieh' wenigstens Deinen Rock wieder an.«

»Kuglmeier, heißt er, Kuglmeier, der Name paßt!« rief's in der Stube lachend durcheinander aus drei, vier, fünf Mädchenkehlen.

»Ihr Vater ist wohl nicht zu Haus, Fräulein Monika?«[203]

»Nein, Herr Schlichting, wir Mädchen sind ganz allein. Er kommt heute erst spät vom Stöhren. Er arbeitet in Föhring.«

»Und die Tante, wo ist die?«

»Auch auswärts, in Freising, bei ihrem Bruder, der Hochzeit macht. Wir erwarten sie nicht vor morgen.«

Jetzt stand sie ihm ganz nahe. Ein süßer Schauer durchrieselte sie. Sie öffnete durstig den Mund, als wollt' sie seine Worte trinken.

»Und was habt Ihr heute den ganzen Tag allein getrieben?«

»O Sie dürfen uns nicht verraten, Herr Schlichting, wir haben schon auch gearbeitet, aber zwei Freundinnen sind gekommen und da haben wir Kaffee gemacht und Bier geholt.«

»Er hört wieder Beicht; er examiniert,« spottete drinnen das älteste Mädchen, eine achtzehnjährige Blondine, und lachte frech.

Schlichting: »Natürlich, wenn die Katze fort, sind die Mäuse Herr.«

Eine Lachsalve antwortet aus der Stube.

»Warum besorgen Sie denn die Näherei nicht in der Werkstatt? Wenn jetzt jemand daher käme und sähe die Geschichte. – So geh' doch hinein,[204] Kuglmeier, und lass' bei verschlossener Thür Deine Hose kurieren!«

»Das wollt' ich ja, ich war schon glücklich d'rin, aber das Weibervolk warf mich heraus. Ich, ein schwacher Einzelner, gegen diese nadelbewaffnete Übermacht ... was soll ich da machen?«

»Leichtfertiges Gesindel,« grollte Schlichting in sich hinein. Die Geschichte gefiel ihm gar nicht.

»So macht jetzt rasch ein Ende, das ist ja skandalös!« herrschte er die Rothaarige an und suchte um die Beiden herum zu kommen und das Haus zu verlassen.

Allein die andern Mädchen hatten sich inzwischen gleichfalls auf den Gang gedrängt und die Thür hinter sich zugezogen. Das Licht, das durch die Fenster der Werkstatt auch den Gang und die Treppe spärlich beleuchtete, war damit abgesperrt, und es herrschte fast vollkommene Dunkelheit, die nur von unten herauf durch die Gasse notdürftigste Aufhellung erfuhr. Die Mädchen, ihrer tollen Laune zügellos folgend, wollten jetzt dem gestrengen Herrn Schlichting, der wie immer gar keinen Spaß verstand, erst recht einen Possen spielen und drückten und stießen sich mit hellem Gelächter, daß bald die eine, bald die andere[205] gegen Schlichting kollerte und ein wildes Gedränge entstand. Kuglmeier verlor jede Zurückhaltung und griff in den Haufen und faßte und schüttelte und raffte an sich, was er gerade erwischen konnte, während Schlichting, durch den Knäuel nach der Thürklinke tastend, plötzlich zwei bebende Arme um seinen Hals geschlungen und einen kußgierigen Mund auf seiner Wange fühlte. Das geschah alles so blitzartig, daß er in dem heißen Zusammenpressen von zuckenden, jugendlichen, leicht bekleideten Leibern, in der dunstigen, warmen Stickluft des dunklen Ganges momentan die Besinnung verlor und ein willenloses Opfer der tollen weiblichen Hetze war. Die großen Katzenaugen der katzengeschmeidigen Rothaarigen funkelten brünstig vor seinem Gesicht und ihre frühreif schwellenden Brüste preßten sich all ihn mit stürmischem, unbewußtem Liebesdrang. Wie ihr Atem fauchte und glühte, wie ihre Muskulatur sich straffte, wie die ganze zierliche Gestalt sich stählte und blutvoll an ihm hinauswuchs in leidenschaftlicher Umschlingung!

»Monika, verfluchte Hexe, willst Du gleich ...«

»Hören's auf, Herr Kuglmeier ...«

»Ich erstick' ... Jessas, er erdrückt mich ...«

»Gebt's Frieden!« schrie die Kleinste, eine[206] kaum fünfzehnjährige Rotznase von zigeunerhaftem Typus, die im Gedränge zu Boden gefallen und zwischen die schlenkernden Beine Kuglmeiers geraten war. Sie zwickte ihn zornig in die Waden, fuhr mit einer ungestümen Bewegung auf, daß Kuglmeier zurücktaumelte, und mit sicherem Griff entklinkte sie die Thür und warf sie weit zurück.

Im hereinbrechenden Licht stob der Knäuel auseinander. Mit Gekreisch, wie wilde Gänse bei'm Aufflug, wenn sie ein Feind überrascht, flatterten die Mädchen mit zerrauften Haaren und ungeordneten Kleidern aus der wirbelnden gelblichen Staubwolke in die still erstaunte Werkstatt.

»Die Monika hat angefangen ...«

»Halt Du's Maul, Pepperl ...«

»Ja, die braucht was zu sagen ...« erwiderte geringschätzig Monika, schleuderte den Pantoffel vom Fuße und warf sich mit ärgerlichem Schwung der Hinterbacken auf den Werktisch, daß es krachte.

»Schön war's, lustig ...« keuchte die Dritte, mit hocherhobenen Armen ihren schwarzen Haarbusch zusammensteckend, während sie die herabgerissene Schürze auf dem Boden nachschleifte.

»Noch ein Bier holen, der Spaß hat mich[207] durstig gemacht,« rief die Älteste und klapperte mit dem Deckel des leeren Maßkrugs.

»Ihr seid schon besoffen!« zürnte die Jüngste. »Was Hab' ich von der Hetz g'habt? Den Zopf hat er mir schier ausg'rissen.«

»Sind sie noch draußen?« fragte Monika mit glühendem Blick und sauste vom Werktisch herunter an die halboffene Thür und steckte spähend den Kopf hinaus ...

Mit heißem Kopf beugte sich Schlichting nieder und hob die zertretene Manuskriptrolle auf ...

»Wohnt in diesem Hause der Herr Kandidat Schlichting?« ertönte eine vornehme, sonore Frauenstimme aus dem Zwielicht des mehrere Stufen tiefer gelegenen Vorraums gegen den Treppenaufsatz herauf.

Schlichting war wie vom Donner gerührt, seine Schläfe hämmerten. Mit dem Rücken gegen die Wand drückend, als ob er eine schützende Anlehnung suchte, stand er da, in der einen Hand den Hut, in der andern die Manuskriptrolle in krampfhafter Spannung. Kuglmeier, nachdem er seinen Rock aus dem Staub aufgerafft, war beim ersten Wort in die Werkstatt geflogen, wie von einer unsichtbaren Macht geworfen – und hinter[208] ihm schloß sich wie durch Zauber die Thür so heftig, daß alle Angeln knarrten.

In die Stille des plötzlichen Dunkels klang wieder die Stimme von unten: »Ist niemand hier? Ich meinte doch ...«

»Zu dienen, gnädige Frau ...« preßte Schlichting hervor in einem Ton, der ihn selbst ganz fremdartig berührte, fast erschreckte. Er stand noch wie angemauert.

»Ah, Sie sind's ja selbst, den ich suche.« Bei diesen Worten nahm die Sprecherin mit vorsichtigem, aber doch resolutem Tritt die Stufen. »Wie dunkel und staubig es hier ist! Und hier wohnen Sie?!«

Jetzt stand sie vor ihm, die hohe Gestalt der Frau Kommerzienrat Leopoldine Raßler, ungewohnt einfach in einen grauen Frühjahrsmantel gekleidet, ein schwarzes Spitzentuch um Kopf und Hals geschlungen, als hätte sie von ihrer Wohnung nur einen Sprung über die Gasse gemacht, um schnell eine Besorgung auszuführen. Sie ließ Schlichting keine Zeit zu weiterem Besinnen.

»Führen Sie mich in Ihr Zimmer. Ist's hier?«

»Nein, zwei Stiegen höher, gnädige Frau.«

»Gehen Sie voran!«[209]

Er glaubte, die Treppe schwanke unter seinen Füßen. Er taumelte wie einer, der seekrank vom Schiff aus Land steigt.

Frau Raßler im Hinaufsteigen halblaut: »Erschrecken Sie nur über meinen Besuch, Herr Schlichting. Ich komme, einen Dienst von Ihnen zu erbitten.«

Beim Eintritt in die Studierstube unterm Dach: »Sie haben keine Zimmernachbarn? Wir haben nicht mit Lauschern zu rechnen?«

»Wir sind vollkommen ungestört, gnädige Frau.«

Er lehnte sich mit den Waden gegen die Bettlade.

»Das ist mir lieb, weniger um meinet- als um Ihretwillen. Ich möchte Sie nicht unnützerweise ins Gerede bringen. Die Welt urteilt ja gleich so entsetzlich schlecht. Und Sie sind so brav, so still und gut. Glauben Sie, daß mich jemand bemerkt und erkannt hat, da unten am Treppenabsatz? Ich hörte Lärm bis auf den Weg hinaus und das bestimmte mich, am Eingang laut zu fragen.«

»O, etwas lauter Scherz vielleicht von den Mädchen in der Schneiderwerkstatt.«

»Sie wechseln die Farbe; Sie sind doch nicht[210] leidend, Herr Schlichting?« fragte sie, ihm nahe ins Gesicht blickend.

»Leidend? O nein, gnädige Frau. Etwas nervös. Die Frühlingsluft, die Überraschung ...«

»Ja, mein Besuch muß Sie allerdings überraschen. Geben Sie mir Ihre Hand, Herr Schlichting, Sie haben mir noch nicht ›Grüß Gott‹ gesagt.«

»Grüß Gott, Frau Kommerzienrat!« Und er drückte die schlanke dunkel behandschuhte Rechte, die sie ihm kordial hinstreckte wie einem guten Kameraden. Nun fühlte er sich wieder frei und sicher.

»Ich darf auch ein wenig Platz nehmen?«

»Hier, bitte« – und er zog eilig einen alten Rohrsessel aus der Ecke am Fußende des Bettes, Kleidungsstücke, Bücher, eine Kaffeebüchse, eine Zündholzschachtel, ein Schachspiel, die darauf lagen, auf den Boden streifend.

»Keine Umstände!« sagte sie mit ihrer klangvoll vibrierenden, heute etwas belegten Stimme. »Ich sitze schon.«

Sie hatte sich auf dem altmodischen Holzstuhl am Schreibtisch niedergelassen, den rechten Ellbogen auf die Kante gestützt, den Kopf halbseits gegen das Fenster gewendet, so daß sich die Umrisse[211] in den reinen Linien einer klassischen Silhouette von dem lichten Hintergründe des offenen Fensters abhoben, während die Stube sich mählich mit den tiefen Dämmerschatten des Abends füllte, aus denen allein das Bett, das Schlichting mit einigen verstohlenen raschen Griffen von den Spuren der nachmittägigen Unordnung säubern wollte, weiß hervorschimmerte.

»Setzen Sie sich zu mir, Herr Schlichting. So. Sie sind so lieb und aufmerksam mit meinen Kindern. Das hat Ihnen mein Herz und mein Vertrauen gewonnen. Nicht wahr, ich kann Ihnen vertrauen, Herr Schlichting?«

Sie sagte das wieder in ihrem eigenthümlichen, gewinnenden Tone, der dem Hörer wie süße Musik klang.

»Ja, gnädige Frau,« erwiderte Schlichting im Brustton der Überzeugung, ganz überwältigt von so viel Güte und Geheimnis. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

Dabei rückte er seinen alten Strohsessel so nahe, daß sich fast ihre Knie berührten.

»Schließen Sie das Fenster, es weht kalt vom Wasser herüber. Die Abendluft ist nicht gesund.«

Schlichting sprang von seinem Rohrsessel auf und eilte ans Fenster. Er mußte sich halb über[212] die Frau beugen, um hm zu gelangen; dabei streifte er ihre Schulter und der Duft des vollen dunklen. Haares umwehte ihn. Mit zitternder Hand schloß er das Fenster. Wie blutiger Flammenschein lohte das Abendrot über den Himmel hin und rieselte durch die tiefschwarzen Wipfel der Maximiliansanlagen.

»Es wird so schnell Nacht. Soll ich nicht Licht machen?« Er wurde ganz verwirrt und seine Stimme schwankte unsicher, als ihm einfiel, daß am Ende kein Tropfen Öl mehr in der Lampe und auch die letzte Stearinkerze aufgebraucht sei. »Ich bin blamiert,« dachte er.

»O nein, verhandeln wir nur im Dunkeln ... Also hören Sie. Ich bin hilflos. Sie ahnen vielleicht, wie wenig ich auf meinen Mann rechnen kann in vielen wichtigen Stücken. Nicht wahr, das überrascht Sie eigentlich nicht?« Nun setzte sie etwas höher, aber leiser ein, wie aufseufzend: »Du lieber Gott, man muß die Männer nehmen, wie man sie bekommt ... Da war mir der Baron Drillinger manchmal eine rechte Hilfe. Sie verstehen das, nicht wahr, Herr Schlichting?«

Verstehen? Vorläufig verstand er gar nichts. Es war ihm alles wie ein Traum, ein sehr pikanter, aber noch mehr verworrener Traum ...[213] Wie vom Ewigweiblichen gehetzt, ohne seinen Willen und sein Zuthun ... Aber Schlichting nickte eifrig im Dunkeln; sie rückte unruhig mit ihrem Stuhl.

»Der Baron ist unser Hausfreund ... Sagten Sie etwas?«

Nein, er sagte nichts, der gute Schlichting, nur hatte ihm der Ausdruck »Hausfreund« sonderbar ins Ohr geklungen, verdächtig, fast unangenehm. Die große, schöne, edle, herzensgute Frau – und »unser Hausfreund«; es hatte etwas Banales, Gemeines für sein Gefühl; er gab sich in diesem Augenblick keine Rechenschaft warum, wieso – aber es war seine Empfindung. Der bescheidene Mann hätte nicht an des Barons Stelle sein mögen.

Und doch glich es einer Abbitte, als er weich erwiderte: »O nein, gnädige Frau, ich sagte nichts. Ich begreife, das heißt, ich suche alles zu begreifen.«

»Sie sind immer lieb,« fuhr sie fort und griff nach seiner Hand, die flach und unbewußt trommelnd auf dem Tischrande lag, und zog einen Finger nach dem andern, wie spielend, in ihre behandschuhte Rechte; und indem sie jetzt seine ganze Hand mit ruhigem Drucke festhielt, sprach sie hastig mit vorgebeugtem Haupte und fest auf[214] ihn gerichteten Augen, die durchs Dunkel Phosphoreszierten: »Sie sollen nur helfen, daß er unser Hansfreund bleibe, es ist notwendig für unser aller Frieden und Glück. Er hat plötzlich sein Verhalten geändert. Ich habe ihm heute in aller Frühe geschrieben, ich habe ihm Boten geschickt, ich habe ihm nachmittags telegraphiert, umsonst, ich bin bis zu dieser Stunde ohne Antwort. Und es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit. Er ist hier, er ist nicht verhindert, mir zu antworten. Er schweigt mit Willen. Er hat eine krankhaft reizbare Natur. Wer weiß, was geschehen ist, um ihn gegen uns aufzuhetzen! Und oft fehlt ihm so ganz das Talent, seiner Stimmungen Herr zu werden und sich fremden Einflüssen zu entziehen. Ach, daneben hat er so vortreffliche, so einzige Eigenschaften ... Den Vormittag ist er bei dem Bankier Weiler gesehen worden, mittags hat er in sehr übler Laune im Café Paul gespeist – dann habe ich seine Spur verloren, keine meiner Anfragen wurde beantwortet. In seine Wohnung kann ich persönlich nicht dringen; seine Hausdame hat die stärksten Vorurteile gegen mich und würde mich nicht empfangen. Das ist eine alte, bigotte Jungfer, die schon seit Menschengedenken das Drillingersche[215] Hauswesen wie ein Drache bewacht und immer ihren Willen durchgesetzt hat. Vielleicht hat auch sie wieder ihre Hand im Spiel, wer weiß! O diese gestrenge Jungfer Brigitta ist mir schrecklich aufsässig. Der Baron selbst fürchtet sich oft vor ihr. Das weiß ich bestimmt, aus seinem eigenen Munde ... Und in meiner entsetzlichen Ratlosigkeit hab' ich an Sie gedacht ... An Sie, Herr Schlichting, den lieben, guten Lehrer meiner Kinder, wende ich mich wie an einen heiligen Nothelfer!« Und mit leidenschaftlichem Druck zog sie seine Hand an sich und legte sie auf ihre Brust: »Fühlen Sie, wie's hier klopft? Ich bin in einer entsetzlichen Herzensangst. Ich liebe ihn als meinen besten Herzensfreund und kann ihn nicht missen. Es war mir ein furchtbar schwerer Schritt, zu Ihnen zu kommen und Ihnen das zu sagen – aber ich wußte mir niemand, zu dem ich so viel Vertrauen hätte ... Ich bin von Feinden umgeben ... Ich habe heute in aller Frühe einen Drohbrief erhalten ... Man will meinen Mann öffentlich bloßstellen ... Ich habe einen andern Brief erhalten, der voll hämischen Eifers von einer neuen Liaison des Barons mit einer bekannten Künstlerin berichtet, und in Ausdrücken, o, in Ausdrücken ... Alles hat sich wider mich[216] verschworen ... Und noch viel anderes ist mir zugetragen worden: er soll sich in einer sehr schwierigen finanziellen Lage befinden durch Spekulationen, zu welchen ihn der Bankier Weiler verleitet habe, und so weiter. Ich habe ihn oft gewarnt. Umsonst. In Geldangelegenheiten ist er so optimistisch und vertrauensselig wie ein Kind. Er träumt immer noch von fabelhaftem Erwerb und Gewinn. Seltsamer Widerspruch seiner idealen Natur. Gräßlich, wenn er durch einen großen Verlust plötzlich aus diesem Traum gerissen würde. Dieses Erwachen könnte ihm den Verstand kosten. Er ist ja von einer so krankhaft übertriebenen Feinfühligkeit ... Und alles das stürmt in vierundzwanzig Stunden auf mich ein, während er sich plötzlich mir entzieht ... Ach, ich bin namenlos unglücklich ... Alles verliere ich mit ihm ... Können Sie mir das nachfühlen, Herr Schlichting? Können Sie das?«

Herr Schlichting befand sich in einer ausgesuchten Verlegenheit. Erst war ihm jedes Wort von der Hausfreundschaft wie ein Stachel in die Seele gegangen, dann unterstrich er den Fortgang des leidenschaftlichen Berichtes in kühleren Gedanken mit einem »Auch sie«, und zuletzt gewann sein natürliches Mitempfinden wieder die[217] Oberhand. Und gar als sie seine Hand auf ihre Brust drückte, war er so tiefinnerlich von ihrer Hilflosigkeit, ihrem Leid, der Berechtigung des Schmerzes und der Tücke des Schicksals durchdrungen, daß er ihr hätte zu Füßen sinken und den Saum des Gewandes küssen mögen.

Jetzt, wo sie ihn fragte: »Können Sie das fassen?« da lockte es ihn wieder mit der ganzen überlegsamen Kraft des Impressionisten herauszurücken: »Gewiß kann ich das, denn es ist ein wunderschönes Dokument menschlicher Verirrung; wenn ich Ihnen aber als ehrlicher Mann raten soll, so lassen Sie künftig die Dummheiten der Hausfreundschaft bleiben und lassen den Baron laufen wohin und so weit er will, Ihr Gatte muß Ihnen genügen.«

Nein, das moralisierend zurechtweisende Schwänzchen »Ihr Gatte muß Ihnen genügen« wäre eine bodenlose Anmassung gewesen. Kein Gatte in der Welt muß genügen. Es gibt Gatten, die keinen Schuß Pulver wert sind. Das Weib hat auch dem Gatten gegenüber das unanfechtbare Recht der auf gründliche Erfahrung und tiefe Wissenschaft gestützten Kritik – und wenn sie kraft dieser Kritik experimentiert, mit einem Hausfreunde vergleichende Studien treibt ... ja ums Himmelswillen,[218] was geht das unbeteiligte Dritte an? Das ist ja alles so unausdenkbar intimster Natur ...

Allein Gefühl und Verstand lagen nur einen Moment in so seltsamem Widerstreit. Die vornehme Frau hatte mit ihrer Herablassung und er Enthüllung ihres Leides schließlich eine solche Gewalt über seine kühlere Einsicht gewonnen und die ganze Luft seiner abendlich stillen Stube so mit elektrischer Spannung erfüllt, daß es ihm in allen Nerven zuckte und prikelte, daß er selbst leidenschaftlich erregt, nur die Worte hervorbrachte: »O, befehlen Sie über mich, was kann ich für Sie thun?«

Dabei liebkosten seine Finger ihren Handschuh und streichelten bis zum Handgelenk, wo durch eine Öffnung des Leders sich ein Stückchen kerniges, heißes Fleisch herauspreßte; er tippte mit den Fingerspitzen darauf, erst zaghaft, dann fest, und wiederholte dringlich: »Was kann ich für Sie thun?«

In solchen Lagen und Stimmungen fallen alle konventionellen Schranken, welche die Gesellschaft sonst mit so steifer Komödienspielerei zwischen den Menschen aufrecht erhält und im Namen der Sitte, des guten Tones und ererbter Gesetze von jedermann respektiert wissen will. Im Leid[219] gibt es keine Standesunterschiede, da bricht das allgemeine, ursprüngliche Menschengefühl hervor wie eine Frühlingsblume aus dein letzten Eis und Schnee. Da steht das Herz zum Herzen auf du und du. Jede Not, innere und äußere, ist eine Gleichmacherin; sie setzt Ich und Nicht-Ich auf die gleiche Linie und rückt sie so nahe zusammen, daß sie in eins verschmelzen. Die fremde Not wird als die eigene empfunden, sie ist nichts Fremdes, nichts Gleichgültiges mehr. Du weinst über das Weh des andern – es ist dein eigenes. Tat-twam asi! Das bist du! Alles was lebt und leidet, das bist du selber. Alle Vielheit ist Täuschung und Schattenbild in Raum und Zeit – und Raum und Zeit sind selbst Täuschung und Schattenbild des einzigen ewigen Wesens. Tat-twam asi! Das ist die Uroffenbarung der Menschheit, Kern und Stern aller Evangelien, aller heiligen Schriften, in welchen Zeichen und Zeiten sie auch geschrieben sein mögen.

War das noch die vornehme, reiche, beneidete Frau des Kommerzienrats, die hier in seinem dunklen, armen Stübchen vor ihm saß auf dem harten Stuhl und deren Hand er in der seinen preßte, er, der obskure Kandidat der Philologie, der »Einsame«, wie ihn die Kameraden nannten?[220] Wie eine Vision erschien ihm jetzt wirklich das Menschenpaar unter dem Weidenbaum am nächtigen Isarstrand, und wie er die Züge erforschte, da waren es keine fremden: es war sein Antlitz und die ihm gegenübersitzende Frau barg ihr Haupt in seinem Schoße ...

Und draußen rauschte leise die Isar ein Trostlied.

Jetzt konnte er auch im Ernste den brüderlichen Sorgenteil haben, den ihm Kuglmeier erst vor wenigen Stunden hier im Scherz zugesprochen hatte.

Und hatte er nicht Herzensnot wie sie? Wie sollte er nicht zu seiner Kümmernis all' ihren Kummer nehmen? Wie sollte er sie nicht trösten, wie ein Bruder seine Schwester tröstet?

Er hörte kaum ihr still verhaltenes Schluchzen, er sah nicht die Thränen, die sich langsam aus ihren schönen, großen Augen lösten und die Wange herabrollten; in dichter Finsternis saßen sie da, Hand in Hand, durchflutet von dem stürmischen Lebensgefühl, das sich seines Anrechtes auf Glück nicht stumpf begeben, nicht feig entsagen will.

»Was kann ich für Sie thun?« fragte er[221] zum drittenmal im lautesten Herzenston, sich zu ihr hinbeugend und ihre beiden Hände fassend.

Ihr Atem vermengte sich mit dem seinigen, als sie schluchzend hervorstieß: »Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht!«

»Nein, ich weiß es nicht. Ich kann jetzt nichts denken, nichts ordnen. Ich bin plötzlich so erschüttert. Ihre warme Teilnahme hat alles in mir aufgerührt.«

Schlichting nach einer Pause: »Ich habe wenig Fühlung mit der Münchener Gesellschaft, ich bin ein einsamer Mann der Studien und der Natur. Die soziale Maskerade interessierte mich seither fast nur als Studienobjekt. Außer meinem ganz kleinen Kreise hatte ich so gut wie keinen Verkehr. Allerdings ist mir doch mancherlei von dem Wirrsal des Stadtlebens durch zuverlässige Mitteilung vertraut geworden. Erst heute Vormittag habe ich die sonderbarsten Geschichten aus meinem Viertel erfahren. Zum Beispiel über das Preßbanditentum hat mich Doktor Trostberg ...«

»Den kennen Sie?«

»Der Sonderling ist einer meiner intimsten Bekannten, soweit man mit ihm überhaupt intim werden kann.«

»Das ist ein Weg!« rief Frau Raßler erfreut.[222] »Baron Drillinger steht mit Doktor Trostberg in Verkehr; sie besuchen sich oft ...«

»Das ist mir nicht unbekannt.«

»Sehen Sie! Ich weiß, der Baron, hält große Stücke auf ihn.«

»Wenn ich's über Trostberg vermöchte, in unserem Sinne auf den Baron zu wirken!«

In unserem Sinne ... sagte der gute Schlichting.

»Gefunden! Das wäre eins. Und das andere: den Preßbanditen auszuforschen, um welchen Preis er uns in Ruhe lassen will. In der gestrigen Nummer hat er eine so schamlose Anspielung gemacht und mich sogar mit dem jungen Engländer in Beziehung gebracht, der in unserem Hause wohnt. Das ist nur das Vorspiel. Er hat angekündigt, in der nächsten Nummer eine vornehme Musterehe in der Quaistraße zu schildern ... Ich habe schon im vorigen Jahr durch meine Dienerin auf zwei Exemplare abonnieren und für zwölf Exemplare bezahlen lassen, ohne das Blatt zu beziehen. Es scheint das genügt dem Hallunken nicht. Daher die Drohung, daß er auch meinen Mann angreifen will ... Mein Mann darf nicht bloßgestellt werden, schon um der Kinder willen ...«[223]

»Das übernehm' ich auch.«

»Und bald!«

»Morgen in aller Frühe.«

»O prächtig, wie Sie Rat und Hilfe wissen. Mein guter Stern hat mich zu Ihnen geführt. Wie soll ich Ihnen danken!«

»Danken? Nichts davon, Frau Kommerzienrat.«

Die konventionellen Masken legten sich wieder über Herz und Gesicht.

»Jetzt reichen Sie mir die Hand und führen mich still und unbemerkt aus dem Haus.«

Schlichting kramte aus der Schreibtisch-Schublade eine Schachtel mit großen Wachszündern – noch ein einziges Stück war darin. Er wollte anstreichen.

»Nicht doch; ohne Licht. Es soll mir jetzt niemand ins Gesicht blicken.« Sie ordnete ihren Schleier.

Schweigend geleitete er sie an der Hand bis zur ersten Treppenstufe, dann trat er vorsichtig einen Schritt voraus; sie legte ihre linke Hand weich und fest auf seine Schulter, mit der rechten tastete sie an der Wand – und so bewegten sie sich Stufe um Stufe die dunkle Stiege hinab, fast geräuschlos. Das Petroleumlämpchen, das[224] sonst vor der Treppenwendung der Schneiderwohnung mit einer trüben, ölhungrigen Flamme in einem halb zerbrochenen, angerußten Cylinder qualmte, hatte sich wohl heute noch keiner lichtpflegenden Hand erfreut? Das Haus schien wie ausgestorben. Vollständige Finsternis herrschte. Und doch verriet beim Nähertreten ein warmer, brenzlicher Dunst, daß das Lämpchen schon gebrannt haben mußte und der Docht erst ganz kurz abgedreht worden war. Sollte die Hand eines Aufpassers ...? Vor der Thür der Werkstatt trat Schlichting unwillkürlich etwas sachter und zager auf. Unnötige Vorsicht. Keine Maus rührte sich. Doch! War's nicht wie eine geschmeidige, jugendliche Gestalt, was sich da fest zwischen den Thürpfosten in die Ecke drückte? Auf den Zehenspitzen sich streckte, um sich dünner und unsichtbarer zu machen? Leuchteten nicht ein paar glühende Augen, atmete nicht eine erregte Brust und hielt plötzlich vor den Vorüberschreitenden den Atem an?

Die Frau Kommerzienrat strauchelte. »Oh!«

»Bitte, gnädige Frau, etwas mehr nach links. Jetzt, so.«

Über die Schwelle der nur angelehnten Eingangsthür hinaus, winkte die verschleierte Dame[225] mit der Hand zurück, was zugleich als Abschiedsgruß und Aufforderung zum Zurückbleiben zu nehmen war, dann eilte sie mit großen, elastischen Schritten davon. Im Hause knallte eine Thür zu, so heftig, daß Schlichting erbebte. Noch kreuzten sich so widerstrebende Gedanken und Empfindungen in seinem Innern, daß er sich über nichts Äußerliches klare Rechenschaft geben mochte. Daß es aber die rothaarige Monika gewesen, die, nachdem sie an seiner Zimmerthüre gelauscht und sich von der Anwesenheit der Frau Kommerzienrat überzeugt hatte, in wütender Eifersucht das Ende des Stelldicheins abwarten, die beneidete und gehaßte reiche Frau das Haus verlassen sehen wollte und doch in einer plötzlichen Anwandlung von Furcht die Treppenlampe auslöschte, – dieser Gedanke wäre Schlichting in aller Ewigkeit nicht in den Sinn gekommen.

Wie ein Träumender wandelte er einigemal vor dem Hause auf und ab, dann kam er in die Liebigstraße, dann in die Kochstraße, dann stand er vor einem niedrigen Gartenzaun mitten im Hüttenviertel, starrte über die kleinen, verwahrlosten Beete auf ein beleuchtetes Fenster, hinter welchem ein alter Mann in weißen Hemdärmeln am Tische saß und laut aus der Zeitung vorlas.[226] An seiner Seite kauerte ein Weib, mit einem Strickstrumpf in der Hand, eingeschlafen, wie es schien, das Kinn aus der Brust. Zwei Rangen, mit frischen, wilden Gesichtern, löffelten ihre Suppe aus der Schüssel. Das Hänschen hockte so tief in der Erde, daß das Fenster fast bis an den Gartenboden reichte. Vor dem Fenster war die letzte Weihnachtstanne in den Boden gesteckt; der wurzellose Christbaum stund wie schaudernd in dem kalten Licht, das die Petroleumlampe durch die Scheiben warf. Ringsum schwarze Nacht. Schlichting starrte noch in das Licht. Ein streunendes Frauenzimmer näherte sich, streifte ihn und flüsterte: »Schatz, komm' mit«. Er antwortete nicht. Er war in einer fremden Welt. Seine Gedanken schlugen sich mit Phantomen herum. Der Hausfreund, Monika, Flora – –

Ein kleines Mädchen, einen schweren Maßkrug mit beiden Händen vor sich hintragend, trippelte an ihm vorüber. Ein Hund lief hinterher, emsig den Boden beschnuppernd. Vor Schlichting schlug er an – wauwau, wau – dann hatte ihn die Finsternis verschlungen.

Schlichting setzte sich wieder in Bewegung, ganz mechanisch. Seine Gedanken drehten sich wie im Karussel. Flora, Monika, der Hausfreund,[227] der Preßbandit, Kuglmeier, die Frau Kommerzienrat. Die Nacht wurde schwärzer. Der Himmel blieb sternenlos. An einer langen Holzbaracke vorbei. Ein grelles Licht liegt als breiter, gelber Streifen auf her Straße. Das kommt aus dem Fenster eines Fleischerladens. Rote Fleischstücke, weißschimmernde Schweinsviertel, braune Wurstkränze hängen im Rahmen, davor eine flackernde Öllampe. Unter der niedrigen Hausthür ratschen zwei Weiber in heiserem Sopran. Ein stinkiger Blutgeruch dünstet aus dem schwarzen Schlund des engen Hausflurs. Weiter. Soldaten mit schweren, rasselnden Schleppsäbeln kreuzen den Weg. Ihr trabender Schritt verhallt, die Schleppsäbel verklirren. Stille. Niemand. Jetzt miaut eine Katze vom Dach herab ihre Liebesschmerzen in die schweigende Nacht. Eine lange Lichterkette blitzt auf. Das ist wieder die Liebigstraße. Links in die Sterngasse. Eine Reihe von zwölf, fünfzehn einstöckigen Häuschen auf der rechten Seite, eins wie das andere, jedes mit einer alten, wurmstichigen Altane. Man riecht den Wurmfraß, das vermorschte, verwitterte Holz. Aus einem Häuschen links, nicht viel größer als ein Ziegenstall, hört man Kinder durcheinander weinen und wimmern. Aus dem niedrigen Eingang bücken[228] sich Männer heraus, in weißen Chorhemden, mit Windlichtern und verschwinden um die Ecke, spukartig, geisterhaft. Ein fernes Klingeln. Vorbei, vorbei. Immer noch die Sterngasse. Wenige Fensterchen beleuchtet, einige mit blendend weißen Vorhängchen. Ein Mädchen auf dem Altan, ein Bursch mitten in der Gasse – und sich doch so nahe, daß das Zwiegespräch flüsternd geführt wird. Ein Fensterflügel geht auf, ein weißgetünchtes Stückchen Wand mit einem Kruzifix, einer Schwarzwälderuhr, einem Kalender blickt vom Stübchen in die nächtige Gasse. Links eine Wirtschaft. Stimmengewirr, Deckelauf- und Zuschlagen, Bier-, Tabaks- und Speisendunst. Ein Gast wird an die Luft gesetzt. Fluchen, Schreien, Gelächter. Davon, davon!

Der Hinausgeworfene holt Schlichting ein und empfindet ein dringendes Bedürfnis, sich dem Unbekannten zu erklären. Eine lange, konfuse Geschichte.

»Nur langsam, junger Herr, wir haben den nämlichen Weg, jawohl, ganz den nämlichen.«

Schlichting wendet sich auf dem Absatz um, der Erzähler schwankt den Weg mit ihm zurück. Die Geschichte wird immer verworrener, was die Führung der Fabel, immer zwangloser und intimer,[229] was den Ausdruck betrifft. Schlichting trabt, der andere mit. Jetzt wieder langsamer.

»Sie müssen meine Rechtfertigung hören, junger Herr, ju – junger Herr. Die Lumpenbande, sag' ich Ihnen. Die Sau – –«!

»Verzeihen Sie, das geht mich nichts an. Erzählen Sie das auf der Polizei. Ich bin Student.«

»Student? Hahaha. Was studieren Sie denn? Gripso-Grapsologie? Sie, das ist eine Wissenschaft! Das ist die einzige Wissenschaft für die mo – moderne Zeit. Die müssen Sie aus dem Fundament studieren, die Gripso-Grapsologie. Wenn Sie die nicht loshaben, hilft Ihnen alles andere nichts, junger Herr. Aber sein, sehr sein. Juristen, Mediziner, Geistliche – alles eins, sag' ich Ihnen. Die Gripso-Grapsologie ist die Hauptsache. Das ist die Grundlage von allem. Aber sein, sehr sein. Und dann im Großen. Verstanden? Nur im Großen. Hahaha. Sollst fallen Sie immer durch und werden in der Frohnfeste aufgefangen oder in der Gruftgasse angeschwemmt. So wahr ich Hans Rindler heiße: das kenn' ich, junger Herr. Glauben Sie mir, die Reichssuppe hinter Schloß und Riegel ist ein verdammtes Fressen; die liegt mir noch im Magen – – –«[230] Er hatte Schlichting beim Rock gefaßt und redete fanatisch in ihn hinein und lallte und röchelte und rülpste – und seine Augen funkelten wie die eines wilden Tieres. Es war eine unheimlich einsame Gegend; eine schmale, lange, nur mit einer Richtungslaterne beleuchtete Straße, links eine mannshohe Mauer, über welcher ein scharfer Gestank herüberwehte wie von einer Pferdestallung, rechts eine hohe Einplankung aus dicken Eichenbohlen. Schlichting vermochte sich nur mit Mühe zu orientieren: die dicke, schwarze Masse jenseits der Einplankung mußte der Holzgarten sein. Der Betrunkene geberdete sich immer aufdringlicher und gemeiner. Schlichting machte sich mit einer geschickten Bewegung los, aber so energisch, daß der gripso-grapsologische Sprecher das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.

»Wart' Lump, Tropf, g'selchter Aff' ...« gellte es dem Davoneilenden nach.

Atemlos kam Schlichting vor seiner Behansung an.

Unter der Hausthür lehnte Kuglmeier, rauchend und am Stummel kauend.

»Wo treibst denn Du Dich die ganze Zeit herum, Schlichting – ohne Hut? Und die Pforte zu Deinem Allerheiligsten unter dem Dach unverschlossen?[231] Ich habe Dich oben gesucht, Dein Hut hing am Nagel, Dein Überrock ditto. Ich konnte nicht begreifen. Habe die Mädchen zurückbegleitet. Donnerwetter, das war ein famoser Bummel in der Abenddämmerung im englischen Garten, voller Romantik. Aber so thu' doch auch den Mund auf! ...«

»Laß mich hinausgehen. Mich fröstelt.«

»Die andern warten gewiß noch im ›grünen Baum‹ ...«

»Laß' warten, was warten mag. Gut' Nacht.«

»Dem rappelt's. Wozu hab' ich auch auf ihn gewartet? Ich hätte mir's denken können, daß er wieder einen Moralischen hat.«

Kuglmeier warf den Zigarrenstummel weg und trollte pfeifend davon.

Im »grünen Baum« herrschte noch reges Treiben. Dem kleinen dicken Kuglmeier wurde ganz poetisch zu Mute, als er sich der Wirtschaft näherte. Wie das kleine altmodische Haus mit den engen traulichen Stübchen, das unter dem mächtigen Geäst uralter Kastanien mit seinem moosigen Ziegeldach versteckt lag und seine schlichten Holztische und Bänke hart bis an die Isar hinschob, im Glänze seiner Gasflammen ihm entgegengrüßte![232] Lag's doch wirklich da wie ein seliges, schimmerndes Eiland, eingehüllt in schwarze Nacht, als wär' es nur den Eingeweihten und Auserwählten auffindbar. Und das delikate Bier, und die stattlichen Portionen saftiger Braten und Haxen und Ripperln, lind die gute altmünchenerische Art der Bedienung, und die allweil fidele Gesellschaft! Lautes Reden und Diskurieren, Zutrinken und Singen, die festen Schläge auf den runden Banzen bei'm Anzapfen, das Fortrollen der leeren Fässer, der Ausruf des behäbigen, schmunzelnden Wirtes mit Posaunenstimme: »Meine Herren, frischer Anstich!« die geschäftig hin und her fliegenden stereotypen Bestellungsphrasen in der Schenke und in der Küche, dazwischen ein lustiges Auflachen der Schenk- und Küchenmadeln, die sonore Kommandostimme der Frau Wirtin am Heerde, wo in weiten Kesseln über dem prasselnden Feuer das Fett zischte und die Braten quietschten und die Dünngeselchten brizzelten und die Haxen dampften und ein warmer lieblicher Schmalzduft durch die offnen Fenster und Thüren das Haus durchströmte und über die Tische hinstrich und der Rauch aus dem Schlot in den überhängenden Ästen und Zweigen der jungbelaubten Riesenkastanien verwirbelte: das[233] alles zusammen gab ein so herzerquickendes Bild frohen Lebensgenusses und gesunder Lebensverdauung, daß des Weltlaufs Elend und Sorgen wie ausgeblasen schienen an den Stammtischen dieser zauberhaften Wirtshaus-Idylle an der rauschenden Isar.

Kuglmeier hemmte seine Schritte und überlegte: Was sollte er den Kameraden sagen, wenn sie ihn wegen seines langen Ausbleibens mit Fragen bestürmten? Soll er ihnen den abenteuerlichen Nachmittag und das Gaudium des Abends haarklein erzählen? Soll er ihnen einen Bären aufbinden? Werden sie ihn nicht mit seinen Schneidersmädchen auslachen und zur Zielscheibe ihrer Witzeleien und Sticheleien machen? Der großartige Rheinländer mit seiner kritischen Preußenschnautze wird ja wohl auch da sein ... Immerhin! Das wird, sich finden. Er schmatzte mit der Zunge und schnupperte mit der Nase und fühlte schon den braunen Labetrunk die Kehle hinabrieseln zwischen den herrlich schmeckenden Bissen eines gelungenen Saftbratens oder Beefsteaks mit Ei ... Das ist das Wunderschöne an einem gesunden Umtrieb mit den drallen Dirnen, daß man so famosen Appetit bekommt, und das Wunderschöne am Essen und Trinken,[234] daß man hernach die Reize der holden Weiblichlichkeit um so genußreicher zu schätzen weiß.

Mit diesem sybaritischen Gedanken stiefelte der kleine, dicke Kuglmeier tapfer auf den »grünen Baum« los, während der Gesang eines feuchtfröhlichen Burschenliedes der »Isaren«, welche zu Ehren eines verdienten Korps-Philisters im ersten Stock Abschied kneipten, aus den offenen Fenstern und die Treppe herab ihn brausend umschallten.

»Ah, der Herr Kuglmeier,« grüßte ihn die Kellnerin mit lachenden, rehbraunen Augen, indem sie vom blechbeschlagenen Schenkbrett sechs schäumende Maßkrüge mit beiden Händen im Schwünge herabrutschte; daß die weißen Schaumflocken weit umherspritzten. »Draußen im Garten sind die Herren. Eine Maß, nicht wahr? Wünschen's auch was zu essen? Ich komm' gleich.«

Der ganze Garten war besetzt und summte wie ein Bienenschwarm. Dazwischen das Klirren und Klappern der Eß- und Trinkgeschirre, das Knirschen des Kieses unter den Füßen. Auch das schöne Geschlecht war vertreten und that im Plaudern, Essen und Trinken sein Möglichstes. Die lichten Frühlingskleider waren allerdings durch vorsichtig umgelegte Mäntel verhüllt, doch gab's[235] in dem dunklen Gewühl manchen kräftigen, hellen Farbenpunkt. Zwischen den schwarzen Hüten der Zivilisten blitzten die Helme einiger Offiziere und die roten Streifen der Dienstmützen zahlreicher Einjährigfreiwilligen, die sich durch ihre scharfen, spitzen Accente als Norddeutsche bekannten, und die bunten studentischen Verbindungskäppchen tauchten gruppenweise an den einzelnen Tischen auf. Ältere Herren, die nahe dem reißenden Wasser saßen, hatten die Rockkrägen aufgeschlagen, um sich vor Zugluft zu schützen. Allerlei hausierendes Volk trieb an den Tischen um die Wette mit den Kirchenbau-Lotterielos-Verschleißern seinen kleinen Handel. Häßliche alte Weiber, wahre Vogelscheuchen, boten die Zeitungen feil, die sie in schmutzigen Mappen oder in alten, schwarzen Ledertaschen, mit Riemen auf dem Bauche befestigt, herumtrugen und mit näselndem Tone ausriefen. Schwarzgelockte italienische Vagabundenknaben mit schmierigen Gesichtern, daraus verschmitzte Spitzbubenaugen leuchteten und blendend weiße Zähne blitzten, priesen in seltsamem Jargon Nüsse und »heiße Maroni« an. Als Frühlingsbotin fehlte auch die triefäugige Alte mit den roten Radieschen nicht. Ein Taubstummer fingerte sich seine Almosen zusammen ...[236]

Nach einigem Hin- und Herspähen hatte Kuglmeier seine Kameraden entdeckt. Etwas abseits, mit dem Rücken gegen den Bretterverschlag, der den pompösen Namen Veranda führte, hatten sie sich kneipfroh eingerichtet; sie konnten von ihrem Platze den ganzen Garten übersehen, und als sie den Spätling sich zwischen den Bänken daherdrücken sahen mit hochgezogenen Ellbogen, empfingen sie ihn unisono mit jubelndem Halloh: »Die Kugl kommt, die Kugl kommt, der Meier ist schon da!« Richtig waren sie noch vollzählig: der Medizinmann hatte sie alle hergeschleppt und festgehalten. Der Stoff war ja ausgezeichnet und der Bierhumor so gediegen wie noch nie.

»Und Schlichting, wo ist er, der Einsame?« fragte der Rheinländer mit seinem lustigen Siegfriedkopf und streckte dem Altkommenden die Hand über den Tisch hinüber.

»Ja, das ist Euch eine Geschichte, eine unglaubliche Geschichte ...« begann Kuglmeier und schnaufte auf. »Aber erst setzen und trinken lassen ... Ich bring' einen kolossalen Durst mit ...«

»Also Platz für den Koloß mit seinem Kolossalen. Hier, nimm einstweilen mit meiner frischen Maß vorlieb und dann erzähle! Prosit!«[237]

»Bitte, dann erst eine solide Unterlage, denn ich bring' auch einen kolossalen Hunger mit ...«

»Herrgott, das kann sich auswachsen. Alles riesig. Das reine Heroenzeitalter ...«

»Was mag ich nur gleich? Weiß einer die neueste Speisekarte auswendig?« fragte Kuglmeier sich behaglich auf seinem Platze reckend.

»Speisekarte? Da hör' nur, wie die kulinarische Litanei aus dem Küchenfenster schallt! Das alte, unausgesungene Münchener Sirenenlied!«

Und durch das Getöse vernahm man deutlich die Stimme der Küchenbeherrscherin, wie sie den dienstthuenden Geistern die bestellten Portionen zukommandierte nach biederber Altmünchener Art: »Dem Herrn Doktor sein Schweinszüngl« – »dem Herrn Nat seine Kälberfüß'« – »dem Herrn Professor seine Ochsenaugen« – »der Frau Offizial ihre Schweinshaxe« – »der Frau Kommissär ihr Kalbsherz« – »dem Herrn Lehrer sein sauer's Leberl« – »der Frau Direktor ihre Dickg'selchten« – »dem Herrn Premier seine Nier'nln« – »dem Herrn Inspektor sein' Kalbskopf mit rote Rub'n« – »die Frau Kassier mit ihr'm Kalbshirn thut mir leid, gibt's nicht mehr« – »dem Herrn Medizinalrat sein[238] Ochsenschweif muß noch a bisl warten« – »dem Herrn Gerichtsschreiber seine Schweinsknöchel werden mer glei' haben« – »ein halber Kalbskopf wär' auch noch da« –

»Haben Sie schon bestellt, Herr Kuglmeier?« fragte die Kellnerin.

»Beefsteak mit Ei, das heißt, mit zwei Eiern. Aber schnell, Kathi, und blutig.«

»Zwei Eier, Donnerwetter, das läßt tief blicken,« spottete lustig der Medizinmann.

»Ich würde raten, das Huhn auch gleich dazu zu nehmen!« sagte der Rheinländer. »Kraftaufspeicherung ist in diesen kritischen Frühlingszeiten immer gut.«

»Der Mensch ist kein Magazingewehr,« wehrte Kuglmeier ab und warf seinen Hut auf einen Baumast. »Ich esse, weil mir's schmeckt. Punktum. Ihr scheint mir inzwischen auch keine Not gelitten zu haben.«

Das Magazingewehr steigerte die Ausgelassenheit und rief die schelmischsten Anspielungen und Deutungen hervor.

Endlich schloß der ›große Schweiger‹ den lustigen Zwischenfall mit der Bemerkung: »Kuglmeier ist, wie männiglich bekannt, allen Strapazen gewachsen. Wenn er sich jetzt mit reicher Atzung[239] versieht, so geschieht dies sicher nur im Hinblick auf die große Geschichte, die er noch zu erzählen hat.«

»Sehr gut! Im Hinblick –«

»Donnerwetter ja, die große Geschichte.«

Und Kuglmeier hielt Wort. Nachdem er das Beefsteak mit den Eiern verschlungen und dazu die erste Maß geleert hatte, erzählte er die große Geschichte. Er ließ sich nicht lumpen. Er log, daß sich die Balken bogen.

Trotz des demokratischen Lustgefühls, das alle vor dem Maßkrug gleich erscheinen ließ, kannte doch auch die alte Wirtschaft zum »grünen Baum« die menschlichen Standesunterschiede. Nicht nur in den gemütlichen Stübchen des oberen Stocks gab's »abonnierte« Abende, an welchen der Zutritt den gewöhnlichen Sterblichen versagt war – eine Zeitlang waren diese Räume der exklusive Sammelpunkt der Brüder in Apoll vom »Krokodil«, dann einiger studentischer Verbindungen, vornehmlich der »Isaria«, zuletzt die Geburtsstätte der geistig sehr zwanglosen Gesellschaft der »Ungespundeten« – sondern auch im Garten, wie der große Raum zwischen der Rückseite des Hauses und der Isar genannt wurde, obschon dort niemals andere Blumen blühten, als die[240] weißen Schaumrosen auf den vollen Maßkrügen, und niemals andere Kräuter dufteten, als die vegetabilischen Beilagen zur Bratenschüssel, gab's »reservierte« Plätze, auf denen die Privilegierten und »Gewappelten« sich's bequem machen durften. Unter anderem war da ein Offizierstisch, ein Schauspielertisch, ein Studententisch, ein Hofstallertisch und so weiter. War der Zudrang groß oder fanden sich Fremdlinge ein, dann konnte freilich auf diese Sonderung nicht immer Rücksicht genommen werden.

Die Bank vor dem Küchenfenster war durch langes Gewohnheitsrecht den Meistern und Oberarbeitern einiger benachbarter Gewerbshäuser als angestammter Sitz geblieben. Die Mannhardtsche Turmuhrenfabrik, die Schwarzmannsche Lohgerberei, die Kunstschlosserei von Moradelli, eine jüngere Filzwaren- und eine Spielkartenfabrik hatten da zumeist ihre Vertreter sitzen. Bei ihnen nahm auch der alte Wirt gern Platz, wenn's das Geschäft erlaubte, und die Frau Wirtin, familiär nur die Mutter genannt, legte sich ins Küchenfenster und diskurierte mit, wenn's am Herde nicht mehr streng ging. Es waren ureingesessene Münchener, Isarthaler, die nicht höher schwuren, als bei ihrem »grünen Baum«. Ja, der war ihre[241] eigentliche Heimat. Sie kannten von Urgroßvaterszeiten her seine Geschichte als wär's ihre eigene Familienchronik. Hier war das Zentrum ihrer bürgerlichen und landschaftlichen Eympathieen. Vom »grünen Baum« aus liefen ihre Interessen in die Stadt und in die Welt und wieder zurück. Isarthalauf- und abwärts kannten sie jeden Baum, jeden Strauch, jeden Stein, jeden Winkel, jede Ecke, jede Baracke. Und das alles war ihnen so aus Herz gewachsen, daß ihnen die leiseste Veränderung weh that. Den Abbruch einer alten Hütte, das Fällen eines morschen Baumes empfanden sie wie einen Schnitt ins eigene Fleisch und tagelang konnten sie darüber hin- und herreden.

Auch die beiden andern Wirtschaften links und rechts in fünfzig Schritt Entfernung, das »Ketterl« und der »rote Thurm«, hatten die altmünchnerische Physiognomie treu bewahrt und erfreuten sich einer Stammgastschaft von untadelhafter konservativer Gesinnung; allein mit dem »grünen Baum« konnten sie sich doch nicht messen. Im »Ketterl« hielten die Floßknechte und Holzhändler und die niederen Lände-Bediensteten mit Vorliebe Einkehr; das waren derbe Hochgebirgler mit gewaltthätigen Manieren und Redeweisen, die[242] sich nicht in die Münchener Bequemlichkeit und Ruhe fügen wollten. Dazu kam noch ein anderes, was den »grünen Baum« in eine höhere Sphäre rückte: die geschichtliche Weihe. Der »grüne Baum« war es nämlich, wo einst der erste königlich bayerische Prinz, auf einem Isarfloß aus dem schönen Oberlande kommend, gelandet war. Eine Inschrifttafel aus graugelbem Sandstein über der Thür auf der Flußseite bewahrte das Datum dieses denkwürdigen Ereignisses: »14. September 1839« und den Namen des Prinzen: »Seine königliche Hoheit Kronprinz Maximilian.« Diese Thatsache verknüpfte gleichsam den »grünen Baum« mit dem Schicksale des erlauchten Fürstenhauses der Wittelsbacher; königlicher Glanz schimmerte über der Wirtschaft, der freilich mehr und mehr zu verblassen drohte, seit der jetzige König sich von der Stadt seiner Väter zürnend abgewandt.

Wie eine wehmütige Erinnerung an entschwundene schönere Zeiten durchzog es auch heute wieder in dieser lauen Frühlingsnacht die Gespräche der biederen Gewerbsmänner am Stammtisch vor dem Küchenfenster. Einem neu eingetretenen Geschäftsführer der Turmuhrenfabrik wurde soeben die kronprinzliche Landungsgeschichte[243] in liebevollster Breite und epischer Ausmalung von dem Senior der vollzähligen Stammtischgenossenschaft zum zehntenmal erzählt. Vater Homer konnte seine Odysseegeschichten nicht nachdrücklicher und anschaulicher darstellen; und jeder nickte mit dem Kopfe und warf in den Kunstpausen, welche der alte Uhrmacher in seiner Erzählung anzubringen beliebte, seinen bekräftigenden Spruch dazwischen.

»Da oben steht's auf der Inschrifttafel.«

»Jedes Wort stimmt.«

»Der selige Hitzelsberger hat sie gestiftet.«

»Ja, ja, das war noch ein Floßmeister aus der guten alten Zeit. Er war immer da gesessen, wo ich jetzt sitze. Das war sein Platz. Hier hat König Ludwig, der Erste natürlich, mit ihm angestoßen und ihn wegen der Gedächtnistafel gelobt.«

Dann folgten die zeitgeschichtlichen Abschweifungen mit zarten, kritischen Randbemerkungen:

»Der alte Ludwig ist öfter hier gewesen und hat mit seinen Münchenern eine frische Maß getrunken, wenn er von seinen Reisen in Griechenland und Italien heimgekommen ist. Damals mischten sich die Könige noch unter das Volk.«

»Es hat sich viel geändert.«[244]

»Leider. Und niemals zum Vorteil.«

»Ja, der alte Ludwig! So einen bekommen wir nicht mehr.«

»Ich weiß noch, wie er ins Hofbräuhaus gegangen ist und sich am Brunnen selber seinen Krug ausgeschwenkt hat. Und aus seiner hintern Rocktasche – man hat damals die langen Schöße getragen – hat er seinen Rettig gezogen. Dann hat er wie jeder andere Bürgersmann seine Maß getrunken, oder auch zwei, und seinen Rettig dazu gegessen und sich leutselig mit den Gästen unterhalten. Ich seh' ihn noch mit seinem hohen, weißen Hut und seinem langen weißgelben Rock. Die Schöße schlenkerten so zwischen den langen Beinen, weil er immer die tiefen Taschen voll hatte. So etwas gibt's nimmer.«

»Ja, ja. Das muß wohl wahr sein.«

»Seht einmal heute die Welt an. Alles ist anders. Drum ist auch bei Hoch und Niedrig keine Zufriedenheit mehr.«

»Der Fürst gehört unter sein Volk, behaupt' ich.«

»Nicht so laut. Dort sitzen Hofstaller. Der mit dem schweren goldnen Uhrgehäng und den Fingern voll Brillanten schaut immer herüber[245] mit seinem verschlagenen Dachsgesicht und spitzt die Ohren.«

»Die haben sich jetzt freilich gut aufprotzen.«

»So ein Kerl bildet sich mehr ein, als ein Minister.«

»Es heißt, daß es in diesem Frühjahr mit dem Theaterseparatgespiel nichts wird.«

»Wo Du nicht bist, Herr Organist, da hört das Musizieren von selber auf. Mit der Schloßbauerei im Chiemsee soll's auch aus sein. Überall stockt's. Die bewußten Millionen wollen nicht anrücken ...«

»So ein Heidengeld.«

»Was hätte man in München damit ausrichten können ... Aber nein, in die Berge wird's vermauert ... Das kracht doch einmal alles zusammen.«

»Ja freilich, das kracht doch einmal alles zusammen,« bestätigte der eisbärtige Aufseher von der Filzwarenfabrik und hob die Neige seiner Maß zum Munde, nachdem er die rauhe, buschige Schnurre, die wie ein Vorhang über den Lippen hing, seitwärts gestreift. »Der Stoff ist wieder vorzüglich heute; ich denke, nur trinken noch eine.«

»Die herzogliche Brauerei in Tegernsee versteht's[246] Geschäft. Überhaupt ... Kathi, mir auch noch eine Halbe, aber wirklich nur eine Halbe,« rief der Uhrmachermeister der vorüberhuschenden Kellnerin zu und faßte sie beim Zipfel der durchnäßten, biertriefenden Schürze, die nur im kurzen Bruststück noch im steif gebügelten Weiß starrte. Darüber baumelte ein welkes Veilchensträußchen, das ihr eilt Student ins Knopfloch der straff gespannten, einen kugelrunden Busen kühn herausmodellierenden Trikottaille gesteckt hatte.

»Nehmen's nur eine Ganze, Herr Rembold,« tief die Kathi zurück, »wir stechen gleich frisch an.«

»Ei natürlich,« ließ sich jetzt die Stimme der Frau Mutter am Küchenfenster vernehmen, »mit einer Halben fängt man so spät nimmer an, Herr Rembold; Sie schlafen dann besser.« Die Wirtin faßte mit ihrer kräftigen Hand die obere eiserne Querstange im Fenster und stützte den Ellbogen ihres nackten, prallen, vom Feuer hochgeröteten Armes auf den Sims. Rembold wandte sich lächelnd nach ihr um und nickte mit dem Kopfe.

»Ja, Mutter, heut' ist's wieder scharf hergegangen.«

»Sagen's, Herr Rembold, was hört man denn Neues vom König? Es wird wieder so allerhand[247] Kurioses herumgeredet. Ist's denn wahr ...?« Sie mäßigte ihre starke Stimme bis zum Flüsterton. Dann auf eine Frage vom Herde her, mit halber Drehung ihres Halses, daß es an ihrem Doppelkinn zerrte, schallend: »Gibt keine Wursteln mehr heute!«

»Das ist's Mutter: es gibt halt keine Wursteln mehr.«

»Der arme König! Ist's wirklich so weit? Und gar unter Kuratel will man ...« Sie drückte ihr Gesicht ans Gitter und vollendete den Satz ganz leise ins Ohr des Uhrmachers.

Vom offenen Fenster des oberen Stocks brauste der studentische Gesang mit jugendlichem Ungestüm in die Nacht hinaus, die Gespräche der Gartengäste mit seiner Klangwucht übertönend: »Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne ...«

Als das Lied verklungen, rief man an verschiedenen Tischen begeistert Bravo und Dakapo und klatschte in die Hände. Der Chor aus der Höhe antwortete mit Wiederholung der letzten Strophe. Die helle Freude wehte wie Frühlingswind hinauf und hernieder und erschloß die Herzen zu Scherz und Lust. Die Bekannten grüßten[248] sich über die Tische hinweg und tranken sich mit hochgeschwungenen Krügen aus der Ferne zu.

Plötzlich hörte man von der Straße hinter der Wirtschaft her eiligen Hufschlag und sausendes Gerassel schwerer Wagen und Glockengeläute, und rotes Fackellicht warf einen blutigen Schein in die dämmerige, gelbliche Gartenbeleuchtung – und wie das wilde Heer war's vorübergejagt im Nu, isarabwärts.

»Die Feuerwehr!«

»Wo brennt's?«

Gäste standen auf, bezahlten und entfernten sich eilig, um nachzusehen. Andere kamen von außen herein. Einer meldete: »Es ist nichts; drunten im Lehel ein Zimmerbrand, kaum der Rede wert.« Später wieder ein anderer: »Ein Schneider soll seine Baracke ausgeräuchert haben.«

»Ein Schneider! Dabei hat er jedenfalls seinen Geisbart versengt; man riecht's bis da herauf.«

Und nun wurden Witze über das Lehel und seine vorsündflutliche Hüttenkolonie gerissen.

»Da wird morgen der Tierschutzverein intervenieren müssen, daß man wieder Russen und Schwaben und Wanzen, die da unten legionenweise[249] so friedlich hausen, grausam geröstet und geschmort hat bei lebendigem Leibe.«

»Es wär' wirklich nicht schade d'rum, wenn das ganze Nest da drunten in Rauch und Flammen aufginge. Das wär' eine zeitgemäße Säuberung.«

Als Kuglmeier hörte, daß es in einer Schneiderwerkstatt brenne, fielen ihm alle seine schönen Sünden vom Spätnachmittag ein. Er ließ sich jedoch nichts merken, um nicht den Neckereien seiner Kameraden zu verfallen. Übrigens hatten ihn die fidelen Aufregungen und der reichliche Biergenuß genügend stumpf gemacht, um der Versuchung zu widerstehen, seine Lokalkenntnis im Lehel jetzt mit romantischen Kombinationen zu verbrämen. Zudem führten seine Kameraden mit einigen Isaren, die sich zu ihnen gesetzt, gerade sehr animierte Untersuchungen über einen schwierigen Beleidigungsfall.

»Der Ausdruck ›Pauksimpel‹ ist grenzenlos beleidigend, das ist über allen Zweifel erhaben,« kreischte ein blutjunger, schmächtiger Isare mit gestutzter Nase und einem dicken, schwarzen Wattverband auf der linken Wange, der noch kräftig nach Jodoform stank.

»Vollkommen einverstanden. Der Ausdruck[250] an sich. Aber sobald er vom Preßbanditen in seiner ›Kloake‹ gebraucht wird, ist er durch die anerkannte Gemeinheit des Skandalblattes neutralisiert. Da wirkt keine Beschimpfung mehr.«

»Überdies ist der Kerl ein Krüppel und gar nicht satisfaktionsfähig.«

»Er hat ja nicht einmal Elementarschulbildung und seine Schmieralien wimmeln von orthographischen und syntaktischen Fehlern.«

»Er ist die potenzierte Nullität, ein ausgemachter Quadratlump,« warf der Medizinmann dazwischen. »Und ein Hornvieh obendrein. Sein sogenanntes Weib, aufgedonnert wie eine alte Schmierenkomödiantin – man hat sie mir neulich gezeigt – soll in ihren jungen Nächten eine komplete Wildsau gewesen sein. Das Paar sieht jetzt aus, als wäre es schon einmal begraben gewesen und halbverfault wieder lebendig geworden. Ausgeschminkte Kadaver. Nicht einmal unter dem Seziermesser möchte ich den Burschen haben, geschweige vor einer ehrlichen blanken Klinge. Das ist meine Meinung von der Sache.«

Allein der gekränkte Isare ließ sich damit noch nicht beruhigen.

»Erschwerend ist der Umstand, daß er unser Korps systematisch mit seinen Ekelhaftigkeiten verfolgt.[251] Das geht ja schon seit Monaten so fort. ›Tätowierte Indianer‹, ›zerkratzte Zifferbläter‹, ›Schweinskotellets‹ und so weiter fast in jeder Nummer.«

»Tunkt das Schwein in ein Jauchenfaß, bis ihm der Dampf ausgeht; wenn Züchtigung sein muß, ist dies die einzig angemessene,« schloß der Medizinmann die Debatte.

»Das ist die Presse in Eurer vielgerühmten Kunststadt München ...« wollte der Rheinländer loslegen, als sich der müde Kuglmeier, der seither nur stumm zugehört, aufraffte und dem Sprecher ins Wort fiel: »Bitte, nicht die Presse, sondern nur ein einzelner Preßbandit, ein zoojournalistisches Unikum, eine Mißgeburt ... eine Sehenswürdigkeit ... eine ...« Da fiel ihm plötzlich nichts mehr ein. Die Kameraden lachten.

Am Tisch vor dem Küchenfenster gab der Brand Veranlassung, die Baufragen im Lehel und an den Isarufern zu erörtern.

»Das Lehel ist zwar ein Stück Altmünchen, wie man's nicht schöner malen kann, aber es paßt nicht mehr in den Nahmen der modernen Stadt,« behauptete der jüngere Kunstschlosser.

»Gehen Sie mir doch mit Ihrer modernen Stadt, das ist ja der reine Schwindel,« grollte[252] der Uhrmacher. »Ich weiß doch auch, wie viel es geschlagen hat und bin kein Rückschrittler, aber was man moderne Stadt nennt, ist keine Verschönerung der Welt. Im Lehel ist manches polizeiwidrig vernachlässigt; das ist richtig. Deswegen braucht man das Alte nicht gleich mit Stumpf und Stil auszurotten.«

»Da ist nichts mehr zu bessern, lieber Herr Rembold,« rief ein befreundeter Handwerksmeister vom Nachbartisch herüber. »Mit dem Gerümpel muß aufgeräumt werden. Dann gibt's Baugründe für wahre Prachtstraßen vom Gries bis an die Maximiliansbrücke.«

»Die Pracht kennt man, die Quaistraße ist so ein Muster von neumodischer Pracht! Ich geb' keinen roten Heller dafür.«

»Die Fortsetzung der Quaistraße wird schon besser werden. Wenn erst einmal das ›Ketterl‹ und der ›grüne Baum‹ wegrasiert sind und eine Palastreihe sich die Isar hinaufzieht ...«

»Was?« schrie der Uhrmacher auf, »der ›grüne Baum‹ wegrasiert? Da, wo wir jetzt sitzen, auf diesem herrlichen Fleck Gotteswelt, ein neumodischer Steinhaufen mit fünf Stockwerken? Und daneben ein anderer und so fort? Nein, das gibt's nicht.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch.[253]

Der Kunstschlosser beschwichtigend: »Pläne, nichts als Pläne; wir erleben das nimmer.«

»Das möcht' ich auch gar nicht erleben. Das ist ja der helle Wahnsinn, alles ummodeln zu wollen. Muß denn jetzt auf einmal alles anders sein, als es unsere Vorfahren gehabt haben? Die waren doch auch nicht auf den Kopf gefallen. Und München ist schon berühmt gewesen, als man von dem ganzen neuen Schwindel noch nichts gewußt hat. Und unsere schöne wilde Isar, die soll wohl zwischen Mauern eng und pomade dahinfließen wie ein Bach, daß man mit venezianischen Gondeln darauf herumfahren kann? Und noch mehr Brücken, daß man zuletzt vom Wasser gar nichts mehr sieht? Deckt sie doch lieber gleich ganz zu, dann habt Ihr noch mehr Bauplätze ... Hoffentlich haben da auch noch andere Leute ein Wort mit zu reden, denk' ich.«

»Die anderen Leute haben schon geredet, der Magistrat zum Beispiel. Der ganze Ländeplatz hier ist doch städtischer Boden. Nun gut, die Lände wird weit weg verlegt, die paar Floßmeistershäuser werden abgebrochen, der ›grüne Baum‹ und das ›Ketterl‹ werden von der Stadt erworben und dann kann's losgehn, das ganze[254] Terrain wird planiert und als Bauplatz losgeschlagen.«

»Aber daß Sie das nicht wissen, Herr Nachbar Rembold! Man reißt sich ja jetzt schon um den Bauplatz. Der Bankdirektor und Konsul Schmerold in der Quaistraße hat schon längst ein Auge auf den Komplex geworfen und möcht' ihn dem Magistrat abhandeln. Er hat sich hinter den grünen Baumwirt gesteckt, daß er vom Magistrat eine unmögliche Summe als Ablösung fordert, damit aus der Geschichte nichts wird, bis er mit noch einigen Spekulanten sich alles selber in die Hand gespielt hat.«

»Das glaub' ich wohl, daß die Herrgottsakermenter möchten. Zuletzt möchten sie uns noch den ganzen Himmel verbauen, daß man nicht mehr schnaufen kann. Aber das setzen sie nicht durch. So wird die Isar nicht verhandelt und verschandelt. Da ist die Bürgerschaft auch noch da und der König ... Und mag denn der grüne Baumwirt um so ein Sündengeld sich das anthun lassen? ... Mutter ist's wahr?« wandte er sich erregt gegen das Küchenfenster.

»Es wird uns nicht viel anderes übrig bleiben, oder unsern Kindern. So schnell geht's übrigens nicht, Herr Rembold.«[255]

»Hat man nicht schon hundertfünfzigtausend Mark geboten, Mutter?« fragte der Kunstschlosser.

»Das schon, aber mein Mann thut's nicht unter zweihunderttausend.«

»Ein schönes Stück Geld für die Knallhütte,« sagte unbefangen der eingeführte junge Geschäftsführer.

Der alte Uhrmachermeister sprang auf, warf ihm einen vernichtenden Blick voll unsäglicher Verachtung zu, verließ den Tisch und ging heim. Sein »grüner Baum« eine Knallhütte! Und wegrasiert! Wahrhaftig, die junge Welt kennt keine Pietät mehr ... Das ist der Anfang vom Ende ... Wo soll denn das hinführen, wenn einmal ums Geld alles zu haben ist? Da braucht man ja vor keiner Schandthat mehr zurückzuschrecken, sobald sie nur recht viel Geld einträgt! Und wer das Geld hat, der hat die Macht, alles andere zu Boden zu treten? Da soll doch gleich ein Donnerwetter dreinschlagen oder ... die Sozialdemokratie ... wenn alles ein Teufel ist ...

An seiner Hausthür kehrte der Uhrmachermeister noch einmal um. Nein, mit solchen Gedanken kann er sich nicht ins Bett legen. Ein schwerer Seufzer entrang sich der Brust des[256] greisen Mannes; sein Kopf glühte, seine Schläfe hämmerten. Besser, er macht seiner geliebten Isar noch eine lange Nachtvisite und hält beruhigende Zwiesprach mit ihrem Rauschen und Murmeln, fern von allem Menschenvolk. Und er schlug die Richtung nach der Zweibrückenstraße ein.

Der grüne Baumwirt hatte sich zu den Hofstallern gesetzt, um sie auszufragen und auszuhorchen, was in Hohenschwangau und Neuschwanstein los sei und was es für Bewandtnis mit dem neuen chinesischen Schloß habe, das auf dem Falkenberg errichtet werden soll und ob das französische Schloß auf der Chiem see-Insel ausgebaut werde oder nicht. Letzteres interessierte ihn besonders, weil ein Verwandter seiner Frau, ein Steinbruchbesitzer, große Lieferungen für den Schloßbau übernommen hatte. Freilich hatte der Vetter noch starke Forderungen bei der königlichen Baukasse gut, allein das ängstigte ihn nicht, das Geschrei der Zeitungen über die Schuldenlast des Königs war jedenfalls übertrieben. Wer ein so großes Privatvermögen hat wie die Wittelsbacher und dazu noch eine Zivilliste von vier oder fünf Millionen jährlich, der kann sich schon etwas erlauben. Der König ist nur zu loben,[257] daß er das Geld im Lande läßt und unter das Volk bringt. Das macht nichts, wenn auch langsam bezahlt wird; bezahlt wird ja doch und sehr gut obendrein.

»Also es wird weiter gebaut?« fragte der Wirt befriedigt über die erhaltene Auskunft.

»Warum denn nicht? Meinen Sie, der König läßt sich etwas verbieten?« antwortete der mit dem Dachsgesicht. »Wozu wär' er denn König?«

Die Zahl der Gäste war allmählich zusammengeschmolzen. Die Tische wiesen große Lücken auf. Zwei Gasflammen konnte die sparsame Kathi, auch eine Verwandte der Wirtin, schon ausdrehen.

»Schauen's wer da noch kommt!« sprach der Wirt aufstehend, wandte sich aber noch rasch aus Ohr des herablassenden, auskunftspendenden Stallbeamten und flüsterte: »Die sind von der Gesellschaft der ›Ungespundeten‹ –« Dann ging er begrüßend den späten Ankömmlingen entgegen: »Habe die Ehre, Herr Oberst! Guten Abend, Herr Baron! Grüß Gott, Herr Doktor!«

Die ›Ungespundeten‹ nahmen an dem äußersten Tisch unter dem mächtigen Kastaniengeäst stillschweigend Platz. Der Wirt zog sich etwas pikiert zurück. Kathi erschien, dienstwillig und[258] lächelnd wie immer, trotzdem sie vor Müdigkeit ihre Beine nicht mehr spürte.

Der Baron schob seinen glänzenden schwarzen Cylinderhut in den Nacken, wischte mit dem weißen Taschentuch seinen Zwicker, zupfte seine lange Manschette zurecht, legte Tabakdose und Zigarrettenpapier vor sich hin, rückte sich den Zündholzständer näher, stützte dann die beiden Ellbogen auf den Tisch und begann mit der feierlichen Grazie eines Türken und »Ketters« seine Zigarrette zu drehen. Unter seinen langen, wohl gepflegten Aristokratenfingern rollte sich der goldbraune Sultantabak in dem knisternden Papierchen zu der denkbar elegantesten Form. Die erste Zigarrette reichte er galant dem Doktor über den Tisch. »Ecco, caro Dottore!«

»Remplem!« schnauzte der Oberst und setzte seinen Schlapphut tiefer ins Gesicht, daß unter der breiten Krempe nur noch der leichtgeschwungene Rücken der kraftvoll sinnlichen Nase und der lange graue Knebelbart mit der vom vielen Rauchen in der Mitte angegelbten trotzigen Schnurre ins Licht fielen.

»Hol, Hol, Wotan!« grüßte ein stämmiger Trinker in grüngarnierter Lodenjoppe herüber und that den letzten tiefen Zug aus dem Maßkrug,[259] den er mit Wucht auf den Tisch zurückstellte. Dann trug er auf den kurzen dicken Beinen seinen runden Bauch wie einen lebendigen Vierschlauch vor sich her, trat an den Tisch der ›Ungespundeten‹ und richtete seine fette Stimme mit breitem Grinsen des umbarteten Vollmondgesichtes an den Oberst: »Alter Germane, man sieht Dich ja nicht mehr, ich muß leider schon gehen – weißt, meine Schicksalswalterin wartet am Wehr! – aber nächsten Sonntag solltest Du doch dabei sein: unsere Markgenossenschaft feiert zu ihrem vierten Alting ein Waldfest in Gauting mit Vorführung einer altgermanischen Hochgetid, Speerwerfen, Frauenspielen, Tanz und so fort. Du kommst?«

»Fällt mir gar nicht ein. Remplem. Ich pfeif' auf Eure Germanenkomödie.«

»Gut' Nacht, Wotan.« Und der stämmige Markgenosse wackelte mit seinen nägelbeschlagenen Schuhen knirschend davon. »Grobian ...«

»Was war denn das für ein Mannsbild und ein Kauderwelsch?« fragte der Baron und saugte an seiner Zigarrette.

»Bah! Ein Lumpenhund, der sich auf den Urgermanen dressiert hat. Wo hängt die Wurst? War einst ein schneidiger Bursch, ein flotter Forstmann,[260] hatte eine Menge seiner Liebschaften, schön Hadwig von der Pfalz, schwarz Bärbele von Würzburg – ich erinnere mich noch ganz genau. Dann kamen wir auseinander, als er zu strebern anfing. Mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit ist er dabei zu Werk gegangen. Der verstand's, alle Hasen in seine Küche zu treiben.«

»Und ist schließlich doch ein Troddel geworden,« bemerkte der Doktor.

»Er macht mit seinem Urgermanentum einen urdummen Eindruck,« der Baron.

»Laßt mich aus! Die Dummen sind die Gescheidten. Wo hängt die Wurst! Remplem. Prosit!«

»Prosit! Es lebe das Spundloch!«

»Das ist die ganze Lebenskunst: immer das rechte Loch zu finden.«

»Und den unbequemen Kerls immer prompt dasjenige zu zeigen, das der Zimmermann gemacht hat.«

»Wie vorhin dein Markgenossen.«

»Das ist mir der rechte Urgermane, daran erkenn' ich ihn: er fürchtet Gott – und sein Weib. Letzteres thatsächlich, ersteren nur mit dem Maul, und wenn er Zuhörer hat. Am besten einen ganzen Reichstag voll. Gottesfurcht, Weiberfurcht.[261] Dem neumodischen Urgermanen spezifisch wie der preußische Stechschritt. Prosit!«

»Drillinger schon lang nicht mehr gesehen?«

»Eine Ewigkeit.«

»Ist auch kein rechtes Mannsbild. Das Beste an ihm war sein Bruder, der rote Ludwig. Aber der hat in Europa nicht mehr schnaufen können. Hoffentlich hat er das rechte Loch jetzt gefunden.«

»Wie haben sie auch den armen Meister Effenbach gehetzt, bis er in seinem Steinbruch zu Höllriegelskreut untergekrochen ist. Da haust er jetzt wie ein Einsiedler im Urwald. Man hört und sieht nichts mehr von ihm. Das ist ein Glück: vergessen werden. Ein Original, ein Narr! haben sie geschrieen, weil er keine wattierten Röcke, keine Lackstiefeln, keine Glacehandschuhe, keine Angströhre tragen mochte, sondern barhäuptig und barfüßig in seiner weißen Kutte sich wohl fühlte. Ein großer Mensch und ein großer Künstler! Mit dem Malen wird's jetzt freilich Matthäi am letzten sein. In seiner Armut kann er sich weder Leinwand noch Farben noch Pinsel mehr kaufen. Aber seinen Christuskopf malt ihm in der ganzen Akademie doch keiner nach. Welch' eine Apotheose des Leids und der Verzeihung! Das bleibt sein Denkmal.« Des Doktors Augen funkelten.[262]

»Es ist in der That merkwürdig, wie es diesem seltenen Charakter endlich doch geglückt ist, in dieser Welt der Charakterlosigkeit, in diesem Zeitalter der Waschlappigkeit, verbunden mit der Raubtiergier nach Geld, Besitz, Macht, als Mensch für sich zu leben, eine Welt für sich zu schaffen und in frei erwählter Armut in vollkommenster Zurückgezogenheit sich seiner Freiheit zu freuen.«

»Und das zwei Stunden von München.«

»Remplem! Wenn er sich's einfallen ließe, hier wieder einmal aufzutauchen, würden sie ihn wieder auf den Kopf schlagen, daß ihm Sehen und Hören vergeht. Richtig bemerkt, Doktor, es gibt nur ein Glück: vergessen zu werden. Ruhm und Ruhmesgeschrei – blauer Dunst.«

»Es lebe – das Glück!«

»Ah bah, das Spundloch!«

»Zahlen, Kathi.«

»Gut Nacht.«

Die reckenhaften Gestalten des Obersts und des Doktors nahmen den kleinen Baron in die Mitte und schritten hinaus in die Nacht. Als sie sich unter der großen Hängelampe des Ausgangsthores bückten, lief ein bizarrer, dreigezackter Schatten die weiße Wand hinauf.

In der Wasserstraße streunten beutegierige[263] Isarnymphen in großer Zahl am Ufer her und hin, nächtliche Wanderer mit heiseren Kehlen anrufend, scheltend, wenn ein Einsamer verächtlich oder mit hart abweisender Rede ihren Reizen entging, lachend und spottend, wenn ein ehrsamer Philister, der sich im braunen Nektar etwas mehr als die übliche Bettschwere angetrunken, mit strauchelndem Fuß sich in ihren Netzen verstrickt. Es war spät und empfindlich kühl geworden. Nur die Eifrigsten hielten noch aus bis Mitternacht.

»Wer torkelt denn da unten hart am Wasser herum?« fragte eine ihre Genossin und wies aus eine kleine Gestalt, die jetzt kauernd mit den Händen in den Fluß griff.

»Der wird sich waschen wollen, oder abkühlen, oder gar ersäufen. Was geht das uns an?«

Eine Dritte trat herzu: »Das scheint ein Verrückter zu sein. Er wackelt schon lange am Ufer auf und ab und hält Ansprachen an die Isar und die Bäume. Dazwischen hat er geflucht und dann wieder geschluchzt. Laßt ihn in Ruh. Jessas, jetzt hab' ich gar den Schnackler. Ich geh.«

Die Erste: »Und ich bleib', ich bin neugierig, was der macht. Wart' doch.«

Die Zweite: »Geh'n wir wenigstens näher hin, damit wir hören, was er sagt.«[264]

Die Dritte: »Er sagt fast immer das Nämliche, einmal: ›Verhandeln und verschandeln will man Euch, wer am meisten bietet, der kriegt Euch und er kann dann mit Euch thun was er will. O Sünd', o Jammer!‹ und dann: ›Ich geh' mit Euch, ich mag nimmer, nehmt mich mit.‹ Und lauter solche verrückte Reden.«

Die Zweite: »Das ist doch nicht auf uns gemünzt? Es paßt fast jedes Wort.«

Die Dritte: »Bist Du einfältig. Die Bäume und das Wasser spricht er so an. Es ist ein Verrückter. Laßt ihn in Ruh'. Das ist ein bedauernswerter Mensch. Ich geh' heim.«

»Heilige Mutter Gottes,« schrie die Erste. »Jetzt ist er im Wasser, die Wellen reißen ihn fort. Hilfe! Hilfe!«

Die drei Nymphen liefen kreischend hinab, hielten sich an einem Floß und entrissen den Ertrinkenden der Flut.

Ein herbeigeeilter Gendarm erkannte in ihm den alten Uhrmachermeister ...

Auf der Kohleninsel heulte ein Hund ...

Quelle:
Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. 2 Bände, Band 1, Leipzig [o. J.], S. 169-265.
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