6.

[265] ... »Man merkt's Ihnen an, lieber Schlichting, daß Sie das Erlebnis der vergangenen Nacht angegriffen hat. Kein Zweifel, das war kein Brand von ungefähr. Die Bosheit der Menschen ist grenzenlos. Was in der moderigen Schneiderherberge aufflammte, sengende und brennende Liebe war's gewiß nicht; das hatte seinen Zunder in irgend einer gemeinen Leidenschaft, in Haß, Neid, Rachsucht ... Forschen Sie gelegentlich der Ursache nach. Das alles ist belehrend und läßt sich schriftstellerisch verwerten, sobald man alle Mittelglieder zwischen Ursache, Wirkung und Folgenreihe in der Hand hat ... Ein Glück, daß das Feuer so rasch gelöscht wurde. Sie hätten ja entweder in Ihrem Dachstübchen ersticken oder bei einem Versuch, durch das Fenster zu entkommen, den Hals brechen müssen. Feuersnot ist entsetzlich. Ich wohne darum mit meiner Weltlitteratur[266] und meinen andern geringen Habseligkeiten zu ebener Erde.«

Doktor Trostberg hatte sich eine frische Zigarrette aus Genidze-Tabak gedreht und angezündet – wenigstens die zehnte in dieser Frühe, denn das ganze weitläufige Gemach schwamm in Rauch und hüllte die Büchergestelle an den Wänden und das große Bild Schopenhauers über dem Schreibtische so dicht in blaugraues Gewölke, daß man sie kaum mehr erkennen konnte – dann zog er die gelbe Schnur seines roten Schlafrocks enger um den schlanken Leib und legte sich der Länge nach mit dem Rücken auf das niedrige, breite Ruhebett, das mit einem kostbaren Eisbärenfell, einem Geschenk des Königs – überzähliges Stück aus der Hundinghütte beim Linderhof – bedeckt war.

Er strich sich mit der schmalen Hand über das ovale, gelbliche Gesicht, das von den Augenwinkeln die Wangen herab eigentümlich symmetrische Runzeln hatte, zwirbelte seinen langen, schwarzen Spitzbart und begann wieder, während Schlichting bleich und sinnend an dem halbgeöffneten großen Gartenfenster stand, mit seiner trockenen, etwas schnarrenden Stimme: »Also Punkt Eins wäre geordnet; Sie können sich auf mich[267] verlassen, daß ich mit Baron Drillinger einen Versuch machen werde. Ganz unter uns: ich thu' es aus purer Menschenliebe, nicht aus verstandesmäßiger Überzeugung; ob Drillinger mit der stattlichen Frau Soundso oder der zierlichen X Y Z kost oder schmollt, das sind für den Lauf der Welt ganz belanglose Zwischenaktsscherze. Aber das in ihrer Ehe unbefriedigte Weib hat sich nun einmal unsern Schwerenöter als Tröster in den Kopf gesetzt – gut, thun wir ihr den Gefallen; obschon ich mir, ich wiederhole dies, keinen oder nur einen sehr geringen Erfolg davon verspreche. Drillinger ist eine optimistisch-flatternde Seele, und dabei oft eigensinnig und trotzig wie ein Kind. Es muß ja auch solche Käntze geben. Ich erwarte ihn ohnehin heute oder morgen. Und nun zu Punkt Zwei: in Sachen Preßbandit, Ergänzung des bereits Bekannten. Das ist auch ein Kantz, aber ein bodenlos schlechter. Deshalb jedoch nicht weniger interessant. Nicht als Mensch, denn ich wüßte nicht, was an einem solchen Stegreifritter von Schmierfinkski Interessantes zu finden wäre, sondern als Kulturerscheinung, als soziologischer Typus, als Produkt unserer verrotteten und verpesteten Sittenzustände. An solchen Früchten kann man zunächst[268] erkennen, wohin die Freiheit des journalistischen Gewerbes führt, welch' ein mächtiges Element zur Durchseuchung und Auflösung der modernen Gesellschaft sie darstellt. Das Zeitungswesen! Dieser ständige geistige und moralische Seuchenherd! Der pure Hohn auf den vielgerühmten Willen der Kulturmenschheit, zur Wahrheit und Gesundheit zu gelangen. Haben Sie sich einmal in einem Kaffeehaus die Horde der Baccillenschlucker, vulgo Zeitungsleser, angesehen? Wie sie dahocken und mit stieren Blicken und dummen, vom Qualm der schlechten Luft und des schlechten Gesöffes aufgedunsenen Gesichtern das bedruckte vergiftete Papier gierig hineinschlingen? Wie sie ihre Hohlschädel mit politischem Quark und feuilletonistischem Kohl und Klatsch und Tratsch ausmöbeln? Und haben Sie einmal eine Sudelküche gesehen, wo diese journalistischen Gerichte zusammengeschmiert und gepappt und gekocht werden? Das müssen Sie einmal nach der Natur studieren, mein lieber Herr Schlichting. Da werden Ihnen elektrische Lichter aufgehen! Da werden Sie auch die Verachtung begreifen lernen, mit der ein Bismarck von den Journalisten als von Leuten spricht, die ihren Beruf verfehlt haben. Die Presse! Der Leipziger Professor Wuttke, mein alter Lehrer[269] hat ein Buch darüber geschrieben. Der Unglückliche! Der Menschheit ganzer Jammer packt einen an, wenn man das liest ... Ich sage Ihnen, hüten Sie sich vor der Tages-Zeitungsschreiberei – überhaupt vor dem ganzen politischen Wischiwaschi. Das ist Gift für jede seiner organisierte Natur. Und alles für die Katz'! Von allen irdischen Nichtigkeiten und Dummheiten ist die Tagespolitik die allernichtigste und allerdümmste. Drum blasen sich die Politiker mit ihrem Geträtsche auch so auf, weil sie selbst die Empfindung nicht los werden können, daß sie wie Wolken vom Winde verjagt werden, daß sie nur Schattenbilder von Schatten sind. Betrogene Betrüger, Larifari-Kakaphonisten. ›Ein jeder glaubt ein All zu sein, und jeder ist im Grunde nichts.‹ Lassen wir nur erst einmal den sozialen Cäsarismus, der bereits in der kaiserlichen Botschaft leise präludierte, über das alte, geschwätzige Europa kommen! ... Die Presse ist Großmacht, wenn und wo es gilt, die öffentliche Versimplung und die nichtsnutzigen Keime im Volksleben zu entwickeln; ihr tägliches, unausgesetztes Getröpfel höhlt den härtesten Stein. Sie ist eine Ohnmacht, wenn – – doch davon ein andermal. Kommen wir auf unsern Münchener Fall und[270] erlauben Sie mir – wollen Sie nicht Platz nehmen? nein? nach Belieben! – daß ich etwas weiter aushole, es kann zur Förderung Ihres Manuskriptes nur nützlich sein. Es liegt mir in der That daran, Ihnen meine Erfahrungen und Erkenntnisse gerade auf diesem Gebiete zu novellistischer Verwertung möglichst umfassend mitzuteilen. Sie können ja alles kontrollieren und brauchen sich nichts aufbinden zu lassen. Ja, Sie sollen alles kontrollieren! Man soll keinem Menschen aufs Wort glauben in Dingen, die man mit eigenen Sinnen erforschen und durchprüfen kann. Und nun bietet sich Ihnen ja die denkbar schönste Gelegenheit, Ihre impressionistische, prüfende und nachbildende Kraft zu erproben. Ich habe jetzt keine Zeit und keine Lust, solche Geschichten nach der Natur zu schreiben. Ich hätte vielleicht auch gar nicht das notwendige Handwerkszeug dazu. Ich bin Dramatiker und nicht Novellist. Sie sind noch keines von beiden, aber Sie fühlen den Drang, als Novellist wenigstens einen Versuch zu machen. Wohlan denn! Und Sie wollen keine schon millionenfach geschriebene banale Liebesgeschichte vom Hans und seiner Grete schreiben, sondern – etwas anderes. Auch keine krachledernen Hosenfabeleien aus dem[271] dichterisch schon ganz zermürbten bayerischen Hochgebirg, keine Salontirolerei oder sonst eine troddelhafte Volksmünchhausiade, wie sie noch immer schockweise von den geriebenen Erfolgsspezialisten, die mit anderthalb Ideen zwanzig Bände vollschreiben, auf den Markt geschleudert werden. Das gefällt mir. Was es wird, wird sich ja am Ende zeigen. Zunächst gilt es: frisch zu wagen und nach echten Dokumenten zu arbeiten. Da setzt meine Handreichung ein ... Ohne die berühmte Liebe werden wir dabei freilich nicht auskommen. Denn wenn wir, nur einen Goetheschen Ausdruck zu nehmen, ›ein wahres Bild des beschatteten, buntgrauen Erdenlebens‹ entwerfen wollen, müssen wir unseren Pinsel auch in jenen unheimlich gemischten Farbentopf tauchen, den uns die schlimme Teufelin Venus aus ihrem Schoße darreicht. Was nun dazu Eigenerlebtes gehört, das müssen Sie sich selbst erwerben. Auch die wichtigste Zuthat, warmes, rotes Herzblut, können Sie nicht aus zweiter Hand empfangen, das müssen Sie sich heißdampfend aus der eigenen Brust abzapfen. Aber vergeuden Sie die kostbaren Tropfen nicht. Aphrodite, die schöngelockte, mache es gnädig mit Ihnen! Hüten Sie sich vor den blassen, blonden Lotosblumen, auch vor den roten, berauschend[272] duftigen Nelken: die gehen bis ans Mark. Eine volle, üppige Rose, dornenbewehrt, das erträgt sich am besten. Und für das Studium reicht's. Unsere alten Helden nahmen ein blankes Schwert mit aufs Minnelager: ein Stock, oder eine Peitsche thut's auch – – – Unsere Liebesproblemdichter, die auf kaltem Verstandeswege arbeiten, kommen mir vor wie Prostituierte, die sich dem Liebesakte gewerbsmäßig hingeben, ohne jedwede Innigkeit der Empfindung, die bei der Umarmung nur den materiellen Gewinn fühlen, der in ihr Portemonnaie fällt, oder die stupide Befriedigung einer tierischen Laune, in welche höchstens die schamlos kühle Beobachtung und Vergleichung des gegenwärtigen Falles mit vorausgegangenen einen Zug entmenscht menschlicher Besinnung bringt. Diese sogenannten keuschen Dichter mit ihrer ausgeklügelten Liebesschilderei und Schleierweberei und Andeuterei sind die eigentlich unkeuschen Dichter; sie leisten bei aller anscheinenden Wohlanständigkeit ihrer Darstellung der allzeit regen und aufgestachelten Phantasie ihrer Leser die schmutzigsten Kupplerdienste. Natürlich wissen sie sich sehr gescheidt damit zu decken, daß sie bei aller halbverhüllten Brünstelei und Liebesstöhnerei die legitime Regulierung des Liebestriebes zu fördern[273] vorgeben. Nachdem sie ihr Liebespärchen und mit ihm den Leser und besonders die Leserin mit heißen Blicken, Küssen und anderen noch in den Rahmen der konventionellen Sittlichkeit fallenden Betastungen und Entblößungen weit genug gebracht haben, dann legen sie den Finger an den Mund, ziehen den Vorhang zu und pantomimen als echte Komödianten der Feigenblattmoral: ›So, meine Lieben, jetzt seht euch nach einem legitimen Strohsack oder, wenn's die Mittel erlauben, nach einem schwellenden Himmelbett um, und laßt den Herrn Standesbeamten oder den hochwürdigen Herrn Pfarrer rufen – und damit ist alles in schönster Ordnung, das sonst Zuchtloseste und Verfehmteste ist dann eitel Zucht und Sitte. Form ist alles. Legitimität und Justemilieu! Und die gute, gedrillte Kulturmenschheit weiß sich nichts Erhabeneres in ihren Gedichten, Bildern, Romanen und Theaterstücken, als diese ewigen Liebes-Legitimitäts-Aufschneidereien abzuorgeln und – – – in Wirklichkeit doch alles hinterrücks so geschehen zu lassen, wie's der alten und ewig jungen Natur gefällt. Nein, mein Freund, mit solchem Zeug wollen wir nichts zu thun haben. Das ist den Tropfen Tinte nicht wert, mit dem man's niederschreibt. Herzblut und[274] Wahrheit!‹ – – Haben Sie schon einmal gründlich erfahren, was Liebe ist – himmlische und irdische Liebe, wie sie unsere ästhetisch-sittlichen Spaltpilz-Spalter so weise und klug unterscheiden? Haben Sie ... Ich verstehe Ihr Schweigen zu würdigen, junger Freund. Es ist kräftiger, als ein lautes Ja. Aber wollen Sie wirklich nicht Platz nehmen? Ich spreche leichter, wenn ich Sie gut aufgehoben weiß. Ziehen Sie sich wenigstens den Schaukelstuhl ans Fenster; sitzend hört man nicht nur bequemer, sondern auch besser. Und Sie sind noch müde und nervös von gestern und haben einen Tag voll Arbeit vor sich. Rücken Sie mir das Rauchtischchen näher, bitte! So – Sie lieber Mensch.«

Schlichting hatte sich im Schaukelstuhl am Fenster niedergelassen. Er wandte sein bleiches Gesicht dem Sprecher zu, dessen ruhendes Längenbild sich ihm in phantastischer Verkürzung zeigte, im Nebel des Zigarrettendampfes: zunächst die schimmernde Glatze eines fast kreisrunden Schädeldaches, dann den seinen Nasenrücken, dann die rote Fläche des Schlafrocks auf dem weißen Fell dann zwei gelblederne Pantoffelspitzen.

»Es ist schade, Herr Schlichting, daß Sie nicht rauchen, und es ist zugleich ein Gewinn[275] denn das Rauchen – ich denke dabei nur an die Zigarrette, nicht an den derben Glimmstengel, noch an die klobige Pfeife – ist eins der wenigen wahrhaftigen Vergnügen, die uns das erbärmliche Leben bietet und welches sich auch der Weise gestatten darf; es ist leider aber auch eine Verführung zu erschlaffender Träumerei nicht allein, sondern auch zum Übermaß des Genusses. In letzter Hinsicht bin ich selbst ein abschreckendes Beispiel. Ich rauche viel zu viel, entsetzlich viel. Meine Stube ist ein blaues Wolkenheim, nicht wahr? Und Sie leiden gewiß darunter? Armer Freund, öffnen Sie nur ganz das Fenster. Ja? Sie sagen gar nichts?«

»Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Doktor. Ihr blaues Wolkenheim mit dem anstoßenden frisch grünenden Garten und dem plätschernden Springbrunnen ist für mich eine Idylle.«

Schlichtings Stimme klang matt, belegt. Seine Augen waren rot gerändert, seine Lippen blaß. In der Fensteröffnung neckte sich die durchsonnte Frühlingsluft, die stürmisch hereinflutete, mit den Rauchschwaden, die freien Abzug suchten. Hellblauer Himmel spannte sich über die Häuserlücke, in welche das Gärtchen eingebettet lag. Zwei Tauben saßen auf dem Beckenrand des kleinen[276] Springbrunnens und hoben ihre weißen und grauen Flügel, um den erfrischenden Wasserstrahl im Niederstäuben aufzufangen. Gelbe Schlüsselblumen äugelten aus den grünen Rasenbeeten. In der Mauernische sonnte sich des Königs Büste, ein Modell von dem Bildhauer Achthuber.

»Sie sind auch zu gut für diese Welt, mein lieber Impressionist. Und nun endlich zur Sache Letzte Zwischenfrage. Wie viel Uhr ist es?«

»Neun Uhr, Herr Doktor.«

»Recht. Dann, können wir noch eine gute Stunde ungestört plaudern. Die Kanaille da droben empfängt nicht vor zehn Uhr. Und ich bin bis halb Elf auch frei. Hoffentlich überfällt mich den Vormittag kein Kurier des Königs. Ich erwarte nur meinen Leibschneider und einen jungen Tonheros, der sich gestern schon melden ließ – Eleve von Franz Liszt, wie er stolzbescheiden auf seiner Visitenkarte annonciert – Arthur Friedberg mit Namen. Also! Der Preßbandit sitzt jetzt im Bewußtsein seiner redaktionellen Macht und Würde an seinem Werktisch, um die Korrekturen seines Witzblattes zu lesen. Er erwartet seinen ständigen Mitarbeiter, einen vor langen Jahren aus der Armee gestoßenen Leutnant, einen Pfälzer Landsmann von mir,[277] der sich als Winkellitterat und Karikaturenzeichner in der Hauptstadt niedergelassen hat und bei seinem zügellosen Lebenswandel allmählich so in Mißkredit gekommen ist, daß er als Bohémien der Feder und des Stiftes nicht mehr wählerisch in der Art seines Tagewerkes sein kann, will er sich überhaupt noch in dem faulen Sumpfe erhalten, der für ihn das Leben geworden. Aus seiner früheren Zeit hatte er sich wohl noch manche Beziehung bewahrt, die er als galanter Abenteurer und Schmarotzer ausbeuten konnte. Von reich verheirateten Damen, denen er einst zu mancherlei heimlicher Kurzweil behilflich gewesen und die seine Enthüllungen fürchteten, bezog er jahrelang einen Tribut. Allein auch diese Quellen sind im Wechsel der Zeit und der Verhältnisse endlich versiegt. Vom Salonstrizzi und gelegentlichen Mitarbeiter der besseren humoristischen Blätter ist er von Stufe zu Stufe bis zum journalistischen Wegelagerer und Staudenhecht gesunken. Neben manchem guten Fang und fetten Brocken waren es lange Zeit doch nur schmale Bissen, die er zu erjagen bekam, weil er als Einzelner mit seiner Haut einstehen mußte und seine Schleichwege dem Auge der Polizei in allen Krümmungen bekannt waren. Die Münchener Verhältnisse[278] erwiesen sich als nicht großstädtisch und kompliziert genug, um auf eigene Faust das Freibeutertum mit hinlänglicher Regelmäßigkeit, Ergiebigkeit und Sicherheit auszuüben. Mit der Gründung der ›Kloake‹ eröffnete sich ihm plötzlich die glänzende Aussicht eines festen Erwerbs in der Preßbanditen-Branche unter der Verantwortlichkeit eines andern. Jetzt brauchte er seine gefährlichen Schmieralien nicht mehr persönlich zu hausieren; er hatte in der ›Kloake‹ ein gesichertes Absatzgebiet, wo er unter dem Schutze des verantwortlichen Herausgebers und Verlegers darauflos hantieren konnte, ohne der Welt gegenüber im schlimmen Falle mit seiner eigenen Person einstehen zu müssen. In der Redaktion der ›Kloake‹ hat das Schmierantentum eine regelrechte Organisation gefunden, wo jeder einzelne Mitarbeiter in erwünschter Anonymität hinter dem Schilde des einzig verantwortlichen Räuberhauptmannes und Chefs seinem Gewerbe fröhnen, seine Notdurft befriedigen kann. In der königslosen Residenzstadt, wo durch die Abwesenheit eines die höchsten Gebiete des geistigen und geselligen Lebens macht- und glanzvoll umspannenden und befruchtenden Hoflebens auch Litteratur und Journalistik mehr und mehr in die Wege des[279] spießbürgerlichen Industrialismus getrieben und der kapitalistischen Ausbeutung unterworfen wurden, konnte sich in den letzten Jahren besonders in der niedrigeren Tagespresse eine immer entschiedenere Richtung ausprägen, welche die ergiebige Pflege der schmutzigsten Skandal- und Schmähsucht auf ihre besudelte Papierfahne geschrieben hat. Hatte selbst in den glücklicheren Zeiten der noch am Königshofe regelmäßig gepflegten ›Symposien‹ die hauptstädtische Tagesschriftstellerei die größte Mühe, mit der Aristokratie des Geistes und der Geburt in Fühlung zu kommen und dadurch ihr Ansehen und ihren Einfluß in Stadt und Land zu erhöhen, so waren jetzt, in der Epoche der Residenzflucht des Staatsoberhauptes, doppelte Anstrengungen nötig, um in der Journalistik Münchens eine dem hohen Rufe der Kunststadt einigermaßen entsprechende Repräsentation aufrecht zu erhalten. Durch den Mangel einer königlichen Hofhaltung war ja das residenzstädtische Leben der süddeutschen Biermetropole der stärksten Triebkräfte und Anregungen zur Entfaltung vornehmer, reicher Geselligkeit im großen Stile beraubt. Es fehlten die hohen Vorbilder, im Rahmen eines genial pulsierenden Kunststadtlebens die äußeren Lebenserscheinungen[280] im Salon, im Theater, im Konzert- und Ausstellungssaal, auf den Promenaden mit Pracht und Glanz und geistig-vornehmer Grazie auszustatten. In der Tagespresse spiegelt sich der Rückgang echt aristokratischen Wesens am deutlichsten. Die Werkeltäglichkeit des Gehabens, das Hemdärmeltum im Verkehr, die Verachtung der schönen Formen, die Banalität und Verphilisterung, wie sie sonst nur dem platten Materialismus einer Industrie- und Fabrikstadt eigentümlich sind, drücken mehr und mehr auch der königslosen Residenz- und Kunststadt ihr gemeines Gepräge auf – und Isarathen, als lebendige Erscheinung auch im Menschlichen, nicht bloß in toten Bau- und Bildwerken, ist eine Fabel geworden. Ton und Haltung des größten Teils der Tagespresse aber hätten der Münchener Journalistik am allerwenigsten ein Anrecht auf den hellenischen Ehrentitel erwerben und dieselbe als Trägerin atheniensischer Kulturgedanken und Lebensformen erweisen können.

Die Tages- und Wochenblättchen, welche auf die lumpigsten Instinkte einer geistig und sozial herabgekommenen Lesewelt spekulierten, schossen, Dank der Gewerbe- und Preßfreiheit, gleich Pilzen aus dem Münchener Boden. Sie machten[281] sich gegenseitig eine wütende Konkurrenz und bekämpften sich mit Mitteln, auf deren Ersinnung eine indianerhafte Phantasie hätte stolz sein können. Zahlreiche Blattleichen bedeckten quartaliter die Walstatt. Aber wer in diesem Kampfe um Leser, Abonnenten und Inserenten, so oft er auch zu Boden geschlagen schien und von der anständigen Presse ohne jedwede Handreichung gelassen und wie ein Geächteter behandelt wurde, doch immer wieder auf die Beine kam, das war Meister Preßbandit mit seinem humoristisch-satyrischen Wochen-Skandalblättchen ›Die Kloake‹. Bald versuchte er's mit kriechender Schmeichelei, bald mit sinnloser Frechheit sich an die Vertreter der relativ anständigen Presse als echte Schmeißfliege ›heranzuschmeißen‹ und ihre Aufmerksamkeit ›kollegial‹ auf sich zu lenken, jedoch ohne Erfolg. Die großen Blätter nahmen von der Existenz des dunklen Ehrenmannes nur unter der Rubrik ›Gerichtsverhandlungen‹ Notiz, so oft die ›Kloake‹ wegen Erpressung, Verleumdung und Ehrabschneiderei von der Schärfe des Gesetzes getroffen wurde, was in der letzten Zeit glücklicherweise nicht selten der Fall war. Wenn das in München grassierende Vereinsgründungsfieber fünf oder sechs Journalisten erfaßt und so[282] kraftlos gemacht hatte, daß sie sich nur durch die Errichtung eines neuen Klubs oder Bezirksverbandes zur ferneren Ausübung ihres hehren Kulturberufes aufzuschwingen vermochten, da schlich der Meister Preßbandit und Kloaken-Chef jedesmal auf den weichsten Sohlen heran, um seine vortrefflichen Qualitäten in den Dienst der ›guten Sache‹ zu stellen und seine interessante Persönlichkeit mit der kurzgeschorenen Schweinswolle auf dem Denkerhaupte, das mit dem Kopfe des geschätzten Rüsseltieres so erfreuliche Ähnlichkeiten hat, ritterlich anzubieten. Der Schuft braucht einen Putz, der seine Scheuseligkeit den Menschen erträglicher macht. Diesen Putz soll ihm das Herdengefühl, genannt Kollegialität, verschaffen. Er möchte auch am hellen Tage ausgehen und jemand haben, der auf der Straße seinen Gruß erwidert. Verstehen Sie dieses Bedürfnis? Er möchte jemand haben, mit dem er öffentlich per ›wir‹ sprechen kann. Das ist Notdurft und Luxus zugleich. Allein die Vereinsmannen hatten jedesmal trotz aller kollegialen Begeisterung, trotz aller Schwärmerei für den kameradschaftlichen Zusammenschluß aller Ritter von der Feder die Nüchternheit, den Herausgeber und Verleger des ruhmreichen Witzblattes von Isarathen an die[283] Luft zu setzen. Selbst wenn bei einer Journalistenvereinssitzung, die so zahlreich besucht zu sein pflegt, daß der dritte Mann zum Skat durch einen Expreßboten geholt werden muß, der ehrenwerte Kloaken-Chef sich gastfreundschaftwerbend angemeldet hätte, würde man ihm die Thüre vor der Nase zugeschlagen haben. Und er hat eine so empfindliche, vielsagende Nase, wie aus schimmeliger Käsrinde geschnitten! Eine Nase, die nicht nur riecht, sondern auch gerochen wird. Soll ich Ihnen ein Glas Kognak aufwarten?! Ich habe von einem Monsieur Paillard eine Probesendung da. Nein? Also weiter. Dieses gewiß nicht schöne Verhalten der Kollegenschaft bereitet ihm manche kummervolle Stunde. Nicht die stärksten Flüche über die Schlechtigkeit der Menschen, nicht die dreifache Dosis Doppelkümmel nach dem sechsten Liter Metzgerbräu, nicht die zärtlichste Prügelsoiree, die ihm ab und zu seine holde Gattin bereitet – nichts, nichts, nichts vermag in solchen Stunden die gepreßte Seele des Edlen zu erleichtern. Ja, das Dasein wird diesem biedern Kloaken-Chef zuweilen recht sauer gemacht ... Haben wir Mitleid mit ihm, Mitleid auch mit der Kanaille! Was meinen Sie,[284] mein lieber Schlichting? Hab' ich Sie in Schlaf geredet?«

»Nein, Herr Doktor. Ist Ihr Appell an das Mitleid ernsthaft gemeint? Ich bin geneigt zu glauben, daß diese Erzschufte in der That bemitleidenswert sind – um ihres inneren Elendes willen. Tat-twam asi ...«

»Bezähmen Sie diese Neigung, sie führt Sie irre. Pfarrer und Moralphilosophen haben allerdings vom sogenannten ›inneren Elend‹ der Bösewichte ein markerschütterndes Gemälde zusammenphantasiert, ein Gemälde im Schauderstil Wereschagins. Die gründlichere Beobachtung straft sie Lügen. Es ist nichts mit dem Seelenjammer dieser Jammerseelen. Diesen Spottgeburten aus Dreck und Fusel ist unendlich wohler, als den reinen Geistern. Ein Herz- und Nierenprüfer wie Shakespeare hat das eigenartige Glücksgefühl dieser Kreaturen scharf erkannt und an vielen Stellen überzeugend geschildert. Shakespeare, der genialste Analytiker menschlicher Verworfenheit und teuflischer Bosheit! Das Schopenhauersche Mitleid wäre hier Gefühlsentartung.«

»Wie steht es dann damit, daß alles Glück erst mit der Vernichtung der Leidenschaft, mit[285] dem Schweigen des Willens, mit der Askese und Entsagung begründet werden soll?«

»Glück und Glück ist zweierlei. Das Glück der Entsagenden ist die Sehnsucht der Übermenschen, die über den darwinistischen Affensprößling hinaus sind. Das Glück der Untermenschen ist die Befriedigung ihrer ererbten Affentriebe, ihrer Geilheit, Gefräßigkeit, Nachahmungseitelkeit und ähnlicher untermenschlicher Widerlichkeiten.«

Schlichting schüttelte den Kopf, zerstreut, mißmutig, abgespannt.

Doktor Trostberg bereitete sich eine frische Zigarrette aus duftigem Genidzetabak.

»Ja, das Glück der Bösen – das klingt freilich wie ungeheuerlicher Sophismus für sittlich ausgewaschene Ohren. Warum gedeihen denn die Bösen so üppig? Warum entschlüpfen denn gerade die exzessiven Schufte wie dieser Preßbandit viel eher den Quälereien und Quängeleien des Lebens, denen so viele brave Leute täglich unterliegen? Warum können diese Revolvermänner so frech mit ihrer Waffe spielen? Freilich, einmal verunglücken sie damit, aber sie haben doch unendlich lange sich des Erfolges ihres Räuberspiels erfreut.«

»Weil das Publikum so feige ist, sich ihre[286] Praktiken gefallen zu lassen. Das Publikum ist der Mitschuldige. Es läßt sich einschüchtern. Nicht bloß in Italien zahlt man den Räubern ein Lösegeld oder einen regelmäßigen Tribut, damit man vor ihren Überfällen verschont bleibt.«

Schlichting fieberte. Er fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.

»Nein, nicht bloß in Italien, sehr richtig. Dabei kommt auch noch dies in Betracht: der heilige Florian wird vom Feuerfürchtigen angerufen: ›Ich bitt' dich, heiliger Florian, verschon' mein Haus, zünd' andere an.‹ Wenn das Haus des andern brennt, ist's immer ein Schauspiel, das man sich mit Vergnügen beguckt, weil's die Nerven kitzelt. So bezahlt man als Skandalfürchtiger dem journalistischen Kloakenmann ein Schweigegeld für sich, damit man zugleich als, Skandalfreudiger sich an dem Anblick weiden kann, wenn er mit doppelter Frechheit über die Nichtzahler herfällt und sie von oben bis unten mit Kot bemalt. Dem genußgierigen Mob, auch dem gebildeten, ist jede Gemeinheit willkommen. Ich werde Ihnen einmal mit einer Reihe von Einzelfällen aus der sogenannten besten Gesellschaft aufwarten, daß Sie staunen sollen. Aber Sie müssen erst gehörig Kognak trinken lernen, –[287] wollen Sie einen Schluck? ich habe sehr guten da – damit Sie den Ekel aushalten. Ja, dieser glitzernde Sumpf, dieser duftende Misthaufen ... Und das will sich, wie der Pharisäer im Evangelium, an die Brust schlagen und augenverdrehend den Himmel angrüßen: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute aus Sodom und Gomorrah ... Sie sind noch jung in München, lieber Freund. Die schmutzigen Münchener Geheimnisse unter der sozialen Glanzwichse entschleiern sich nicht mit dem ersten Blick. Ich werde Ihnen meine Augen und meine Materialiensammlungen leihen, wenn die Zeit gekommen. Dann werden Sie tief hineinblicken in unser verborgenes Leben. Nur will ich die Stetigkeit Ihrer Arbeiten nicht beeinträchtigen durch Stoffüberladung. Nur eins will ich Ihnen heute noch erzählen, um der Kontrastwirkung willen. Ein Widerspiel exzessiver Güte der exzessiven Schlechtigkeit. Im Gegensatz liegt die Kunst, auch für den Impressions-Novellisten. Wie lange sind Sie in München, Herr Schlichting? Zwei, drei, Jahre, nicht wahr? Also werden Sie den Mann nicht vom Sehen kennen, kaum vom Hörensagen. Ja, doch, ich selbst habe Ihnen neulich andeutungsweise von ihm gesagt, daß ihn der Preßbandit[288] hin und wieder durch seine ›Kloake‹ schleife. Richtig. Es geht mir so viel durch den Kopf. Die Verhöhnung in dem Sudelblatt ist jetzt vielleicht in München noch die einzige Erinnerung an ihn. Effenbach ist ein Verschollener. Er hat sich vor ein paar Jahren müde, abgehetzt, krank vom hauptstädtischen Schauplatz in seinen Steinbruch zurückgezogen, wie ein todwundes Wild, das im Wald einen Unterschlupf zum Verenden sucht. Vielleicht haben Sie meine Andeutung überhört. Wie's heute um den Maler Effenbach steht, weiß ich selber nicht. Welch' ein unzeitgemäßer Mensch! Stellen Sie sich vor: er lebt im Lande des berühmtesten Bieres – und trinkt nur frisches Wasser; er lebt in der Stadt der saftigsten Braten und Kalbshaxen – und begnügt sich mit der schmalen Pflanzenkost des strengsten Vegetarianers; er lebt in der Kunstmetropole, wo die vertraktesten Modebilder in den Straßen herumlaufen und die Künstler in ihrer Tracht sich der sterilsten und geschmacklosesten Schneiderphantasie unterwerfen, um vor dem herrschenden Philister- und Geckentum nicht aufzufallen – und er kleidet sich in ein schlichtes wollenes Kuttengewand wie ein Mönch; alle Welt verbummelt die heiligen Sonntage so sündhaft und vergnügt wie möglich –[289] und er sammelt seine Gedanken bei den Verachteten und Verlassenen und hält Vorträge über die Quellen des menschlichen Elends; alle Welt liegt auf den Knieen vor dem goldenen Kalb und kankaniert den Narrentanz nach Lust, Reichtum, Ehre – er steht hoch aufgerichtet da in seiner Armut und apostolischen Reinheit, beschäftigt sich mit dem Leid der andern und erstrebt nichts, als daß man ihn unbehelligt seinen uneigennützigen Beruf als Menschheitsfreund erfüllen lasse. Heilandhaftigkeit eines Neu-Nazareners im Lande der alleinseligmachenden Maßkrüge! Wo sogar die himmelragenden Thürme der Metropolitankirche zu ›Unsrer lieben Frau‹ die Form von Riesenmaßkrügen haben. Erlösung dem Erlöser! Die andern besorgen sich ihre Erlösung auf ihre Weise. Durch die Jahrhunderte spottet's vom Jordan zur Isar herüber: Wenn du ein Gott bist, so hilf dir selbst und steig' herab vom Kreuze! Und Effenbach schleppt seinen Kreuzbalken ... Dabei arbeitet er im Stillen rastlos an der Vervollkommnung seiner Kunst, denn er ist ein genial veranlagter Maler, und verschmäht es, sich mit seinen Studien der Öffentlichkeit aufzudrängen. Seine Kunstgenossen sehen ihn über die Achsel an. Welch' ein unzeitgemäßer Mensch,[290] nicht wahr? Nein, mehr als das: ein Phantast, ein Narr, ein Unfugtreiber, ein polizeiwidriges Subjekt! Ja, ja. Wiederholt ist er seiner Kleidung und seiner Lebensweise wegen vor die Schranken des Gerichts zitiert und des öffentlichen Unfugs angeklagt worden. Natürlich! Wo er sich blicken ließ, in unserer gebenedeiten Biermetropole und Kunststadt, lief ihm der Pöbel nach, und die Ansammlung der Maulaffen hätte Verkehrsstörungen und Unglücksfälle verursachen können. Welch' ein Malheur, wenn einige Troddeln unter die Räder gekommen wären! Aber die Troddeln müssen geschützt werden, selbstverständlich. Die vereinsmäßigen laxen Vegetarianer hassen ihn wegen seiner Strenge und unbeugsamen Konsequenz; die parteimäßigen, ihren Mantel nach dem Winde hängenden Politiker und Volksbeglücker verlachen und verachten ihn wegen seiner reinen Unabhängigkeit und Selbsttreue; die große Herde der Gaffer und zeitgemäß gebildeten Philister verspottet ihn als einen Dummkopf aus Prinzip; die fanatischen Frömmler verfolgen ihn ... Man kann sich das brutale Verhalten der Allgemeinheit solchen Ausnahmemenschen gegenüber sehr gut erklären. Schopenhauer hat stets darauf aufmerksam gemacht, daß die sogenannte[291] gute Gesellschaft Vorzüge aller Art gelten läßt, nur nicht die geistigen und reinmenschlichen. Und das geht hinauf und hinab durch alle Schichten der konventionellen Bildungswelt. Wie wird beispielsweise unser König seiner geistigen und menschlichen Eigenheiten wegen angefochten – natürlich nur versteckt, insgeheim, denn seine königliche Würde gewährt ihm einen Schutz, dessen sich andere Sterbliche nicht erfreuen. Er ist in dieser Welt des herrschenden Militarismus kein Kriegsfürst, kein Stechschrittfex; er ist inmitten einer den sogenannten ritterlichen Passionen der Jagd und des Sports huldigenden Aristokratie nicht nur kein Liebhaber dieser grausamen Vergnügungen, sondern deren erklärter Feind: er ist bis zu einem gewissen Grade ein geistig überlegener Gegner unserer herrschenden Kunstzustände und schafft sich auf dem Gebiete des Schönen sein eigenes Phantasiereich. Das alles verletzt die anderen, die jeder Thorheit, Narrheit, Verkehrtheit und Stumpfheit grenzenlose Geduld und liebevolle Nachsicht erweisen, sofern sie in den überlieferten Kram passen, die aber durchaus nicht zugeben wollen, daß wir eigenartig wir selbst seien, wie es unserer individuellen Natur angemessen ist. Wir sollen mit diesen anderen[292] im Einklange leben, wir sollen einschrumpfen, uns umgestalten, d.h. uns verunstalten. Welch' eine barbarische Tyrannei! Einem König ist nicht beizukommen. Aber dem Maler Effenbach war beizukommen. Wie hat man ihn gemartert! ...«

Im Verlaufe dieser Erzählung hatte sich Schlichting leise dem Sprecher genähert.

»Ich glaube den Mann zu kennen, Herr Doktor, Ein sonderbarer Zufall ... ich glaube wenigstens ...«

»Hat es nicht geklingelt?«

Doktor Trostberg erhob sich, tief aufatmend von der langen Rede.

»Wir müssen leider abbrechen. Ich erwarte Besuch. Aber noch das: dieser Effenbach ist es wert, von Ihnen gründlich nach der Natur studiert zu werden. Ein Mensch, der noch niemand beleidigt hat, der in stiller Zurückgezogenheit seiner Liebe zur Kunst und zur Menschheit lebt, nicht wahr, das ist ein ausgesuchtes Original? Schreiben Sie einmal seine Lebensgeschichte mit der Strenge des Gelehrten und mit der Zartheit des Dichters. Ihre Manuskriptblätter lassen Sie mir einstweilen da. Also nicht vergessen: was den modernen Gelehrten so hoch über die flunkernden Dichter und Künstler und schöngeistigen Salbaderer[293] stellt, ist dies: er hat Ehrfurcht vor der Natur und ihrer Wahrheit, er ist kein Falschmünzer. Auch Sie sollen als angehender Schriftsteller dem Leben diese Ehrfurcht nicht versagen. Dies sei Ihnen heiliges Gesetz. Was Sie schreiben, schreiben Sie's als überzeugter Naturalist, aber – drucken lassen Sie's erst nach Ihrem Tode! Auf Wiedersehen!«

Er war aufgesprungen und hatte Schlichting beide Hände gereicht.

Und unter der Thür zum Vorzimmer, wo ein buckliges Männchen mit einem Pack unter dem Arm wartete: »Lassen Sie sich das gesagt sein: Nirgends kann man sich durch Wahrhaftigkeit mehr kompromittieren und mehr Unheil auf den Hals ziehen, als im heiligen römischen Reich deutscher Nation. Adieu. Gute Verrichtung.«

Ohne den Wartenden eines Blickes zu würdigen, die Thürklinke in der Hand: »Herr Maximilian Schlichting, Schlichting! Noch ein Wort! Er hört nicht mehr.« An das Flurfenster eilend: »Wie er in Gedanken und Träumen dahinsteigt, ein junger, wie von der eigenen Saftfülle etwas schläfrig ermatteter Frühlingsgott! Ein verdammt hübscher Bursch mit einem wahren Byronkopf. Dieser bebende Schwingungsreiz der jugendlich[294] schlanken Glieder. Ich darf ihn nicht mehr ansehen, sonst mache ich ihm wirklich noch eine Liebeserklärung. Das gibt einen Leckerbissen für ein verliebtes Weib ... Schade ... Ich hätte ihm noch ein Wort über sein Auftreten gegen den Preßbanditen sagen und doch ein Glas Kognak aufnötigen sollen ... Göttin der Klugheit, strenge Pallas Athene, steh ihm bei!« ... Mit hastigen schlurfenden Schritten eilte er an die Thür, die vom Flur ins Schlafgemach führt, und herrschte den bescheiden in der dunklen Ecke wartenden Handwerksmann an: »Treten Sie daherein! Schnell, ich habe keine Zeit zu verlieren!«

Der kleine bucklige Schneider mit der spitzen Nase, den blitzenden Äuglein und einem wehenden flachsartigen Bart unter dem Kinn hinweg von Ohr zu Ohr, trippelte hinein und breitete den Inhalt seines Packets auf dem Bett aus. Es war ein neuer Frackanzug mit wattiertem Unterbeinkleid.

»Hilf, alter Knabe,« rief Trostberg seinem Diener, dem halblahmen Gabriel, einem verunglückten Zirkusklown, den er vor einem Jahre auf einer Reise in der Schweiz aus Mitleid aufgelesen,[295] »hilf, damit wir die Fetzen gleich anprobieren.«

Gabriel humpelte heran, schnitt eines seiner fünfundzwanzig drolligen Gesichter, indem er die Augenbrauen im spitzen Winkel in die Höhe zog und die Unterlippe schwer herabsinken ließ. Er hatte wieder den ganzen Morgen über das »Ding an sich« gebrütet. Seit er in Trostbergs Diensten, hatte er so vielerlei philosophische Brocken aufgeschnappt, daß er sich des Nachdenkens darüber nicht mehr erwehren konnte. Und erst seit der Doktor ihm selbst einen Band Schopenhauer mit den Worten in die Hand gegeben: »Der sei Dein Erzieher!« hatte der Exklown Anwandlungen tiefsinnigster Grübelei. Zirkus-Erinnerungen und Philosophie gaukelten in seinem Kopf gar wunderlich.

»Du schielst ja wieder wie ein Haremstürke. Hier, zieh mir die Beinkleider aus und hilf mir in die neuen hinein. Erst das.« Und er griff nach den Wattons.

»O da könnt' man Blutwurst mit Kraut schwitzen, so eng ist der Schlauch,« ächzte der Diener und preßte seine Zunge in den rechten Mundwinkel.

»Der gnädige Herr werden zufrieden sein,[296] der Schnitt ist gelungen, die Polsterung am rechten Fleck – sehen Sie, jetzt ist Ihr Bein so gerade gewachsen wie ein spanisches Rohr,« beteuerte der Schneider-Gnom und streichelte und zupfte am Knie und an den Waden herum.

»Da oben zwickt's,« bemerkte Trostberg und deutete auf die verfängliche Stelle.

»Werden wir gleich haben,« sagte geschäftig der Bucklige, warf seinen wehenden Flachsbart auf die Schultern und steckte die spitzige Nase an den bezeichneten Ort. »Aha«.

»So, jetzt ist's gut. Nun den Frack her.«

Gabriel faßte den Frack an den Aufschlägen mit Daumen und Zeigefinger und wiegte ihn in der Luft mit einer Grazie und Vorsicht, als käme jetzt eine Zirkusreiterin angesprengt, um den Teppichsprung auszuführen. »Hipp, hipp,« schnalzte Gabriel leise und seine Augen versanken in einem Runzel- und Faltentrichter, um plötzlich wieder wie Glaskugeln hervorzuschießen. »Bravo, gnädiger Herr, süperb geschlüpft. Man kann's nicht schöner machen. Wille und Vorstellung gleich gut, des größten Artisten würdig.«

»Keine Redensarten. Wie sitzt der Frack? Ist er gelungen?«

»Wie das Ding an sich.« Dabei legte Gabriel[297] sein runzliges Klownsgesicht in Falten und nickte dem Schneiderlein überlegen zu.

»Haben Sie die Rechnung bei sich, Herr Zangl?«

»Zu dienen, gnädiger Herr; sie steckt in der Fracktasche.«

»Nimm sie heraus, Gabriel, und leg' sie zu den übrigen. Sie pressieren doch nicht, Herr Zangl?«

»Rechnungen,« brummte Gabriel, »wir machen uns nichts aus dieser Erscheinungsform des Willens.«

Der bucklige Schneider legte sein dunkelgrünes Umschlagtuch zusammen, verbiß einen Seufzer und antwortete zaghaft mit säuerlicher Miene: »Gar nicht, gnädiger Herr, es sind zwar schlechte Zeiten, wir haben leider ja kein Hofleben mehr in München, keine Feste und Gesellschaften, keinen Luxus, es ist alles so einfach bürgerlich geworden wie in der Provinz, alle Geschäftsleute klagen, aber wir müssen so auch zufrieden sein.«

»Natürlich müssen wir das.«

»Es wird wohl auch wieder besser kommen. Ewig kann's doch nicht so fortgehen.«

»Nein, ewig nicht.«

»Wie es Seine Majestät nur so lange hat[298] aushalten können in den einsamen Bergen und Schlössern, siebzehn, achtzehn Jahre oder mehr ...«

»Die großen Geister haben immer die Einsamkeit gesucht. Nur Alltagsmenschen brauchen die Herde zur Gesellschaft, weil sie sonst vor Langweile umkämen, da sie nichts in sich selbst haben. Ein bedeutender Mensch fühlt sich umgekehrt in der Gesellschaft vereinsamt und allein.«

»Mit Erlaubnis: Seine Majestät soll zuweilen ja Gesellschaft in seinen Schlössern haben, aber nicht die passende ... Stallknechte ... Lakaien ...«

»Das ist seine Sache.«

»Majestät soll in diesem Frühjahr nicht nach München wollen. Die Stadt soll ihm noch verhaßter sein, seit er ... Man hört so allerlei. Sonst befindet sich Seine Majestät doch wohl?«

»Danke gütiger Nachfrage. Den Umständen angemessen. Adieu, Herr Zangl.«

»Adieu, Herr Doktor. Entschuldigen Sie. Adieu.«

»Schließ die Thür, Gabriel, und mache, daß ich aus dem engen Zeug wieder herauskomme. Zu allen Martern des Daseins auch noch diese Zwangskleidung, in der man sich eingepreßt fühlt, wie ein Wickelkind.«[299]

»Bah, Herr, eine zufällige Erscheinungsform, nicht das Ding an sich. Aber was ist das Ding an sich? Dem möcht' ich eins hinaufsitzen, wenn ich's mit der Peitsche erreichen könnte ...«

»Das Ding an sich ist der Klowinismus. Der Klownismus muß da sein, und deshalb ist er da. Er ist der Kern von allem. Reiß doch nicht so! Verneinung des Klownismus ist Verneinung des Willens zum Leben. Drum bist und bleibst Du Klown, so lang Du lebst. Du kannst Dich anstellen, wie Du willst, der Klown ist das Bleibende. Nicht so ungestüm sag' ich.«

Der Kammerdiener-Exklown hatte seinen Herrn bis auf's Hemd entkleidet.

Da ging die Klingel.

»Sieh nach ... Nein, bleib' da. Ich bin ja fast nackt ... Sieh doch nach. Wenn's der Tonheros, der langharige Herr von gestern ist, führ' ihn in den Tempel der Weltlitteratur und biete ihm Zigaretten an und ein Glas Kognak. Musikanten haben immer Durst. Ich sei in der Toilette begriffen und käme gleich, sag' ihm.«

»Den werde ich nach Noten behandeln, den Musikanten,« schmunzelte Gabriel, machte ein Schafsgesicht und hinkte hinaus.

Ein überaus schlanker, hochgewachsener, junger[300] Mann mit langen, schwarzen Haaren und glattrasiertem, fahlem Gesicht trat herein.

Es war Arthur Friedberg. Er wurde von Gabriel vorschriftsmäßig empfangen. Es wurden ihm die Zigarretten vorgelegt – Gabriel steckte zur Nachprobe gleich ein Päckchen in die eigene Tasche; auch die Kognak-Karaffe wurde hingesetzt und Gabriel ließ sich's von seinem guten Genius nicht zweimal sagen, zunächst selbst ein volles Glas hinter die Binde zu gießen. Friedberg berührte nichts.

»Wer sind Sie eigentlich, sonderbarer Hausgeist?« fragte der Musiker mit gekräuselter Lippe, von der Höhe seiner sechs Fuß und des Bewußtseins seines inkommensurablen Talentes herab.

»Ich bin nicht, der ich war, und war, was ich nicht gewesen bin. Der Herr Doktor wird gleich kommen; den kann man viel fragen. Gehen Sie einstweilen mit Ihrem Ding an sich im Tempel der Weltlitteratur spazieren.« Und für sich setzte er im Abgehen hinzu: »Und lassen Sie sich mit Notenköpfen in allen Tonarten klystieren, Sie verstopfte Einbildung von einer hohen C-Trompete.«[301]

»Gnädiger Herr, der ist besorgt und aufgehoben,« meldete der Hinkende.

»Also er gefällt Dir nicht, der Tonheros?«

»Nicht so viel. Das ist ein überspannter Tropf.«

»Gabriel!«

»O, Sie werden ja sehen – und kurzen Prozeß mit ihm machen.«

»Schnell, meinen dunkelbauen Promenadenanzug, Gabriel.«

»Mit dem Sonnenblumen-Orden?«

»Laß Deine Zirkuswitze von damals.«

»Ach, Herr, damals war der ›dumme Aujust‹ auch immer mit den schönsten Orden bemalt, von oben bis unten, vorn und hinten. Der Zirkus ist die vornehmste Welt, das Publikum abgerechnet, und die gelehrteste Welt; so gelehrte Hunde und Schweine – bitte, hier in den linken Ärmel – immer diesen gebildeten Umgang – hier die Manschetten. Ein frisches Taschentuch gefällig? München will eine Kunststadt sein und hat nicht einmal einen Zirkus. Die Kravatte sitzt schief, erlauben Sie. Der hochnäsige Musikant da drinn' möcht' sich wohl auch für einen Künstler ausgeben. Die Hose müssen wir wieder einmal glatt bügeln. Der Hochmut dieser Parterremusiker![302] Die sollen sich erst einmal aufs Trapez schwingen oder auf die schwankende japanesische Leiter, ehe sie von Kunst reden wollen. Wir hatten einmal einen Musikklown – sonst ein ganz gemeiner Mensch, aber wie der in den höchsten Regionen geigte und eine glatte Serie von Saltomortales dazu machte ...«

»Gabriel, hinkender Teufel, Du bist ein unverbesserlicher Schwätzer und Taugenichts.«

»Wie Gott will, das heißt nach Schopenhauer wie der Wille will.«

»Du hast wieder getrunken?«

»–? –!«

»Marsch, pack' Dich mit Deinem Willen auf Deinen Posten!«

»Immer der alte Schnee: der Wille mit der Marschroute. Der Wille will, was er muß. Also ist der Wille nicht das Ding an sich ... Das Ding an sich ist das Müssen. O Schopenhauer, dem dummen Aujust steht der Verstand still.«

»Besser, es stünde ihm das Maul still.«

Der Doktor lächelte dem forthumpelnden Diener nach.

Der Musiker stand mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Lippen vor dem Bilde Schopenhauers. Er trug einen hellbraunen Überrock[303] mit dunklem Samtkragen, etwas zu kurze Beinkleider, absatzlose Schnabelschuhe, gelbe waschlederne Handschuhe und um den Hals ein weißseidenes Tuch lose über dem modischen Stehkragen geknotet. Die Haare waren von der Stirn zurückgekämmt, bauschten sich an den Ohren auf und fielen als wirre Büschel auf die Schultern. Es war ein Gemisch von altfränkischer Künstlerziererei und modischer Sauberkeit in der ganzen Erscheinung. Aus den Zügen des nicht unangenehmen Gesichtes sprach fanatisches Selbstbewußtsein.

Nachdem er die Begrüßung und Entschuldigung des eintretenden Doktors mit feierlicher Miene angehört und mit stummer Verbeugung erwidert, nahm er auf dem ihm angewiesenen Lehnstuhl Platz. Doktor Trostberg liebte es, sich der besseren Beobachtung wegen zu neuen Besuchen so zu setzen, daß sein Gesicht im Schatten blieb, während auf das des Gastes volles Licht fiel.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

Indem Friedberg langsam die gelben Handschuhe abzog: »Ich komme aus Italien, wo ich mit meinem verehrten Meister Franz Liszt den Winter zu verleben pflege. In Neapel habe ich[304] die Bekanntschaft des genialen Architekten und vielseitigen Reisenden Joseph Zwerger gemacht. Aus seinen Andeutungen schöpfte ich das Vertrauen, daß Sie meine Annäherung nicht abweisen würden. Ich glaube, unsere Wege bewegen sich nach dem nämlichen hohen Ziele: der überlegenen deutschen Kunst die Weltherrschaft zu sichern, zunächst durch eigene Produktion, dann durch Förderung des besseren Bekanntwerdens der Meisterwerke anderer, hauptsächlich Franz Liszts.«

»Sie gestatten eine Unterbrechung: Sie sind Raucher? Lassen Sie uns auch auf diesem Wege das nämliche hohe Ziel anstreben: hier Zigarretten aus Genidezetabak, russische Papyros, Feuer, bitte, bedienen Sie sich. Es hört und spricht sich besser beim Rauchen.«

»Ich bin Tondichter – danke, es brennt schon; Sie sind Wortdichter – vorzüglicher Tabak. Ich schlage Ihnen eine gemeinsame Arbeit vor.«

»Ah, Sie wünschen ein Libretto für eine, große Oper.«

»Nein. Wenigstens vorderhand nicht. Ich habe im Stile und unter den Augen und Ohren meines verehrten Meisters Franz Liszt umfangreiche, den Konzertabend füllende symphonische[305] Tondichtungen geschaffen. Dazu bedarf ich eines fein ausgeführten, poetischen Programmes. Es handelt sich um Programm-Musik, verstehen Sie, für großes Orchester.«

»Ich verstehe, Herr Friedberg. Darstellung bestimmter poetischer Stoffe durch Instrumentalmusik, wie die poetisierenden Symphonieen von Liszt, Berlioz, Raff, Romantik mit Pauken und Trompeten und so weiter ...«

»Sie kommen mir wunderbar entgegen, Herr Doktor. Ich gehe aber weiter, als die Genannten, ich erweitere den Gedanken- und Gefühlsinhalt der Programm-Musik in neuen, eigenartigen Formen.«

»Bitte, gehen Sie lieber nicht weiter! Ich ahne alles, was kommt – und verwerfe alles.«

Friedberg, die Zigarrette aus dem Munde nehmend, mit überlegenem Lächeln: »Wie vermögen Sie das?«

»Rund heraus: ich betrachte die ganze moderne Instrumentalmusik als einen kolossalen künstlerischen Irrtum; ich negiere alle von Sebastian Bach bis auf Wagner und Brahms komponierte programmatische Musik grundsätzlich. Für mich ist Bach nicht weniger auf dem Holzweg, als Wagner; Mozart und Beethoven nicht weniger,[306] als Liszt und Brahms. Nur durch die im Verlaufe der Zeit und der Gewöhnung geschaffene Verderbnis des Gehörs sind wir überhaupt im stande, moderne Instrumentalmusik zu ertragen. All' unsere Begriffe von Wohlklang und Übelklang, von melodisch und unmelodisch, von harmonisch und disharmonisch sind das Ergebnis einer grundfalschen musikalischen Erziehung. Späteren, natürlicheren Zeiten und Bildungszuständen wird es ganz unerklärlich bleiben, wie unsere so viel gepriesene Zivilisation diese unsinnige Instrumentalmusik so hoch und wichtig nehmen konnte. Ich finde sie widernatürlich, scheußlich. Was gibt uns denn diese Instrumentalmusik, die von einem siebzig bis hundert Mann starken Orchester in unsere armen Ohren geschmettert, gepfiffen, gestrichen, getrommelt und gepaukt wird, an gegenständlichen Klangfiguren und Klangzeichnungen? Nicht so viel als uns zum Beispiel in der Malerei Tapeten- und Kleidermuster geben. Erwecken denn diese Striche, Linien, Punkte, Tupfen in allen erdenklichen kaleidoskopischen Durcheinanderschüttelungen, die alles malerischen Sinnes und Verstandes entbehren, erhabene Gefühle und Stimmungen in uns? Das wird niemand zu behaupten wagen. Aber in unserer[307] musiktollen Welt gibt es sogar geistreiche Leute, die sich nicht genieren, die musikalischen Striche, Linien, Punkte und Tupfen, die vom Orchester rhythmisch und harmonisch durcheinander gemischt werden, erhaben und entzückend zu finden. Wenn ich aber durch musikalisches Geräusch mich erheben und entzücken lassen will auf dem Wege sinnlich-sinnloser Klangeinwirkungen, so bedarf ich dazu gar keines Kunstapparates, keines kostspieligen Orchesters; dazu reicht das musikalische Geräusch der Natur aus. Ja, ich finde, die einfache Natur wirkt noch viel tiefer und mächtiger. Oder welche Instrumentalmusik reicht denn an die rührenden, beseligenden, erschreckenden Wirkungen heran, welche auf unser Gemüt das Rauschen des Waldes, das Brausen des Sturmes, das Heulen des Windes, das Pfeifen des Hagelschlages, das Rollen des Donners, das Säuseln und Schauern der Luft, der Gesang der Vögel, das Plätschern des Baches, das Murmeln des Quells und so weiter hervorrufen? Für den denkenden und phantasievollen Menschen ist hier auch eine ganz andere Fülle innerer Gesichte und Gedankenverkündungen, als in der wort- und gedankenlosen Instrumentalmusik für großes und kleines Orchester. Sublim, rufen unsere Musiklärmschwärmer![308] Dann ist die Münchener Bockmusik auch sublim, und die Tanzmusik nicht weniger erhaben, als die prätentiösen Konzert-Ouvertüren Mendelssohns und Schumanns ...«

Der Musiker hatte den Kopf zurückgeworfen, die Zigarrette mit den Zähnen zerbissen und drückte und kneipte jetzt mit den langen, knochigen Fingern an seinem Halse herum, als würge ihn etwas zum Ersticken. Endlich brachte er zerhackt die Frage heraus: »Aber die Verbindung von Wort und Ton, die Verschmelzung von Poesie und Musik zu völliger Einheit, wie in Wagners Musikdramen, lassen Sie gelten?«

»Bedingungsweise, Poesie und Musik vereinigt, aber unter Vorherrschaft der Poesie.«

»So, so. Da werden wir uns hart thun. Übrigens grau ist alle Theorie. Das fertige Kunstwerk entscheidet. Wenn Sie erst einmal eine meiner Hauptschöpfungen gehört, empfunden, sozusagen erlebt haben, denken Sie – ich wage das zu hoffen – über gewisse fundamentale Punkte vielleicht weniger schroff. Aber lassen wir das heute auf sich beruhen. Noch etwas Anderes ließ mich auf des Herrn Zwerger Andeutungen hin die Ehre Ihrer Bekanntschaft suchen ...«[309]

»Herr Zwerger, ja, ja, der ist immer stark in Andeutungen. Er hat merkwürdige Schrullen. Wie geht's ihm denn? Ich habe so lange nichts mehr von ihm gehört. Nach Epochen absoluter Ruhe pflegt er loszubrechen wie ein scheintoter Krater und seine Briefe und Mitteilungen kommen dann glühend dahergerast wie verheerende Lavaströme. Gegenwärtig scheint seine vulkanische Natur in der Ruheperiode zu sein.«

»Ich kenne ihn nur so weit, daß ich ihn als einen ungewöhnlichen Menschen schätzen lernte. Es scheint ihm gut zu gehen. Meine Beobachtung stimmt mit der Ihrigen. Er ist ein wunderbares Gemisch von Sanftmut und Wildheit, von Ruhe und zehrender Ungeduld. Ein scheintoter Krater, wie Sie sehr richtig sagen. Also: er machte mir Andeutungen von Ihren einflußreichen Beziehungen zu Bayerns erhabenem Kunstfürsten in Ihrer Eigenschaft als geheimer Hof-Theaterdichter.«

»Erlauben Sie, da ist er in einem Wahn befangen wie so viele, die wenigstens besser unterrichtet sein könnten. Was für Klatschereien über die Umgebung des Königs und seine intimsten Verhältnisse machen heute die Runde um die Welt!«[310]

»Je nun, Hochachtung vor Ihrer Bescheidenheit, Herr Doktor; mir dürfen Sie in aller Aufrichtigkeit einräumen, daß Sie gute Beziehungen haben. Die haben Sie, nicht wahr? Nun hören Sie. Wie König Ludwig für den Meister von Bayreuth mit seiner königlichen Kasse und seiner königlichen Protektion eingetreten, so wünschen wir – meine Wenigkeit und ein anderer Tonkünstler meiner Schule – daß seine Majestät für unsere Richtung, für die neueste programmatische Zukunftsmusik, uns seine huldvolle Protektion zu leihen geruhe. Nichts weiter als seine ideale Protektion. Kein anderer Fürst in der Welt hat diesen macht- und glanzvollen Namen als Schirmherr der Kunst wie Ludwig von Bayern. Und nur um die Gunst des Namens ist es uns zu thun, um die Weihe unserer Bestrebungen durch sein erhabenes Protektorat. Wie die Fürstin Wittgenstein so treffend zu Wagner sagte: ›Notre art est un art de millionaire‹, so können wir Jüngsten auch von unserer Kunst sagen: sie ist eine Kunst für Millionäre. Wir verschwistern die älteste Weltmacht Kunst und die neueste Weltmacht Kapitalismus zu ideal-praktischem Bunde, das Genie der Millionen mit dem Genie der Muse ...«[311]

»Ihre Zigarrette ist ausgegangen.«

»Die Millionen sind auf unserer Seite ...«

Doktor Trostberg hielt dem Sprecher ein brennendes Streichholz hin und fixierte ihn mit kaltem Blicke.

»Mein Mitstrebender ist ein naher Verwandter Rothschilds ...«

»So. Sie wollen nicht mehr anzünden?«

Friedberg achtete keiner Unterbrechung. Er schüttelte nur seine schwarze Mähne, daß ihm das Haargewirr über die Ohren ins Gesicht flog.

»Auf der einen Seite der König der Finanz, auf der andern Seite – – verstehen Sie? Die Kombinationen sind unabsehbar. Wir gründen zunächst eine internationale Programm-Musikgesellschaft mit dem Sitz in München; wir werben ein internationales Riesenorchester an; wir nehmen der Reihe nach sämtliche erste Konzertinstitute und Musiksäle der größten Kunstzentren in Pacht, mit München beginnend, zur ausschließlichen Aufführung unserer Werke ...«

»Verzeihen Sie, es hat geklingelt. Ich kann nicht länger über mich verfügen.«

»Ich werde Ihnen unseren Plan schriftlich mitteilen. Ich kann auf Ihre Fürsprache bei dem Könige rechnen, sobald Sie etwas Positives[312] schriftlich von uns in Händen haben, Herr Doktor? Ich bin ja nur auf der Durchreise hier, zur Sondierung ...«

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen auch etwas Positives schriftlich mitgebe, eine Empfehlung an einen einflußreichen, kunstverständigen Freund ... Sie können davon Gebrauch machen, sobald Sie wiederkehren.«

Friedberg stand hoch aufgerichtet da. Trotz seiner Erregung war während des Redens die fahle Farbe seines Gesichtes nur blässer geworden.

Doktor Trostberg überreichte ihm ein Kuvert mit seiner Karte, darauf er mit Bleistift bloß die Worte geschrieben: »Herrn Direktor Dr. von Gudden.« Den internationalen Tonheros-Millionär zur Thür geleitend, verabschiedete er ihn mit einer Verbeugung: »Die Adresse können Sie im Gebrauchsfalle sehr leicht erfragen. Auf Wiedersehen.«

»Ich habe die Ehre, Herr Doktor.«

»Wer hat geklingelt, Gabriel? Es ist ja niemand da?«

»Verzeihung, ich habe selbst geklingelt, gnädiger Herr, um das Zeichen zum Aufbruch zu geben.«[313]

»Großartig. Du nimmst Dir Freiheiten heraus –«

»Ich habe vergessen, Herr Doktor: der Maler ist auch schon dagewesen und hat das Bild wieder gebracht. Der Herr Süßmann – –«

»Hat's also nicht loszuschlagen vermocht? Das hat man von den Kunstvereinsgewinnsten. Siebenhundert Mark Wert schreiben sie darauf, aber kein Mensch mag's um diesen Preis, nicht einmal um die Hälfte, nicht um ein Drittes. O Kunststadt!«

»Amen. Gerade jetzt hätten wir Baargeld so notwendig. Man kann zwar sehr gut von Schulden leben, wenn man sich's ordentlich einteilt. Aber das ist der Pessimismus: man kann sich's auf die Länge nicht ordentlich einteilen ...«

»Hansnarr! Wo ist das Bild? Lass' mal sehen.«

Gabriel schleppte den Kunstvereinsgewinn aus der Küche herbei: »Wären die Viecher doch nur lebendig, das gäb' ein Schlachtfest ... Was thut man nicht aus Verzweiflung. Man hängt doch lieber Schinken in den Schlot, als ein ungenießbares Oelgemälde ...«

»Geh, Barbar. Stell' es weiter nach links,[314] da ist das Licht besser. Gut. Prächtiger Rahmen. ›Ein Schweinestall im Freien‹ heißt das sinnige Gemälde. Von irgend einem berühmten Polaken, Schubiakowski, oder so ähnlich, mir ganz unbekannt. Moderne Hellmalerei, hm. Das ist ein schlechter Verkaufsartikel. Ein klassisch geschundener Heiliger oder Raubritter oder sonst etwas Ewigdummes aus der Mythologie würde eher einen begeisterten Käufer finden.«

»In der Ecke hockt die Sau.«

»Mutterschwein, sagt man.«

»Diese Frau Mutter von einem Schwein ist die schönste Sau, die ich in meiner Künstlerlaufbahn gesehen; für den Zirkus schon zu fett. Da kommt man mit der Dressur nimmer durch. Ach, wenn ich an sie denke, die Genossin meines Ruhms und meiner Leiden ...«

»Im Vordergrunde tummeln sich drei, sechs, acht, zehn Ferkeln, weiß und zart, ein Bild des Frohsinns und Lebens. Ein ideales Familien-Idyll.«

»Darüber hängt an einer Borste das Schwert des Damokles in Gestalt des unsichtbaren Schlächtermessers. Wollen wir den armen Opfern eine Thräne weihen, Herr Doktor?« Gabriel trat einen Schritt zurück, betrachtete von der Seite[315] seinen Herrn mit einer spöttischen Fratze. Seine Augen gingen vom Bild zum Doktor und vom Doktor wieder zum Bild und machten unterwegs Abstecher nach unten und oben; die alte Klownsnatur bekam so mächtiges Oberwasser, daß alle philosophischen Anwandlungen in grotesker Verzerrung zur gemeinen Spaßhaftigkeit mit fortgerissen wurden.

»Wie viel Schweine haben Sie gezählt, Herr Doktor? Zehn junge und ein altes? Ich bringe mehr heraus ...«

»Ich auch, wenn ich Dich mitrechne.«

»Ich bin nicht so anspruchsvoll, daß ich bei jeder Volkszählung dabei sein muß. Ich zähle nur die sogenannten Menschen auf dem Bilde mit ...«

»Ja, über die Bretterwand hinweg sieht ein Bursche mit einem Kinde im Arm und eine Frau mit einem Kübel, aus dem sie den Trog füllte. Der Maler hat aber offenbar seine ganze Hochachtung und Kunst nur den Schweinen gewidmet. Die Menschen sind den Tieren gegenüber sehr schlecht weggekommen.«

»Eigentlich sind die Menschen die wahren Schweine.«

»Esel, das ist das neue Kunstprinzip der Hellmaler,[316] die Menschen wie die Schweine und die Schweine wie die Menschen darzustellen. Das ist der sogenannte Naturalismus.«

»Das leuchtet mir ein, gnädiger Herr, ohne daß Sie sich in Avancements-Unkosten zu stürzen brauchen meinetwegen. Den Esel hebe ich mir auf, wenn ich wieder Schopenhauer studiere.«

»Sei nur nicht gleich empfindlich, mein kluger Engel Gabriel.«

»Erzengel, Herr Doktor.«

»Erzschuft.« Und der Doktor streichelte dem Exklown die verrunzelte Wange. »Siehst Du, die Menschen sind so ausdruckslos und stumpfsinnig auf dem Bilde und die Schweine so nett und aufgeweckt; auf den Gesichtern der Menschen liegt der Schmutz faustdick und die Schweine sind so frisch gewaschen in ihren weißen, rosigen Borstenhemdchen, so wunderschön glatt und gepflegt, und wie sie sich lustig grunzend zum Troge drängen und sich drücken und die Rüssel sich wie liebkosend an einander reiben. Geh', es ist ein reizendes Bild.«

Gabriel streichelte die gemalte Muttersau, ging mit dem Zeigefinger den Ringeln ihres Schwänzchens nach, tippte an ihrem milchgeschwollenen[317] Bauche herum – und leckte sich dann die Finger, ab. »Suk, suk, suk ...«

»Pfui, Gabrielchen.«

»Schade, daß nichts dahinter ist. Alles nur Vorstellung, wie bei Schopenhauer.«

»Du bist mir der rechte Spiritualist und Metaphysikus; Deine Vorstellungen gehen immer nach der Speckseite, nach dem schweinernen Grund der Dinge.«

Es klopfte an der Thür. Durch das Vorflurfenster spottete das blonde, löwenmähnig umwallte Gesicht des Doktors Erwin Hammer von den »Ungespundeten« herein. Er trommelte stürmisch an die Scheibe.

»Fort mit dem Bilde in die Küche!« befahl Trostberg. »Na, der würde uns schön auslachen. Dem ist nichts heilig, nicht einmal der Kunstschweinsgenuß. Verschließ' es gut. Wir versilbern's doch noch.«

»Ich bringe angenehmen Würzburger Besuch Trostberg. Öffne Dein Zauberschloß!«

»Gleich, gleich. Ein Gedanke, Gabriel! Vergiß nicht, den ›Schweinstall im Freien‹ dem Herrn Kommerzienrat Raßler anbieten zu lassen. Vielleicht heimelt ihn das Sujet an. Aber nicht sagen, wo das Bild herkommt! Preis dreitausend[318] Mark! Der Maler mit dem unaussprechlichen polnischen Namen sei der größte Schweinekünstler des Jahrhunderts, ein Spezialist von Weltruf, sei mehrfach geadelt und Inhaber von neunundneunzig Orden, male nur zu seinem Vergnügen, daher der billige Preis. Das wird dem Kunstfreund imponieren ... Verstanden Gabriel? Heute noch besorgen!«

Während Gabriel den Auftrag seines Herrn beifällig begrunzend, mit dem Bilde in der Küche verschwand, öffnete Doktor Trostberg gravitätisch die Hausthür.

»Ah, was sehe ich, welche Überraschung, ist es denn möglich, sind Sie's – bist Du's wirklich, Oberamtsrichter, Regierungsrat, Finanzdirektor oder wie Du dich sonst betitelst. Du avancierst ja immer. Deine Karriere ist der reine Blitzzug ... Es ist eine Ewigkeit her –!«

»Hab' ich's nicht gesagt, ich bringe angenehmen Besuch?« tenorte der Ungespundete und schob den etwas verdutzten Herrn mit der gestrengen, selbstbewußten, typischen Beamtenphysiognomie und der goldenen Brille und dem provinzlerhaft sorgfältigen Anzug über die Schwelle. »So, jetzt habt Ihr Euch. Empfehle mich. Heute Abend[319] bei den ›Ungespundeten‹ sehen wir uns wieder. Addio, Regierungsrat.«

»Komm' doch auf einen Sprung mit herein, Doktor Hammer!«

»Bedaure, hab' keine Zeit. Bin auf der Suche nach Drillinger. Weißt Du was von ihm?«

Trostberg schüttelte den Kopf, während er die beiden Hände des Regierungsrats aus Würzburg faßte. »Entschuldige nur ...«

»Also nochmals Addio.«

»Das ist kein Haus, das ist ein Taubenschlag,« brummelte Gabriel, indem er das Bild gegen die rußige Wand lehnte; er setzte sich auf den Küchentisch und nahm behaglich eine Zigarrette aus dem Päckchen. »Für den Schnabel. Ei, das schmeckt gut, wie ein Kraut aus dem Paradies. Besser noch, wie ein Kuß, ein frisch gebackener, im Frühling.« Und er blies kunstvolle Ringe und schmatzte den luftigen Gebilden nach und streckte die Arme aus und reckte sich. »Jetzt wär' ich aufgelegt ...« Nach kurzem Besinnen holte er sich aus einer alten Kohlenkiste eine »aufgesparte« Kognakflasche hervor, that einen kräftigen Zug: »Hurrah, es lebe der Zirkus Trostberg!« und noch einen: »Der Zirkus Schopenhauer!« und noch einen: »Was wir lieben!«[320] Nachdem er die Flasche wieder versteckt, warf er den Kopf in den Nacken, klatschte leise in die Hände und rief im Zirkusjargon: »Mjusik, Mjusik!« Dann setzte er sich auf den Tisch und jonglierte mit Korkstöpseln ...

Die Thür weit aufstoßend, war Trostberg inzwischen mit seinem Freund Regierungsrat Arm in Arm in den »Tempel der Weltlitteratur« geschritten ... Der Regierungsrat kniff die dünnen Lippen zusammen, rückte an seiner goldnen Brille auf der scharfkantigen Nase herum, strich sich die glatt gescheitelten, fest an dem birnförmigen, knochigen Kopf klebenden graumelierten Haare und sagte kühl und scharf: »Erlaube zunächst eine Vorbemerkung, verehrter Freund: dieser Erwin Hammer mit seinem geräuschvollen Wesen will mir gar nicht mehr gefallen. Er spricht so laut und frei, daß die Leute auf der Straße stehen bleiben. Unsereiner kommt ordentlich in Verlegenheit. Das geht nicht. Man kann von Kollegen, von Vorgesetzten beobachtet werden. Verstehst Du? Und diese gefährliche Aufspielerei: ›ungespundet‹! Was ist denn für ein Geist in die Leute gefahren? Sie sollten doch mehr Rücksicht auf unsere Situation nehmen. Man muß sich wahrlich scheuen, mit ihnen umzugehen. Zumal[321] jetzt, – wir sind doch unbelauscht? –! – wo so bedeutsame Veränderungen in der Luft liegen. Wir Diener des Staates – ich komme soeben vom Minister – Du verstehst mich doch? Die Zeiten ändern sich. Tempora ...«

»Mutantur, nos et mutamur in illis. Aber das wird sich gleich aufklären. Bitte, mach Dir's nur erst bequem.«

Trostberg eilte in die Küche: »Gabriel, ich bin nicht zu Hause, bis der Lateiner da d'rin fort ist. Ich bin für niemand zu sprechen – hüte die Thür! Nur für den Fall, daß ein Kurier –« Damit war der Sprecher schon davon.

Der Diener vollendete mimisch den Satz, indem er den Kopf ehrfürchtig neigte und die Arme auf der Brust kreuzte. »Seiner Majestät allerunterthänigster Diener.«

Gabriel humpelte an die Hausthür und wollte den Riegel vorschieben. Zuvor steckte er den Kopf lauernd hinaus. »Ah, ah, ah, 's Wäschermädel ... Pst, pst! ... Leise herein; so, weiße Unschuld, das hast Du schlau erwischt, Anna.«

»Die Wäsche für den gnädigen Herrn!« wollte die Prinzeß vom Waschkessel heraustrompeten und[322] ihren Korb auf die Schwelle stellen, um die betreffenden Wäschestücke herauszunehmen.

Schnell hielt ihr Gabriel den Mund zu und zog sie hinter die Thür, schob den Riegel vor und geleitete das erstaunte Wäschermädchen in das Schlafzimmer, immer auf den Zehenspitzen und mit dem Finger an den Lippen Schweigen gebietend. Er schob Anna, die sich leise sträubte, in die Fensternische, hinter den Vorhang; mit großen verwunderten Augen blickte das Mädchen bald auf den drolligen Diener, bald durch die Scheiben in den kleinen heimlichen Garten. »Ja, was ist's denn?« fragte sie schüchtern.

»Jetzt dürfen wir schon lauter schwatzen, hübscher Schneck. Da hört uns niemand. Der gnädige Herr hat hohen Besuch. Ein Lateiner! Da geht's auf Leben und Tod!«

»O Gott,« machte das Mädchen. »Lassen Sie mich gleich wieder fort, ich fürcht' mich. Dort im Korb –«

»Pressiert nicht,« grinste der Exklown, nahm seine süßeste, verführerischste Maske vor, tätschelte Annas Wangen, strich wie zufällig über ihre Hüften hinab und schwatzte dabei in einem Zuge, ein Gesicht dem ihrigen nähernd: »Das ist die merkwürdige Geschichte von dem Ding an sich,[323] Wie der Philosoph Schopenhauer gesungen hat: Es fühlt wohl jeder Mann einmal 'neu Hang zum Wäscherpersonal. Hast gut gewaschen? Ordentlich gebügelt? Recht steif gemacht? Der gnädige Herr mag's recht steif. O, weißt Du, der will's extra; die Hemden, die Kragen, das heißt, besonders die Manschetten recht steif, wie Blech. Du bist ein süßer Schneck.«

Das Mädchen machte sich von dem Zudringlichen los, schlüpfte unter den Vorhang weg, packte eilig die Wäsche aus und legte sie aufs Bett.

»Und da ist die Rechnung, die zwei letzten sind auch noch dabei. Ich soll das Geld ja mitbringen, sagte die Frau Huber.«

»O das pressiert nicht, und dann schau, Schneckerl, Du könntest's verlieren. Wir schicken Dir's mit der Post, mit der Eisenbahn, mit dem Telegraphen, mit dem Telephon, oder mit einem noch neueren Instrument, das g'rad erfunden wird. Heut nicht und morgen auch nicht, schau, Schneckerl, aber im nächsten Schaltjahr, da haben wir einen Tag mehr, den heben wir uns extra auf fürs Schuldenzahlen. Also einen recht schönen Gruß an die Frau Huber.« Dabei bemühte er sich wieder, das Mädchen in seine Arme zu bekommen.[324] Der frische Geruch ihrer Kleider, der warme Duft, den ihr junger, gesunder Leib atmete, dazu ihre Angst, in dem fremden Schlafgemach mit dem dämmerig verhüllten Fenster durch ein zu lautes Wort Skandal herbeizuführen, und zugleich ihr Bemühen, den verliebten Possenreißer abzuwehren, wodurch ihre Aufregung nur vermehrt wurde: das alles berauschte den sinnlichen Menschen und machte ihn kühner und frecher. »Schau,« flüsterte er heiß und seine Augen zwinkerten lüstern, »wir sind abgebrannt, wir brennen immer ab, das Lehel ist überhaupt feuergefährlich, gestern hat's auch in der Schneiderei gebrannt –« Jetzt umschlang er sie mit beiden Armen und zog sie zu sich nieder auf das alte Ledersopha, das dem Bette gegenüber an der Wand stand – »Erzähl' mir von dem Feuer in der Schneiderei, komm' Schneckerl, das interessiert mich. Der Schneider ist ein guter Freund von mir und die Schneiderin ist auch eine gute Freundin von mir ...«

»O Sie Schwindler, es ist ja gar keine Schneiderin da. Die Frau ist längst gestorben.«

»Das macht nichts.«

»Hören Sie auf! Sie thun mir weh ...« Sie preßte die Beine zusammen, machte sich[325] ganz steif und versuchte mit dem Ellbogen zu stoßen.

»Warum wehrst Du Dich denn so?«

»Oh, aber nein ... Pfui. Lassen Sie mich los!«

»Wie ist denn's Feuer angegangen?«

»Ich erstick' ja ...« stöhnte Anna und mühte sich verzweifelt, aus der leidenschaftlichen Umklammerung des Gewaltthätigen sich loszuringen.

»Das Feuer ...«

»Ich mag nicht. Sie halten mich auch für so eine ...«

Schon glaubte der Exklown mit der Ermattenden gewonnenes Spiel zu haben, als Anna durch eine geschickte Bewegung ihren rechten Arm freimachen und dem Zudringlichen eine so saftige Ohrfeige und einen Schlag auf sein Kunstgebiß versetzen konnte, daß er die Engel im Himmel in allen Tonarten singen hörte. Am liebsten hätte sie ihn erdrosselt.

»Mit mir geht's nicht so leicht, wie mit der Monika,« schrie zornig das Mädchen, schüttelte ihre Kleider und steckte sich flink die Haare zurecht. »Wir wissen schon, was Sie mit der gemacht haben, Sie ...«

»Pst, pst!« jammerte Gabriel und hielt sich[326] vor Schreck und Schmerz die Ohren und den Mund zu, während er mit der Zunge einen abgeschlagenen künstlichen Zahn herausstocherte.

Sie riß den Korb vom Boden auf und stürmte spornstreichs davon. Eine Wut hatte sich ihrer bemächtigt, daß sie alles über den Haufen hätte rennen mögen. Wenn's noch ein richtiges, fesches Mannsbild gewesen wäre, aber dieser grinsende Aff'! Ein Wäschermädel darf freilich nicht zimperlich sein und muß sich auf allerhand gefaßt machen, wenn sie mit Herren allein in einem Zimmer zu thun hat, das Mannsvolk kann von der Schmiererei und Druckerei nicht lassen, und die höchsten Herrschaften sind oft die allerunfeinsten und die Gebildeten die allerfrechsten, aber so etwas, wie dieser hinkende Teufel, nein, das war ihr noch nicht vorgekommen. Dieser unverschämte Hund. Na, das wird dem Doktor g'steckt, der soll wissen, was für ein Vieh er zum Bedienten hat. Und die Geschichte mit der Monika soll ihm auch noch eingerieben werden. Und in Geldsachen gar nichts Nobles, niemals ein Trinkgeld, dazu die ewige Pumperei. Was wird nur die Frau Huber sagen, wenn sie heut wieder ohne einen Pfennig heimkommt! Eine saubere Kundschaft! Neulich hat sich der freche Hanswurst[327] wurst gar auf den König hinausgeredet: der König zahle auch nicht gleich und der Herr Doktor hätte selber viel zu fordern ...

Und wütend warf Anna ihren Korb von einem Arm zum andern, daß die weißen, steif gebügelten Hemden aufraschelten. In die Brandversicherungskammer mußte sie noch und in die Hofsägemühle an der Maximiliansbrücke und zum Konsul Schmerold in der Quaistraße. Da hatte sie sich in ihrem Zorn ja richtig verlaufen! Links hinüber beim Jägerwirt! In ihrer Hast hatte sie mit ihrem Korb ein kleines Kind gestoßen, daß es plärrend in die Straßenrinne fiel. Ein altes Weib keifte hinter ihr her. Jawohl, man kann auf jeden Bankert auch noch Acht geben ... Wie sie jetzt scharf um die Ecke bog, rannte sie einen Herrn, gerade auf den Leib.

Es war Maximilian Schlichting.

Nach der langen Sitzung bei Trostberg und dessen ermüdender Rede, die er wie im Halbtraum angehört, schwindelte ihm der Kopf. Er mußte sich noch eine Zeitlang in der Luft ergehen und seine Gedanken sammeln, bevor er den Besuch beim Preßbanditen unternehmen mochte. Am liebsten wäre er auf und davongegangen. Die ganze Welt ekelte ihn an. Was hat ihn[328] nur so glötzlich in ihre schlammige Wirbel gerissen? Was wollte sie eigentlich von ihm? Als er noch abseits stand und mit allen Kräften des Leibes und der Seele seinen stillen Studien lebte, wie fühlte er sich da rein und gesund! Jetzt mußte er knietief in ihrem Schmutze waten, warum? Der Leiden und Leidenschaften anderer wegen. Zwischen gestern und heute dünkte ihm eine Ewigkeit zu liegen und er sich selbst ein Fremder geworden zu sein. Der glückliche Mensch in seiner Steinbrucheinsiedelei, der jetzt allen Stadtunrat hinter sich hatte! Die glückliche Flora, die in Italiens paradiesischen Gefilden schweifen durfte! Aber jetzt nicht daran denken! Der Weg, ist jedem vorgezeichnet; der muß gegangen werden. Jede Zögerung macht ihn nur mühsamer, jede Abschwenkung nur länger. Das Schicksal hat uns am Schopf und läßt nicht aus. Wer nicht gehen will, wird geschleift. An sein Ziel muß jeder, so oder so. Schlichting hieb mit seinem Stock eine matte Hochquart in die Luft, spuckte aus und nahm die Richtung nach der Behausung des Preßbanditen. »Wie mich der wahnsinnige Idiot wohl empfangen wird?«

Der Preßbandit hatte sich heute frühzeitiger! denn sonst an sein ehrsames Handwerk gemacht[329] »Morgenstunde hat Gold im Munde,« schmunzelte er, als er den Stoß Briefe gemustert hatte, den er auf seinem Tische vorfand: »Paillards Hand – und hier der Oberkomödiant Geiling – und hier die Dichterin Thusnelda Wechsler – das edle Kleeblatt seh' ich immer gern, die wissen, was sie einem Manne wie mir schuldig sind – drei, vier, fünf unbekannte Pfoten – hier ein amtliches Siegel, hier wieder eins, die heb' ich mir bis zuletzt auf, die Ämter soll der Teufel holen; die Aktenschmierer sind einem Journalisten von meiner Befähigung immer aufsässig; – hier ein Sendschreiben von meinem juristischen Nothelfer, dem Advokaten Dr. Ofenschlupfer, das ist eine Perle von einem Anwalt, der packt überall an und beißt sich durch wie ein Fuchs. Ohne seine freche Schnautze wär' meine Strafliste noch einmal so lang geworden. Was will denn der Gute? Seinem Klienten guten Morgen wünschen? Das dürfte er schon, ich setze ihn reichlich in Nahrung ... Was? Ein Absagebrief? Er mag nichts mehr mit meinen Rechtsgeschäften zu thun haben? Unmöglich. Das ist ein Irrtum, so sehr kann man sich nicht in einem Menschen täuschen. Da hat man mich bei ihm verleumdet. Ich muß ihn um Aufklärung bitten. Das lass'[330] ich nicht auf mir sitzen. Sofort ad notam. Ein halbes Dutzend Postkarten – zwanzig neue Abonnenten – hussa, das Geschäft blüht. Alte bring meinen Kaffee herein! Der Tag fängt gut an. Heute laß ich mich nicht ärgern. Drei Hörnchen mehr, auch von dem Gugelhupf und viel Butter. Hörst Du, Alte?«

Die Thür seines »Redaktionsbüreaus« war nur angelehnt. Die »Alte«, wie er seine holde Gattin und Gebieterin titulierte, wenn er sie gemütlicher Stimmung wußte, war nebenan in der Küche mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt. Die brave Dame mußte sich heute dieser Arbeit selbst unterziehen, weil gestern die Köchin plötzlich ins Gebärhaus abgeschoben wurde, allwo sie einer Frühgeburt entgegenbangte. Ein Ersatz war noch nicht gefunden. Das kleine Aushilfsmädchen, das man inzwischen angenommen, reichte gerade zur Stiefelputzerin und Thürsteherin aus. »Der Fetzen hätte uns die Schweinerei freilich ersparen können; aber Jugend hat nicht Tugend,« bemerkte philosophisch der Preßbandit auf das wiederholte Gezeter seiner über diese »Schandweibsbilder« empörten Gattin.

Jetzt erschien sie mit dem Kaffeebrett: Mokka, Rahm, Zucker, Butter, Gugelhupf, mürbe Brötchen[331] – alles in Hülle und Fülle. Sie sah heute womöglich noch verluderter aus, als sonst; sie schien sich eine besonders wüste Nacht geleistet zu haben. Nur mit einem fleckigen, rotwollenen Unterrock und einer weißen, zerknitterten Nachtjacke bekleidet, hingen ihre Brüste, die kein Schnürleib stützte, schlaff herab und die fleischigen Hüften traten, bei der hintern Abplattung ohne Kul, häßlich heraus; die ungeordneten Haare flogen ihr wie eine schwarze Wolke um das gelbe Gesicht, in welchem die blau umränderten, unheimlich glühenden dunklen Augen, die scharf eingeschnittenen Nasenflügel und das geschwollene Oberlippenzäpfchen ebenso wilde Triebe wie die verwilderte Art der Befriedigung verrieten. Es war die Weib gewordene Sinnlichkeit, die Nananatur, gezügelt durch ein Bedürfnis nach hausfraulicher Häuslichkeit und Geschäftigkeit, wodurch das Rouéhafte der Überreife sich nicht zu voller Widerlichkeit zu entwickeln vermochte, so daß für das Wüstlingsauge das Lustweckende ihrer gealterten Erscheinung nicht allzu sehr beeinträchtigt wurde.

»Laß Dir's schmecken, ich muß zum Kind hinüber, es scheint nicht ganz wohl, es ist so unruhig, ich glaub' der rechte Eckzahn kommt.«

»Das ist fatal. G'rad heut, wo vornehmer[332] Besuch angesagt ist; der Paillard kommt und der Geiling und wer weiß was sonst noch Feines. Die mußt Du auf Dich nehmen, verstanden? Ich hab' viel zu thun; ich muß heut auch wieder einen Schmarren zusammen dichten auf die Freibankmetzgerin Streibl, die gestern in Abrahams Wurstsack abgefahren ist. Der untröstliche Gatte und seine Dulzinea, die ich neulich mit dem Dreschflegel auf ihrem Liebeslager freundlich zusammengedroschen, haben die Weltgeschichte begriffen und ordentlich geblecht. Das poetische Märzveilchen, das ich auf das Grab der Seligen pflanzen will, hat er bestellt und hat die Dulzinea bestellt, ohne daß eins vom andern weiß, also springt ein schönes Doppelhonorar heraus. Das wird ein profitlicher Tag heute. Wie gesagt, wir müssen uns in die Arbeit teilen. Mach' Dich nur recht schön, Alte. Du weißt, der Franzos und der Komödiant geben was aufs Äußere, das sind anspruchsvolle Lumpen, aber Lumpen, die sich nicht lumpen lassen. Schön gesagt, nicht wahr, Alte? Aber daß Du mich nicht gar zu eifersüchtig machst! Ah, Du kennst mich ... Einen Kuß! ... Jetzt geh' zu Deinem Kind ...«

Während dieser geschäftsmäßig-zärtlichen Rede kaute er auf beiden Backen; er war ein großer[333] Freßvirtuos. Seine Mundwinkel trieften von Kaffee und Butterfett.

»Was stehst Du denn noch da? Geh' zu Deinem Kind und putz' Dich dann fein heraus, recht anmutig, graziös, duftig, wie es Geiling zu wünschen pflegt, der Weiberfeinschmecker.«

»Ich hab' Dich nur noch etwas fragen wollen, fällt mir aber nicht mehr ein. Es geht mir immer so, man kommt nicht zu Wort bei Deinem langen Geschwatz ... Ja so, wegen dem Attenkofer. Er soll Cheveauxlegers nackt photographiert haben ...«

»Halts Maul. Das ist schon abgemacht.«

»Und wegen der Frau Raßler, die jetzt auch ein Verhältnis mit ihrem Hauslehrer, einem gewissen Kandidaten Schlichting, haben soll. Gestern Abend soll sie bei ihm auf seinem Zimmer gewesen sein.«

»Das ist wichtig. Aber die Person wird erst nächste Woche gründlicher verarbeitet. Das gibt dann ein weiteres Kapitel. Sehr gut. In der letzten Nummer hat sie schon spüren können, wo der Wind herweht. Die Anspielung auf den jungen Engländer war brillant, aber vielleicht zu fein. Na, da können wir ja nachhelfen. Warten wir die Wirkung noch ein paar Tage ab. Nach[334] dem Engländer schlachten wir sie mit dem Hauslehrer ein – schließlich bleibt uns noch der Drillinger. Da wird nicht ausgelassen, bis sie Goldfüchse schwitzt. Bist zufrieden, Alte? Also richte mir einstweilen den Stoff her. Ich will mir gleich den Namen notieren. Das gibt einen Hurenskandal. Jetzt geh' zu Deinem Kind. Eins nach dem andern. Auf meinem Redaktionsbüreau muß Ordnung sein.«

Er sagte stets nur noch zu »Deinem« Kind, seit er sich über die Zweifel der Vaterschaft in einer prügelfrohen Nacht endgültig mit ihr verständigt hatte. Sein Intimus und Adlatus, der Herr Leutnant Kropfer, hatte ihn sehr geistreich getröstet: »Gewisse Kinder sind immer mehr oder weniger Mosaikarbeit; das bringt die Kunst so mit sich. Wenn das Mosaik gelungen ist, merkt kein Teufel mehr die einzelnen Stifte. Schließlich schätzt man das Kunstwerk und pfeift auf den Künstler. Amen Selah. Maraschino und Kompagnie.«

Der Preßbandit hatte alles aufgegessen und aufgetrunken, sich das Maul abgewischt, das Kaffeeservice auf die Komode gestellt und beeilte sich nun, noch schnell ein bischen Toilette zu machen, das heißt: seinen Schnauz- und Kinnbart[335] schwarz zu färben, seinen braunen Künstlersamtrock anzuziehen und seine Filzbabuschen gegen Lacklederschuhe zu tauschen. Das war seine kleine Eitelkeit. Seine größere war: sich jeden Morgen mit dem Helden von Lepanto, mit Cervantes, zu vergleichen. Wie er auf diesen grotesken Einfall kam? Das war ein sinniger Gedanke der Dichterin Thusnelda Wechsler. Nachdem sie sein Schweigen über ihre erotischen Gedichte, richtiger, über ihre zahlreichen Liebschaften, die sie darin besungen, mit Champagnerkörben und Zigarrenkisten glaubte nicht mehr ausreichend erkaufen zu können, packte sie ihn am Eitelkeitszipfel. »Nein, schöner, heldenhafter Mann, wie Sie einem der größten Heroen der Kriegs- und Litteraturgeschichte gleichen, ist in der That wunderbar! Sie sind Cervantes wie er im Buche steht.« »Wer ist Cervantes? Ich erinnere mich im Augenblick dieses Namens nicht,« entgegnete er mit genialer Ignoranz. »O Sie liebenswürdigster aller Schäker, wie fein Sie mich täuschen wollen. Sie möchten Ihren großen Kollegen verleugnen, weil Sie ihm körperlich und geistig auf ein Haar gleichen: auch er war einarmig wie Sie, ein heroischer Soldat wie Sie, er hatte eine ritterliche Statur wie Sie, er gab ein Blatt heraus wie[336] Sie – später wurde es gesammelt und als Buch veröffentlicht unter dem etwas spanischen Titel ›Donquixote‹, kurz: alles stimmt.« Und er: »Natürlich der Donquixote, ah, von dem hab' ich auch gehört, der erfand ja all' die dummen Streiche, die man heute noch Donquixoterieen nennt. Natürlich!« Darauf sie: »Und hier verehre ich Ihnen einen sehr kostbaren Stahlstich, sein Porträt.« Er: »Nach einer ähnlichen Photographie angefertigt, wie's scheint.« – »Selbstverständlich.« –

Seit jener Zeit hängt das Bild des Cervantes unter dem Spiegel im Redaktionsbüreau der »Kloake« – und der Preßbandit stilisiert seinen polizeiwidrigen Vagabundenkopf nach seinem, genialen Doppelgänger und »Kollegen«, dem Helden von Lepanto.

Als seine Alte fragte: »Wen stellt das Bild vor, wer ist das?« antwortete er ruhig-stolz: »Kollege Cervantes; er soll mir sehr ähnlich gesehen haben.«

Der Preßbandit erwog sogar den Gedanken, ob's nicht vorteilhafter und schöner wäre, vom nächsten Semester ab sein herrliches Wochenblatt, statt »Kloake« »Donquixote« oder »Der bayerische Donquixote« zu benennen. Allein die kluge[337] Thusnelda Wechsler riet ihm von der Umtaufe ab. Erstens sei das Blatt unter dem ursprünglichen Namen zu großem Renommee gekommen; zweitens klinge das Wort echt klassisch, denn die weltbeherrschenden Römer hätten schon eine Kloake mit dem Untertitel »Maxima« gehabt; drittens habe das Wort außer der lateinischen Klassizität – was in einer ältlichen akademischen Kunststadt wie München schon an und für sich sehr empfehlend sei – einen Stich ins Naturalistische, wodurch die Sympathieen der allerneuesten Richtung in Litteratur und Kunst unfehlbar gewonnen würden, der französische Romanschriftsteller Zola z.B. sei von liebreichen und witzigen Kritikern schon des öftern der Großmeister der Kloakendichter genannt und seine berühmtesten Bücher mit Kloaken verglichen worden; viertens habe das Wort wie das Blatt, dem es als Überschrift diene, wirklich so viel Lokalfarbe und Lokalgeruch, daß jeder kunstsinnige Münchener die Umtaufe schmerzlich empfinden müßte.

Dem Kloaken-Journalisten leuchteten diese Gründe ein. Da er aber doch von dem Titelblatt seines Witzblattes nicht mehr vollkommen befriedigt war, so wollte er demnächst ein Preisausschreiben zur Gewinnung einer geeigneteren[338] Titelvignette veranstalten; als Prämie gedachte er dem siegreichen Künstler die erschienenen Kloaken-Jahrgänge, stilvoll in Schweinsleder gebunden, sowie eine seidengestickte Fahne und das Prädikat eines Ehrenmitgliedes der Kloaken-Redaktion anzubieten. Jetzt stand noch in der rechten Ecke des Titels ein geharnischter bayerischer Hiesl in einer Positur und mit einem Gesicht, als hätte er Rizinusöl statt Hofbräuhausbier aus seinem Maßkrug getrunken, und links ein Münchener Kindl mit einer so sündhaft verblödeten Fratze, als wäre es vom »Jungferntribut des modernen Babylon« ausgemustert worden. Diese Bilder konnten seinem ebenso originellen wie verfeinerten ästhetischen Gefühl nicht mehr genügen. Um neben seiner lokalpatriotischen und bajuwarischen auch seiner kaiserlich-deutschen Gesinnung gebührend Ausdruck zu verleihen, wollte er schon die Züge des bayerischer Hiesl in die des deutschen Reichskanzlers umwandeln ... Vorläufig mußte das alles Zukunftsmusik bleiben, so lange die wohllöbliche Polizei dem Kloaken-Witzblatt das Leben überhaupt noch so sauer machte.

Lagen da nicht wieder drei Briefe mit unheilkündenden großen Amtssiegeln? Der Preßbandit stierte mit seinem einzigen Auge darauf –[339] nein, er mag sich jetzt seine rosige Stimmung nicht verderben lassen: er wird diese »Uriasbriefe« nicht lesen. Er setzte sich würdevoll in seinen Redaktionslehnstuhl und ließ noch einmal die freundlicheren Briefzeichen auf sich wirken. Dann öffnete er die Zuschrift der Dichterin Thusnelda Wechsler.

»Hochzuverehrender Herr Chefredakteur! Ihre gehorsame Dienerin hat wieder ein neues Buch verbrochen, diesmal einen Band Theaternovellen in Versen – Heyse'sche Schule! Darf ich Ihnen das Werk mit einer eigenhändigen Widmung als schwaches Zeichen meiner Verehrung und Dankbarkeit zusenden? Garniert mit einigen Büchsen russischen Sardinen und Kaviar? Ich versichere Sie, es ist kein ›Kaviar fürs Volk‹ – von der Tante Meier – sondern wirkliche feinste Primamarke. Ein durchreisender russischer Militär, Freund meines Freundes ...«

»Und so weiter,« machte der Preßbandit, den Rest des Schreibens überfliegend. »Das genügt den Kaviar für mich, das Buch für den Antiquar. So gibt's besser aus. Eine brave Frau. Hat sich halt wieder einen jungen Leutnant abgerichtet, der Russe geht drein. Schwamm drüber. Leben und leben lassen. Nein, ich werde doch etwas[340] über sie schreiben, ich werde sie über den Schellenkönig, den hochnäsigen Kollegen Heyse und Konsorten, loben. ›Unsere beliebte vaterländische Dichterin und echt deutsche Hausfrau Thusnelda Wechsler, welche so poetisch und taktfest zwischen Wiege und Schreibtisch Schritt zu halten weiß, ... welche in dem einen Jahr dem deutschen Vaterland einen strammen, das Geheimnis des Stechschrittes und des neuen Exerzierreglements schon im Mutterleibe empfangenden Krieger, in dem andern Jahr einen Band genialer Gedichte, keusch und lieblich wie Maienrosen, schenkt, ... dieses erhabene Muster von einem Dichter-Weib ... hat soeben ein neues Werk ...‹ und weiter, und so weiter. Der Kaviar ist das Beste dran, aber das geht den Schafskopf von Publikum nichts an. Meine Besprechung wird Sensation machen. Mein Adlatus Kropfer muß sie ordentlich durchkorrigieren, wegen der verdammten Druckfehler, die mir von meinen schurkischen Neidern, den sogenannten Schriftstellern, immer als Schreibfehler aufgemutzt werden. Ich will jetzt gerade den litteraturstudierten Schimpansen zeigen, daß in mir ein kritisches Talent ersten Ranges schlummert, das ein paar Dutzend Professorendichter im Nu in die Pfanne haut und wirkliches[341] Talent auf den Schild erhebt. Kloaken-Lob soll bald so furchtbar wirken wie Kloaken-Tadel. Auf den Kaviar freu' ich mich. Das ist halt ein Schatzerl, die Thusnelda ... Wo nur heute mein Leutnant bleibt! Er ist halt ein Liedrian, wenn er Geld hat. Ich muß ihm den Brotkorb höher hängen.«

In diesem Augenblick ging die Thür auf und herein trat eine hochgewachsene Gestalt mit nägelbeschlagenen Bergschuhen, Wadenstrümpfen, nackten Knieen, kurzen Lederhosen, Lendengurt, Lodenjoppe, Filzhütchen mit Spielhahnfeder, das kecke Gesicht von einem mächtigen roten Vollbart umrahmt.

»Grüß Gott, Chef!«

»Wenn man den Wolf nennt, kommt er g'rennt. Aber in dem Aufzug? Sie sind halt der ewige Fex!«

»Nix Fex. Auf den Wendelstein geht's. Einem Hamburger Alpisten muß ich den Führer machen. Es ist auch eine Alpistin dabei, ein schneidiges Weib, mit Waden wie ein Kanonenrohr. Ich wollte den Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten um zwei Tage Urlaub gehorsamst gebeten haben. Es sind seine Leute, Geld haben sie wie Dreck. So was darf man niemals ausschlagen. Nur zwei Tage Urlaub.«[342]

»Und zwei Tage zum Ausschnaufen, macht vier. Die Redaktionsarbeit, he, und die neuen Bilder? Ganze Berge von Briefen, Manuskript, Korrekturen ...«

»Auf diesen Bergen kraxelt einstweilen der verehrte Chef mit Genuß herum. Bilder bring' ich einen ganzen Rucksack voll mit.«

»Ich danke. Einen Tag höchstens kann ich Sie fortlassen. Es liegt viel Wichtiges vor. Hier, helfen Sie nur wenigstens noch schnell die Korrespondenz erledigen.«

»Eine halbe Stunde, meinetwegen. Her mit dem, Trödel! Ich opfere mich.«

Der Leutnant Kropfer warf sein Hütchen auf den Tisch, setzte sich rittlings auf einen Stuhl und griff nach den hingeschobenen Briefen und Karten.

»Paillard hat sich melden lassen.«

»Hm, hm,« machte der Leutnant aufblickend und den Chef fixierend, während er die Briefe und Karten wie Spielkarten mischte und mit Spielergewandtheit durch die Finger flattern ließ.

»Warum hm hm? Haben Sie etwas gegen den Mann?«

»Gegen den Mann nicht, aber gegen sein Metier, das heißt, eigentlich auch nicht gegen sein[343] Metier, aber gegen die unvorsichtige Art wie er's treibt. Man wittert Unrat.«

»Man ... wer wittert?« fragte der Preßbandit lauernd.

»Rücken Sie erst einmal mit einer seinen Havanna heraus und einem anständigen Glas Schnaps. Mein Magen lechzt nach einer guten Idee. Mein Morgensegen, wollte sagen mein Frühstück hat zu wünschen übrig gelassen. Ich muß die Pepi abschaffen.«

»Das ist Ihre Sache. Bleiben Sie bei der Stange, Kanonendonnerwetter. Dort im Wandschrank. Am End' soll ich Sie noch bedienen?«

»Könnt' Ihnen nichts schaden. Da lernten Sie wenigstens noch notdürftig gute Lebensart.«

Der Preßbandit knirschte mit den Zähnen, »Also wer wittert?«

Kropfer, nachdem er sich gemächlich ein Glas Wisky eingeschenkt und eine Havanna angezündet hatte, setzte sich wieder rittlings auf seinen Stuhl und begann mit aller Seelenruhe: »Sie machen Unsinn über Unsinn. Was gehen Sie die Privatliebhabereien des Königs an? Was sticheln Sie noch auf den Separatvorstellungen herum und auf den nackten Himmelsjungfrauen in dem Königsstück ›Urvasi‹, jetzt, wo der König weder ins[344] Theater, noch überhaupt nach München geht? Was haben Sie sich an dem Kriegsminister mit faden Witzen zu reiben und am bayerischen Generalstab und am Raupenhelm?« ...

Der Preßbandit bohrte sich mit den Fingern in die Nase und strich die grauen Flöckchen an seinem Gesäß ab. »Lassen Sie mich doch mit diesen Geschichten in Ruhe. Das muß ich als alter Haudegen so gut verstehen als irgend einer.«

»Und wie stimmt Ihr bajuwarischer Patriotismus, mit dem Sie immer so dick thun, zu diesen gefährlichen Taktlosigkeiten?«

»Patriotismus! O Sie Kindskopf. Das steckt man zum Fenster hinaus, wenn man's braucht, und stellt's hinter den Ofen, wenn's seine Schuldigkeit gethan. Wie Sie das Geschäft naiv auffassen: gerade durch diese sogenannten Taktlosigkeiten steigen meine Verhimmlungsgedichte im Preis, die ich bei feierlichen Gelegenheiten auf das Herrscherhaus loslasse. Auf meinen Nutzen komm' ich immer.«

»Und ich bleib' dabei: es ist undiplomatisch, das Staatsoberhaupt in die ›Kloake‹ zu ziehen. Wenn's in der Fechtschule stinkt, was geht das Ihr Riechorgan an?«[345]

Der Preßbandit wollte aufspringen.

»Bleiben Sie nur auf Ihrem Allerwertesten sitzen. Das Sündenregister ist gleich zu Ende. Ich beschränke mich mir auf die Hauptsachen, ich habe keine Zeit auf Nebendinge einzugehen. Was haben Sie sich mit dem anrüchigen Baron Schneidmeyer einzulassen, mit diesem Urstrizzi ...?«

Jetzt brach der Preßbandit in ein breites Lachen aus. »Also aus dem Loch pfeift's? Das ist der kurzen Rede langer Sinn? Der Schneidmeyer ist Ihnen unbequem, da streck' ich die Waffen. Persönliche Abneigung, Eifersucht ...«

»Sie haben nie einen vernünftigen Zusammhang begriffen. Da fehlt's halt an den Anfangsgründen. Ihnen muß man mit dem Zaunpfahl winken: Schneidmeyer gilt in den maßgebenden militärischen Kreisen als ein Subjekt, dem man alles zutrauen kann – und man traut ihm alles zu, verstanden? Fragen Sie einmal nach, was man in Ingolstadt für Augen macht, sobald er sich innerhalb des Festungsrayons blicken läßt. Die Spionage hat zudem niemals einen dümmeren Dilettanten gehabt, als diesen unfähigen Leutnant a.D. ...«

»Ich bemerke Ihnen, daß das Wort Spionage[346] in meinem Redaktionsbüreau nicht ausgesprochen wird.«

»Gut. Ich werde es künftig bloß buchstabieren. Nichtsdestoweniger wird man von Oben bald in Ihre Karten blicken, wenn Paillard und Schneidmeyer fortfahren, sich in der Weinrestauration am griechischen Marktplatz mit den bekannten Damen eine Champagner-Schwemme zu leisten – in dem best beobachteten Buen Retiro von ganz München. Fragen Sie doch einmal Ihre Gattin!«

»Also dort wittert man Unrat? Hahaha. Mein lieber Leutnant, steigen Sie auf Ihren Wendelstein und putzen Sie sich die Nase in der Gebirgsluft. Wenn das alles ist, was Sie an Verdachtsmomenten bezüglich Paillard und Schneidmeyer aufgelesen haben, dann können wir ruhig schlafen.«

»Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit. Ich an Ihrer Stelle ginge in dieser gefährlichen Richtung nicht weiter. Für Paillard und Schneidmeyer würde ich wenigstens meine Haut nicht zu Markte tragen.«

»Fällt auch mir gar nicht ein. Ich bediene diese Kerls mit Dummheiten – und empfange dafür gutes Geld, was ist weiter dahinter? Die[347] kleinen Scherze vermittelt übrigens meine Frau. Wer will mir etwas nachweisen? Alles Schriftliche, was dabei gewechselt wird, liest sich wieder Liebesbrief eines Backfisches.«

Wahllos hatte Kropfer einen der Briefe, die vor ihm lagen, geöffnet und überflogen. »Liest sich das etwa auch wie ein harmloser Liebesbrief?« fragte er leichthin, dem Preßbanditen das Schreiben überreichend.

»Vom Bankier Weiler – französisch? Ich kann ja gar nicht französisch. Der Esel! Übersetzen Sie mir's, bitte.«

»Der Inhalt lautet ungefähr so: ›Habe Sie gestern nicht mehr im Hotel getroffen, wichtige Idee mitzuteilen, Louis findet nach neuesten sicheren Nachrichten fast den ganzen Weltmarkt für Kabinettskassa-Anleihe verschlossen – Französisches Kapital letzte Zuflucht – Brillante Situation – – Welche französische Partei – – bayerische Gegenleistung im Kriegsfall – Schreiben Sie mir sofort Ihre Meinung über dieses Riesenprojekt. Ich muß auf einige Tage verreisen.‹«

»Das an mich? Meine Meinung? Ich verstehe nicht. Als Finanzgenie habe ich mich selbst noch nicht erkannt. Lautet der Brief wirklich so?[348] Das ist ja sehr rätselhaft und zugleich sehr schmeichelhaft für mich. Welche Perspektive – Verbindung mit der großen Finanzwelt, mit dem Weltmarkt, mit den Bankiers der Könige. Nun zittert, ihr Münchener Pimpelhuber, wenn ich mich noch mit den Geldmächten alliiere, sprenge ich euch in die Luft, daß ihr eure Knochen auf dem Mond zusammenlesen könnt ... Was sagen Sie jetzt, Sie Hasenfuß? Imponiere ich Ihnen wieder einmal, he?«

»Das haben Sie immer gethan ... Sie sind ein Koloß an Phantasie und Kühnheit! Aber alle Wetter: da sehen Sie her – hier das Briefkuvert: Herrn Paillard, per Adresse Redaktion der ›Kloake‹. Per Adresse! An ihn, nicht an Sie! Ich drücke mich. Ich wasche meine Hände und Füße in Unschuld. Sehen Sie zu, wie Sie dem Franzosen diese Verletzung des Briefgeheimnisses annehmbar machen. Übermorgen Abend erstatte ich Rapport. Adieu Chef! Und vergessen Sie nicht: in erster Linie wollen wir die werten Mitmenschen nicht amüsieren und nicht ärgern –wir wollen sie ausbeuten! Adieu! Herrgott von Strambach, schier hätt' ich Ihnen zum Abschied das für mich Wichtigste nicht auf die Seele gebunden: hüten Sie sich vor meinem journalistischen[349] und leiblichen Doppelgänger in Tiefschwarz, vor dem schönen Schlemming Peterl. Alle Achtung vor seiner Geschicklichkeit, aber einen erbärmlicheren Hallunken hat die Münchener Sonne noch nicht beschienen. Ich weiß, daß er mich bei Ihnen verdrängen will, daß er Ihnen schon Proben seiner Karikaturen und Reimereien vorgelegt hat um einen Spottpreis ... Sie würden ekelhafte Erfahrungen machen mit diesem Schweinekerl. Als verabschiedetem Leutnant wurde ihm wegen schmutzigster Pumpgeschichten und Zechprellereien das Recht aberkannt, die Uniform zu tragen ...«

»Beruhigen Sie sich, mein lieber Kropfer, Ihr schwarzer Doppelgänger ist mir selbst für die unterste Sparte der ›Kloake‹ zu schlecht.«

»Gott segne Sie für diese Einsicht. Adieu, Chef!«

Unter der Thür begegnete er der Frau des Preßbanditen. Sie war sehr raffiniert geschminkt. Das Korsett arbeitete die schlaffen Brüste monumental heraus und hob sie bis zum Kinn empor. Der Leib hatte durch die geschickte Schnürung fast elegante Formen gewonnen. Das Haar war am Scheitel in krauser Struppigkeit von einem Schildpatkamm gehalten, über die Stirn fielen wilde Ringellöckchen bis zu den hohen, mit einem[350] kräftigen Tuschstrich markierten Augenbrauen herab. »Sie ist wollüstig schön in ihrer roten Trikottaille,« sagte sich der Leutnant, begnügte sich aber, sein Wohlgefallen nur in einem heißen Blicke auszudrücken. »Wollüstigschön,« wiederholte er auf der untern Treppenwendung, indem er zu ihr emporschaute und ihr einen Handkuß zuwarf ... »Viel Vergnügen, Herr Leutnant!« Ihre! Satansaugen funkelten und schleuderten ihm Blitze nach. »Gefall' ich Dir so?« rief sie ihrem Gatten zu, sich mit erhobenen Armen zwischen die Thürpfosten spreitzend und den Leib kokett schwingend, so daß die Linie von der Achselhöhle bis zur schlank erscheinenden Lende und von da über die Schenkel hinweg verführerisch spielte.

Er sah sie an, nickte und atmete schwer. Sie ging in ihr Zimmer zurück, das als Empfangssalon für besondere Gelegenheiten diente und am entgegengesetzten Ende des Ganges auf der Hofseite lag.

Der Preßbandit hatte sich wieder in die Briefschaften vertieft. Er bemühte sich vergeblich, das französische Schreiben des Bankiers noch einmal für sich zu entziffern und legte es dann kopfschüttelnd beiseit. »Für das Mitwissen wenigstens[351] muß der Kravattenfabrikant Weiler Haare lassen, so viel steht fest; bin ich Teilhaber des Geheimnisses, will ich auch Teilhaber des Profites sein, den's abwirft. Mein Leutnant ist in manchen Stücken faktisch gescheidter, als ich, sein General. Ausbeuten heißt die Parole. Was bringt's ein? ist der Hauptgesichtspunkt in allem. Ich bin noch viel zu sehr Idealist. Und auch darin hat der Kropfer recht: man muß sich nach der Gefährlichkeit einer Sache bezahlen lassen. Den Franzosen Paillard muß ich nach ganz anders schröpfen. Daß ich ein Narr wäre, das Nilpferd für ein so Billiges an der Nase herumzuführen. Süddeutschland wimmelt von französischen Spionen, einer dümmer als der andere, aber die in München sind schon die dümmsten und filzigsten. Und wenn alle Informationen, die ihm mein Weib vermittelt, auch keinen faulen Radischwanz wert sind, so muß von nun an doch das Doppelte herausgeschlagen werden. Geld, Geld, Geld regiert die Welt, Kanonendonnerwetter. Das ist das einzige Positive. Ich werde dem Paillard den Standpunkt klar machen. Thu Gold in Deinen Beutel, viel Gold – wie Lessing sagt.«

Und er saß lange in Gedanken und heißen Wünschen und verzehrender Gier nach Geld und[352] Geldeswert, den Ellbogen auf die Briefe, den häßlichen, dicken Kopf auf die Hand gestützt.

Weiter! Das nenne ich eine elegante Zuschrift, fein und duftig wie ein Liebesbriefchen; so drückt sich die Verehrung, welche der Absender für den Empfänger empfindet, schon im Äußern aus. Hören wir: ›Sehr geehrter Herr Redakteur Sie sind ein Meister des subtilen Totschlags; schleichendes Gift, indianerhaft präparierte Pfeilspitzen, Dolche, Nadeln – alle Mordwaffen handhaben Sie mit bewundernswerter Treffsicherheit. Sie sind ein Unikum in der deutschen Presse. Wo Sie hinhauen, welkt die Blüte, verdorrt das Gras. Im Namen eines hohen Sportsmanns heische ich Ihre Dienste. Eine kleine, niedliche Künstlerin soll in seinem Auftrage wie ein Reh in das Revier Ihres Blattes getrieben und dort mit waidmännischer Kunst zu Tot gehetzt werden. Wollen Sie uns das Vergnügen machen? Über das Honorar und das Übrige werden wir uns nach empfangener Zusage sofort verständigen. Antwort unter A.H. hauptpostlagernd München.‹ Kanonendonnerwetter, diesmal gilt's in der That ein Meisterstück um Meisterlohn. Der hohe Sportsman hat sich an den Rechten gewandt. Wir werden mit einander zufrieden sein. (Während[353] des Antwortschreibens pfeift er den Refrain »Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein«). Diesmal hoffe ich mich selbst zu übertreffen. Kanonendonnerwetter, da ist ja noch ein Postskriptum auf der andern Seite. ›Selbstverständlich verpflichtet sich mein ritterlicher Auftraggeber, seiner Generosität keine Schranken zu setzen, falls Ihnen in Ausübung Ihres Berufes in seinen Diensten irgend ein Unfall zustoßen sollte oder wenn Sie von irgend einem pedantischen Staatsanwalt wegen Jagdfrevels oder Thierquälerei gefaßt würden und ein bischen bluten oder brummen müßten. Sie werden für sämtliche unangenehme Folgen, welche Ihnen das kunstgerechte Tothetzen unseres lieben, niedlichen Rehs etwa zuziehen könnte, vollauf entschädigt werden ...‹ Da sage noch einer, daß es keine Noblesse mehr in der Welt gibt! Dieser Brief ist ein Dokument zum Küssen ...

»Ah, Herr Chefredakteur, guten Morgen! Ist's erlaubt, einzutreten?«

Der Preßbandit fuhr auf. »Sehr angenehm, Herr Paillard! Es ist mir eine große Ehre, Sie wiederzusehen. Wir sind ganz allein, aber ich bin gerade sehr beschäftigt. In der Hitze des[354] Gefechtes habe ich sogar einen für Sie bestimmten Brief erbrochen.«

»Wie das? Das ist ja sehr merkwürdig.«

»Sehen Sie, unsere beiden Adressen standen hier nebeneinander. Der Irrtum ist erklärlich. Sie werden mir glauben, daß keine Absicht im Spiele war.«

»Geben Sie her.«

Nachdem er den Brief flüchtig gelesen, ohne die geringste Bewegung zu verraten, steckte er ihn zu sich mit den Worten: »Eine Kaprice von Monsieur Weiler, ganz ohne Bedeutung.« In Gedanken setzte er bei: »Verdammter Gauner von einem Winkeljournalisten.«

»Verdammter Gauner,« dachte auch der Preßbandit in seinem Sinn.

»Ich habe große Eile. Ihre Frau hat gewiß neue politische Liebenswürdigkeiten für mich? Die bayerische Politik ist ja spannend wie ein Roman. Täglich neue Verwicklungen. Die widersprechendsten Gerüchte durchschwirren die Luft. Man munkelt sogar von einer Regentschaft. Der König soll entmündigt werden. Unerhört. Hoffentlich bestätigt sich das nicht. Das wäre zu fatal für unsere Pläne. Nein, nein. Was ich fragen wollte: was ist's denn mit diesem Baron Drillinger?[355] Ist er gewiegter Militär? Hat er gute Verbindungen? Genießt er Vertrauen? Leicht zugänglich scheint er nicht zu sein. Ich habe ihn gestern beobachtet. Weiler war so gütig, mir seine Bekanntschaft zu vermitteln. Spricht man von seinen Geldverlegenheiten?«

»Mehr von seinen Liebschaften.«

»Das weiß ich. Eine sentimentale, aber verschlagene Natur. Keine üble Disposition für unsere Zwecke.«

»So lang er noch an dem Raßler'schen Weib hängt, ist er schwer für anderes zu haben. Da muß er losgesprengt und mürbe gemacht werden. Ich werde Ihnen den Mann präparieren. Aber umsonst ist der Tod – verstanden, Herr Paillard? Für meine neuen Dienste müssen Sie schon etwas tiefer in den Sack greifen, als seither.«

»Ich sehe Ihren Vorschlägen entgegen.«

»Die sollen Sie ehestens haben, gleichzeitig mit dem Bericht über Drillinger. Das Bewußte liegt bereit. Wollen Sie sich zu meiner Frau bemühen? Sie werden von ihr erwartet.«

»Ich eile zu ihr. Auf später also.«

Der Preßbandit machte sich wieder an seine Korrespondenzen.

»Ein Schmähbrief. ›Dreckseele‹ und ›Nachttopf‹[356] tituliert mich ein Gekränkter. Ist mir schnuppe, wie der Berliner sagt. Geschäft ist Geschäft. Wenn ich aber den Namen des empfindlichen Schmähbriefschreibers erfahren könnte, würde ich ihm die ›Dreckseele‹ und den ›Nachttopf‹ doch eintränken. Weiter: ein Bittsteller aus Nürnberg; um Honorar für gelieferten Beitrag zu erbetteln, schmiert der Kerl drei Seiten voll. Lächerlicher Mensch. In den Papierkorb damit. – Weiter: noch ein Nürnberger, Göring heißt der Edle; erbietet sich, den ›Ungespundeten‹ Erwin Hammer und seine Kumpanei zu vivisezieren, legt eine Probe seiner Schneidekunst aus dem ›Fränkischen Kurier‹ bei. Das besorgen wir vielleicht besser selbst, sobald sich's rentiert. Einstweilen in die Materialienmappe damit. Als gelegentlichen Handlanger wollen wir den Braven für die ›Kloake‹ notieren. – Weiter: ›Sehr geschätzter Herr, einige Freunde wünschen sich den Baron Drillinger zu kaufen, um ihn in seiner ganzen Schönheit in Ihrem Blatte auszustellen. Was kostet der Mann? Zeichnung und Text wird geliefert. Gefällige Antwort erbeten unter Chiffre X Y Z, Café Paul. Diskretion Ehrensache.‹ Das trifft sich gut. Den Mann sollt ihr haben, aber billig wird er nicht abgegeben.[357] Er gehört dem Meistbietenden. Was ist nur das wieder für ein hungriger Tintenkleckser, der auf diesen abgerissenen schmutzigen Wisch schreibt? Jessas, unser berühmter Meistersinger: ›Dumm darf man schon sein, wenn man nur schon ist.‹ Langt's wirklich keinen anständigen Briefbogen mehr, armer Millionär? Und gelobt möchtest mal wieder sein – um einen Gotteslohn? Nein, mein süßer Dummian, jetzt werden andere Saiten aufgezogen. Da wirst du kurios spitzen, du eitler Falschsinger mit drei Brillanten an jedem Finger. Andere Leute möchten auch einen Brillanten – verstehst Du? – Weiter: die Brauerei zum ›fidelen Klosterbruder‹ meldet ergebenst, daß ihr Bier vorzüglich sei – und schickt zugleich eine Anweisung auf dreihundert Mark für eine entsprechende Notiz. Dem Klosterbruder soll geholfen werden. Durch sechs Nummern meines Organs ist konstatiert, daß der Klosterbruder ein Saugesöff fabriziert, mit dem Dreihundert-Markschein hat er das gute alte Rezept wiedergefunden: die nächste Nummer soll konstatieren, daß er einen unfehlbaren Göttertrank braut. Ich brauch' ihn ja nicht zu trinken und für die Bauchschmerzen der anderen bin ich nicht verantwortlicher Redakteur. Da fällt nur ein, daß mich[358] die Gambrinusbrauerei nicht zur Bockprobe geladen, auch schon lange kein Inserat mehr hergegeben hat. Diese Vernachlässigung soll ihr teuer zu stehen kommen. München wird immer mehr Industrie- und Handelsstadt, und die großen Firmen beeilen sich nicht, der Presse ihren Tribut in klingender Münze zu zahlen? Ich muß einmal strenge Musterung halten. Eine Reihe von Banken und Aktiengesellschaften sind gegründet worden, ganze Straßen haben sich mit neuen großartigen Geschäften bedeckt, ohne daß für mein Blatt eine Reklame oder ein Inserat abgefallen wäre. Ich muß diesen Lausern und Filzern Mores lehren, daß sie heulen und zähneklappern. Von allem, was da fleucht und kreucht, fordere ich meinen Teil. Merkt's. Na, wenn ich drei oder vier von diesen Geldsäcken gehörig zusammenkarwatscht habe, dann lassen die andern schon die Schwänze hängen und kommen herangewinselt. – Weiter: die neue Beamtenkreditbank weigert sich, ihre Rechenschaftsberichte in der ›Kloake‹ zu veröffentlichen und ergeht sich in patzigen Redensarten. Warte, Kanaille, meine Feder wird bei nächster Gelegenheit ein furchtbares Blutbad unter deinem Aufsichtsrat anrichten. Notiert. – Weiter: der Konzertsänger[359] Felix Vollnhals, Mitglied der k. Hofkapelle, verbittet sich jede fernere Kritik seiner Liedervorträge; meine Kritiken seien nur Erpressungsversuche; schon die bloße Nennung seines Namens in einem Schund- und Schandblatte wie die ›Kloake‹ komme einer Beleidigung gleich. Infamer Brüllaffe! Ich werde eine Stimmbandoperation mit dir vornehmen, daß dir die Freude am Singen und noch einiges andere vergehen soll. Was bildet sich denn der unverschämte Kehlenkunstreiter ein? Wer macht denn das Renommee dieser Leute, wer treibt ihnen denn die zahlende und beifallblökende Herde mit den großen Ohren in ihre Konzertställe? Wir Journalisten! Und diese Eintagsberühmtheiten, die wir gemacht haben, wollen sich gegen uns aufprotzen? Sich gegen mich aufprotzen? Kanonendonnerwetter, ich will an diesem Pack einmal ein Exempel statuieren ... Wenn dieser Vollnhals auch nur ein einziges Mal sich als nobler Mensch gezeigt hätte ... Nicht einmal ein lumpiges Zehnmarkstück hab' ich von ihm gesehen. Komm' Bürschchen, laß dich ausbürsten ... Laß dir deine Tonleitern und Triller gründlich um die Ohren hauen ... Zur Exekution vorgemerkt. – Weiter: Was? Der Bildhauer Achthuber,[360] dieser Gipskopf, wagt es, mir den Ignoranten und Schandkerl an den Kopf zu werfen und mir mit diversen Rippenbrüchen zu drohen, wenn ich noch einmal seine Privatverhältnisse berühre? O du verdammter Dreckkneter, eine solche Sprache erlaubst du dir mit mir?! ...«

Der Preßbandit hatte sich in eine blutige Berserkerwut hineinmonologisiert; seine plumpen stumpfen Finger umkrallten den dicken Korkfederhalter, als hätten sie schon die Bösewichte an der Gurgel, die es gewagt, den Kloaken-Chef so bitter an seiner journalistischen Ehre zu kränken. Der Einarm-Einaug sah doppelt scheußlich aus in dieser Erregung; sein Gesicht war graugrün, sein Auge quoll starr aus den rotgeränderten Lidern, sein Mund hing schief, halbgeöffnet, mit dickflüssigem Geifer. O, er hätte Gift speien mögen, Gift ins Angesicht der ganzen Welt ...

»Weiter!« schreit er und greift nach einem andern Brief.

Da klopft's.

»Herrrein!«

»Kann ich das Vergnügen haben, den Herausgeber der ›Kloake‹ unter vier Augen zu sprechen?«

»Bescheidener sein, junger Herr, mit drei Augen vorlieb genommen! Mit wem habe ich[361] die Ehre?« entgegnet der Preßbandit kurz und grob, ohne sich von seinem Platz zu erheben, in zornigen Gedanken noch ganz bei seinen Briefschreibern.

»Mein Name ist Maximilian Schlichting.«

»Schlichting? Sie sind der Hauslehrer der Frau Raßler?«

Verblüfft von der barschen Plötzlichkeit dieser Frage, antwortet er zurückhaltend: »Das wohl auch, doch nur nebenbei. Eigentlich bin ich ...«

»Der jüngste Liebhaber der Frau Kommerzienrat!« fällt ihm der Preßbandit hitzig in die Rede, mit irrem Blick, als spräche er zu einem Phantom. Schlichting war einen Augenblick wie betäubt. Er starrte den geifernden Einarm-Einaug an, als hätte er das grauenhafte Antlitz einer der schlangenbehaarten Gorgonen vor sich. Die Stube schwamm vor ihm wie im Nebel und daraus grinste ihn an das Haupt der Medusa, deren Anblick alles in Stein verwandelt ...

»Der jüngste Liebhaber, hier steht's in meinen Akten!« höhnte der Preßbandit aufs neue.

In dieser Wiederholung empfand Schlichting jedes Wort wie einen Peitschenhieb. Das Blut saust ihm durch den Kopf, in seinen Ohren ist ein Zischen, Pfeifen und Tosen. Er will den[362] Arm erheben, auf den Banditen eindringen, allein er ist wie gelähmt.

»Mein Herr, ich verbitte mir eine solche Unverschämtheit.«

»Zu verbitten haben Sie sich auf meinem Redaktionsbureau gar nichts, hier bin ich Herr.« Der Preßbandit richtet sich in seinem Lehnstuhl drohend auf. »Was wollen Sie?«

»Wie können Sie sich zu einer solchen unerhörten Insinuation erfrechen? Was habe ich gethan, das Sie zu einer solchen Beleidigung berechtigte?«

»Der Beleidigte bin ich, hören Sie? Hinaus! – hinaus, sag' ich!«

»Ich fordere Genugthuung!«

»Hinaus!«

»Sie sind ein Bandit!«

»Hinaus!«

– – – – –

»Hahaha. Wie der Jüngling geflogen ist ... Das hat mir wohlgethan ... Ich fühle mich erleichtert!«

Bei dem ersten Schrei, der zwar durch die Entfernung gedämpft, aber doch vernehmlich in das Zimmer der Kloakenfrau drang, hob Monsieur Paillard seinen Kopf von dem Busen des Weibes, das mit einem Bein auf dem Sopha[363] ausgestreckt lag, während das andere in verführerischem Spiel mit dem Fuße auf dem Schnabelschuh des neben ihr sitzenden Roués wiegte.

»Was ist das nur?« fragte Paillard aufhorchend.

»O, das ist nichts,« erwiderte sie, ein nervöses Gähnen verschluckend, wobei sie ruhig fortfuhr, ihn mit ihren langen Fingern im Nacken zu krauen und zu kitzeln.

»Das ist nichts? Er schreit ja wie ein Besessener.«

»Einer seiner Anfälle, wenn er durch irgend etwas aufgeregt wird. Da kann er ganz sinnlos thun.«

»Aber das ist entsetzlich vulgär, meine schöne, holde Frau,« lispelte der verliebte Agent und legte eine Hand in ihren Schoß.

»So gefällt er mir noch am besten. O, da kann er mit seinem Arm herumschlagen wie ein Epileptischer. Diese Wildheit mag ich. Er ist in diesem Zustand sehr stark, riesig stark; gewöhnlich ist er ja schlaff und feig ...«

Ein Wollustschauer schüttelte ihren Leib.

Im Schlafzimmer mit seiner schwülen, dicken Luft wimmerte das Kind und wand sich, von[364] Krämpfen verzerrt, in seinem engen Bettchen. Mit blödem Auge betrachtete das Dienstmädchen die leidende Kreatur, rüttelte an dem Korbe und näselte dazu mit schläfriger Stimme das alte Wiegenliedchen:


Schlaf, Kindl, schlaf,

Dein Vater ist ein Graf,

Die Mutter sitzt daheim und weint,

Weil das kleine Kindl greint.


Dann die volkshumoristische Variante:


Schlaf Kindl, schlaf,

Dein Vater ist ein Schaf,

Die Mutter eine feine Dirn

Setzt ihm Hörner auf die Stirn.

Schlaf, Kindl, schlaf.


Der Preßbandit hatte sich eine Zigarre angesteckt. Er blinzelte zu dem Cervantes-Bilde hinüber, als wollte er sagen: »Die Helden grüßen sich.« Dann rückte er sich in seinem Sessel zurecht und nahm die letzten Briefe vor.

»Wirklich? Auch dieser Stolze ist besiegt, der gefürchtete parlamentarische Leithammel. Er bietet seinen Buckel willig meiner Redaktionsscheere, damit ich ihm das goldene Vließ ein wenig beschneide. Triumph! Der Gefürchtete hat an mir seinen Mann gefunden. Und ich habe meinen[365] Witz nicht einmal angestrengt ... Ein bischen an der Toga gezupft und die Nase gerümpft: Großer Bürger, da scheint mir etwas zu stinken, ich werde Dir gelegentlich einmal das Prunkgewand und die Hose öffentlich ausziehen und den Leuten geigen, was darunter ist! Das war alles. Kaum gedacht, war dem Stolz ein End gemacht. Es muß vieles faul sein im Staate Dänemark. Ja, Lümmel, jetzt thust Du sanft wie ein Lämmchen ... Ich werde Dich so gnädig behandeln, daß Du mir noch öffentlich die Hand drückst. Fette Inserate versprichst Du? Bravo! ... Nun hätte ich gute Lust, die Schmierereien mit den abgeschmackten Amtssiegeln uneröffnet in den Papierkorb zu schleudern. Ich versteh' gar nicht, was sich diese Leute immer gegen unsereinen herausnehmen! Die sollen mich doch gefälligst in Ruhe lassen; wenigstens so lange ich sie in Ruhe lasse. Das Übrige ist meine Sache. Daß ich das Richtige treffe, beweisen meine Erfolge. Da seht doch hin, wie dieses großmaulige Parlamentarische Tier sich vor mir duckt und um gut Wetter bittet. Seht doch hin! Ich wette, wenn ich ihm morgen in sein Champagnerglas spucke, muckst er nicht, so sehr hab' ich ihn jetzt in meiner Hand ... Die Presse[366] ist eine Großmacht, meine gewappelten Herren! ... Wir werden Euch noch zeigen, wie viel die Uhr geschlagen ...«

Er schob die Briefe beiseite und trommelte mit seinen plumpen Fingern darauf.

Da klopfte es wieder, rhythmisch, in fein empfundener und abgewogener Tonstärke.

Bevor er den Mund zu dem entsprechenden Herein öffnen konnte, erschien ein frisch vom Brenneisen des Haarkünstlers kommender Kopf mit sanftem Grinsen in der Thürspalte. Es war die zärtlich-heroisch-dämonische Charaktermaske des Schauspielers Geiling.

»Darf ich, Allgütiger?« flötete sein sonorer Baryton in der weichsten Höhenlage. »Erschrecken Sie nicht, den Quälgeist wieder zu sehen?«

Der Preßbandit winkte mit der Hand, der Eintretende schwenkte grüßend seinen glänzenden, funkelneuen Zylinder.

»Ernst ist der Anblick der Notwendigkeit – wahrhaftig, Ihr Dichterkollege Schiller hat nicht Unrecht. Ich kann Ihnen diesen Anblick nicht länger ersparen, Sie böser Mann. Ja, ja, ja, keine Widerrede, das sind Sie. Warum vernachlässigen Sie mich so? Zwei von den acht eingesandten Berichten über meine Gastspieltriumphe[367] – ich sage Triumphe und übertreibe nicht, sie waren einfach phänomenal – haben Sie gar nicht abgedruckt und an den anderen haben Sie Striche gemacht. Keine Ausrede. Habe ich Ihnen jemals Striche zugemutet? Habe ich nicht Ihre Forderungen, Pardon, Ihre Vorschläge in extenso und darüber erfüllt? Habe ich jemals mit meinem Golde gekargt? Habe ich Ihnen nicht immer mit vollen Händen gegeben und lustig dazu gepfiffen: ›Ja, das Gold ist nur Chimäre‹, und ich hab's fürwahr redlich und sauer verdient. Nun, reden Sie doch!«

»Sie lassen mich ja gar nicht zu Wort kommen. Was auch gar nicht nötig ist: Sie, der geniale Menschenkenner, lesen mir's vom Gesicht, was ich sagen möchte ...«

»Ja, das thue ich – und was ich lese ist dies: ›Ich, der allgewaltige Chefredakteur, vor dessen Feder ganz München zittert, bin ein undankbarer Erzschuft ...‹«

»Oho! Da möcht' ich doch bitten ...«

»›Bin nicht wert, daß mich Sonne, noch Mond, noch der Glanz des Goldes bescheint, wenn ich diesem armen Komödianten Geiling nicht volle und rasche Genugthuung gewähre.‹ Hab' ich richtig gelesen oder nicht?«[368]

»Stimmt Wort für Wort.«

»Na also.« Der Komödiant reichte dem Preßbanditen die Hand mit inhaltsschwerem Drucke. »Die werte Frau Gemahlin zu begrüßen, habe ich wohl nicht das Vergnügen?«

»Sie überraschen uns ein wenig früh, großer Gönner; ich glaube, es ist noch Besuch da. Bitte, gütigst Platz zu nehmen, ich will nachsehen ...«

»Um alles in der Welt nicht, daß ich stören möchte. Ich komme wieder. Tauschen wir rasch ein paar Worte über unser Geschäft, dann schlüpfe ich unbemerkt davon wie ich gekommen.«

»Wie Sie befehlen.«

»Was ich zunächst wünsche –« seine Stimme zum kunstvoll accentuierten Säuseln dämpfend: »Sie wissen doch, daß in den höchsten und allerhöchsten Sphären schicksalsschwere Dinge sich vorbereiten, die erhabene Person unseres Königs betreffend?« – Wieder lauter, geschäftsmäßig glatt: »Was ich wünsche, ist daß in dieser Zeit des Übergangs, der Krisis, die ja auch gewissermaßen eine Kunstkrisis ist, sehr sogar, Ihr Organ keine Woche vergehen lasse, ohne meiner zu gedenken und zwar in starker, origineller, sensationeller Weise. Wir haben es leider mit einem ziemlich[369] stumpfen Publikum zu thun, das will kräftig zur Aufmerksamkeit aufgerüttelt werden. Wir müssen das verzettelte Interesse sammeln, konzentrieren. Mit dem abgebrauchten Vokabular erreicht die Kunstkritik das nicht. Wir müssen uns neue Worte prägen. Zum Beispiel: nennen Sie mich das schauspielerische Zentralgenie der kosmischen Kunstindividualität oder ...«

»Bitte, langsam, das muß ich mir gleich aufschreiben. Sie sagten?«

»Schauspielerische Zen-tral-genie der kosmischen Kunst –«

»Etwas langsamer ... ›der kosmetischen Kunst‹ ...«

»Kosmischen, kosmischen! Aber was quälen wir uns? Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen von Woche zu Woche ein kleines Stilmuster schicke, ja? Das wäre das Einfachste.«

»Sehr einverstanden.«

»Aber nichts streichen!«

»Genau wie Sie's wünschen. Ich bürge Ihnen für korrekten Abdruck.«

»Keine sinnstörenden Druckfehler! Darin bin ich sehr empfindlich. Neulich schrieb Ihr Blatt, das heißt, setzte der Dummkopf von einem ungebildeten Setzer: Judentanz statt Intendanz, in[370] lateinischen Zitat Fama crescit eundo – Fauna statt Fama und in einem andern famos statt fames. Oder sollten das auch Witze sein?«

»Mein Gott, zuweilen passieren einem auch solche Witze,« lächelte der Preßbandit verlegen.

»Errare ... wie sagt doch gleich der Spanier?«

»... rurarem est.«

»Ganz genau. Auf das Spanische verstehen Sie sich wie ein zweiter Cervantes. Also bleibt bei dem Verabredeten. Und was noch zur vollen Wirkung meines Namens unbedingt erforderlich, ja nicht übersehen: ›Nacht muß es sein, Friedlands Sterne strahlen;‹ ich fordere nicht, daß Sie meine Kollegen mit dichter Nacht umhüllen, denn da würde man die Pygmäen nicht mehr auffinden, o nein, ich gönne ihnen ein anständiges Halbdunkel, wie es ihren Pfenniglichttalentchen angemessen. Aber was darüber, das mag ich nicht. Die Reklame für mich wird auch Ihrem Blatte nützen, man wird sich an den Zeitungskiosken um die Nummern raufen, in welchen in dieser neuen Weise über mich geschrieben ist, man wird in den Bräuhäusern und Kellern Agio dafür bezahlen, Sie werden Nachdrucke[371] veranstalten müssen, kurz, ich mache Sie zum reichen Mann, zum Millionär! Adieu, Mammonsdiener! Meinen Handkuß Ihrer Frau Gemahlin; sie ist eine Fee, eine Sirene. Ich werde mir ehestens das Glück gestatten, ihr meine Huldigung in einem kleinen Separatbesuch zu Füßen zu legen. Adieu, adieu!« Er winkte die Hinausbegleitung ab und zog die Thür hinter sich zu.

Der Preßbandit schmunzelte, indem er mit der Hand in seine Tasche fuhr und die empfangene Geldrolle nachwog. »Das ist noch ein Künstler! Zwar einen lächerlichen Größenwahnsinn hat der Tropf und eine unverschämt satirische Schnauze, aber diese Formen, diese Lebenskunst! ... Nun muß ich doch einmal nach meiner Alten schauen ... Heute kann sie sich gewiß nicht über Störung beklagen ... So unbelauscht konnte sie den Franzosen schon lange nicht mehr einseifen und über alle möglichen Löffel barbieren. Hoffentlich hat sie ihre politische Rolle gut gespielt ... Ein gesegneter Tag.«

Als er in den Flur treten wollte, öffnete das Mädchen einem neuen Besucher die Thür. Er vermochte ihn in der Dämmerung des Ganges nicht zu erkennen. »Nun wird mir's aber fast zu viel,« brummte er für sich und fragte dann[372] ärgerlich laut: »Wer sind Sie, und was wollen Sie?«

»Ich bin Engländer und will mit dem Redakteur von der ›Kloake‹ sprechen.«

»Hereinspaziert; aber kurz, muß ich bitten.«

Es war ein schlanker, junger Mann, in knapp anliegendem, karriertem Sackanzug nach neuester Insulanermode. Mit langen Schritten storchte er hinter dem Preßbanditen ins Zimmer. Aus seinen seegrünblauen Augen blitzte Wurzelkraft und Entschlossenheit.

»Was wollen Sie?« fragte der Preßbandit, an seinen Sessel gelehnt, den Fremdling kaum eines Blickes würdigend.

»Sie haben eine Frau beschimpft, Frau Raßler.«

»Ah, was Sie nicht sagen! Was geht das Sie an?«

»Sie haben einen jungen Engländer beschimpft, mich, Harry Wood.«

»Beschimpft? Seien Sie vorsichtiger in der Wahl Ihrer Ausdrücke, junger John Bull und machen Sie, daß Sie fortkommen.«

»Gleich. Zuvor aber nehmen Sie das – und das – und das –«

Und mit drei wohlgeführten blitzartig sich[373] folgenden Boxer-Fauststößen auf Aug' und Nase, Mund und Magen honorierte er den überraschten Preßbanditen so kunstgerecht, daß dieser ohne einen Laut in seinem Redaktionssessel zusammenbrach. Die Nase war zu einem blutigen Brei zerquetscht und zerrieben, das Auge hing wie eine dicke blauschwarze Kugel an dem Knochenbogen, die Oberlippe war zersetzt und zerschlitzt. Über den schwarzgefärbten Schnurr- und Kinnbart strömte das Blut und bildete eine dunkelrote warme Lache in dem muldenförmig auf dem Unterleibe aufgestülpten Samtrock.

Der junge Engländer war hinausgestorcht, so still und gleichmütig, wie er gekommen.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Das Gespräch der guten alten Freunde in Trostbergs Bibliothekzimmer hatte nach einer langen und breiten Durchsprechung der neuesten Sensationsbroschüre »Die bayerische Ministerrepublik« von dem Demokraten Heinzelmann, auf welche eine geharnischte Gegenschrift zu verfassen, der Regierungsrat den Doktor vergeblich anzuspornen suchte, wieder eine intimere und lustig sprunghafte Wendung genommen.

»Erlaube mir,« sagte der Doktor, »Deine jetzige kluge Leisetreterei mutet mich doch eigentlich[374] spaßhaft an. Nicht daß Du den Schlapphut mit dem Cylinder, die Joppe mit dem Gehrock vertauscht hast, will ich Dir ungebührlich anrechnen. Das sind Geschmacksachen. Aber geistig und moralisch hast Du doch von dem schneidigen Draufgänger von damals fast gar nichts mehr.«

»Ach, geh, wenn man einen zehnjährigen Kadetten sich angeheiratet hat, der nach preußischer Methode gedrillt wird ... und wenn man selbst noch aus Leibeskräften für Nachwuchs sorgt ... da gilt's pro aris et focis. Da ist's mit Sturm und Drang vorbei, Freund. Ich habe mir die Hörner abgelaufen. Carpe diem, was darüber ist, das ist vom Übel.«

»Und Du bist glücklich in Deiner zweiten Ehe, was man so glücklich nennt –«

Der Regierungsrat nickte: »Gewiß, und was das Beste ist, meine geschiedene erste Frau freut sich ohne Groll unseres neuen Glücks und ist uns eine gute Kameradin geblieben. Die Frömmler und Mucker meinten zuerst freilich, es wäre sittlicher gewesen, wenn wir uns feindlich den Rücken gekehrt oder aus Haß aufgefressen hätten.«

»Das fromme Lumpenpack kennt sich eben, daher seine Kannibalenmoral.«[375]

»Wer mich so sieht, als korrekte Büreaugröße, der ahnt nicht ...«

»Daß auch Du ein Schicksalsmensch bist, ein Katastrophenheiliger!«

»Ja, mein Lieber, was kann man da sagen! Erst muß man alles innerlich überwunden haben; eine frische Rinde muß über die verborgenen Verletzungen gewachsen sein, damit der alte Saftgang nicht mehr stockt, wenn er an der Unglücksstelle vorüberrollt. Quid sit futuram cras, fuge quaerere.«

»So ist es. Erst wenn wir uns als unsere eigenen Überlebenden fühlen, können wir ruhig und männlich des alten Lebens gedenken in milder Gesinnung. Flüche, Gebete, Trostsprüche, Verzweiflung, Hoffnung – alles ist überwunden. Man rollt sich historisch vor sich selber auf wie eine Kartenlandschaft ... Und zum Teufel, es sind doch Punkte drauf, wo man nicht hinsehen mag ohne Schauder und Gruseln.«

»Das Leben ist ein kurioses Ding. Seit Du mir von dem guten Drillinger erzählt, geht er mir immer wieder im Kopfe herum. Diese Offiziere a.D., die uns die neue Ordnung so massenhaft bescheert, sind ein wahres Verhängnis, für sie selbst und für das Volk. Dieser Andrang[376] von inaktiven Offizieren bei allen Ämtern und Stellen, bei unseren statistischen und polizeilichen Büreaus! Eine anständige Beschäftigung, die vor Versumpfung und Verbummelung schützt, und vier bis fünf Mark Diäten sichert, scheint schon ein großes Los. Ein jeder, der sich neu meldet, erfährt aber, daß schon Hunderte vor ihm vorgemerkt sind; er hofft, nach Jahr und Tag doch anzukommen. Und ist er angekommen, was blüht ihm? Eine verknöchernde, geistlose und doch ungewohnt mühsame Arbeit in noch ungewohnteren dumpfen Büreauzimmern Tag für Tag. Er, der bis zu seiner Verabschiedung gewohnt war, hoch zu Roß oder stramm zu Fuß den größten Teil seiner Zeit in frischer, freier Luft zuzubringen!«

»Da mußt Du erst Drillingers Schilderungen hören von den Offiziersbeschäftigungen in Fabriken. Das muß man ihm nachrühmen, er hat nichts unversucht gelassen. Einmal war die Situation einfach grotesk: ein großer Privatunternehmer hatte ihn in seiner Buchhalterei angestellt, um als Hilfsarbeiter einen Menschen neben sich zu haben, an dem er sich, mit Rücksicht auf dessen vornehme Geburt und klingenden Titel, im Gebrauch eleganter Lebensformen üben konnte, während der Oberbuchhalter, ein ehemaliger Unteroffizier,[377] jede Gelegenheit ergriff, den ihm unangenehmen Hauptmann a.D. das Untergeordnete seiner jetzigen Stellung mit ausgesuchter Bosheit fühlbar zu machen. Auf der einen Seite mußte er elender Silberlinge wegen sich den empfindlichsten Kränkungen aussetzen, um auf der andern Seite den Nimbus seines Chefs, eines eitlen plebejischen Emporkömmlings, verstärken zu helfen.«

»Die vis comica einer solchen Situation ist klassisch.«

»Auch in der Publizistik hat er einen Anlauf genommen. Er ist nicht in den Sattel gekommen, trotz seines Talentes und seiner Anstelligkeit. Gar mancher viel weniger Begabte seiner Kameraden hat in der Münchener Presse Glück gehabt. In allen Redaktionen stößt man hier auf Offiziere a.D., von der ›Allgemeinen Zeitung‹ bis herunter zur salva venia ›Kloake‹; bei den Freisinnigen, den Nationalliberalen, den Schwarzen und Roten – überall hantieren Offiziere a.D. mit Redaktionsstift, Kleistertopf und Schere. In diesen Offizieren a.D. verkörpert sich ein großes Stück soziale Frage. Unser guter Drillinger, wie gesagt, kam nirgends an. Er versteht von der Kunst der Streberei[378] nichts; er ist der geborene Pechvogel. Auch die Trambahn, die Panorama-Gesellschaften, die mit Offizieren a.D. wirtschaften, hatten für ihn keinen Platz.«

»Und jetzt Liebelei und Börsenspiel – das scheint mir von allen der verhängnisvollste Versuch, aus dem Sumpf der Unthätigkeit heraus zukommen.«

»Hinsichtlich seiner Liebeleien wird viel übertrieben, wie immer, wenn sich der öffentliche Klatsch solcher Dinge bemächtigt. Was hier an unserer Isar zusammengeklatscht wird, davon macht Ihr Euch in der Provinz gar keine Vorstellung. Du siehst's ja – selbst der König auf seinem Thron ist nicht sicher davor. Es übersteigt alle Begriffe, was ihm nachgesagt wird. Ja, wir leben in einem freien Lande!«

»Darum doppelte Vorsicht in dieser gährenden Zeit. Was sie auch aus ihrem Hexenkessel als angeblich erlösendes Gebild aufsteigen lassen möge, wir sind alt genug, uns durch nichts mehr überraschen zu lassen ...«

»Der Kurier seiner Majestät,« meldete Gabriel mit schwacher Stimme und verbundenem Kopf.[379]

»Wie siehst denn Du aus, Unglücksmensch?« fragte Trostberg überrascht.

»Es scheint, ich kann den Münchener Frühling und den Schopenhauer nicht vertragen: es treibt mir den Kopf auseinander.«

»Bitte, einen Augenblick, lieber Regierungsrat, der Kurier wird gleich bedient sein.«

Doktor Trostberg empfing den Kurier sehr zeremoniös in einem salonartigen Gemach, das zwischen Bibliothek- und Schlafzimmer lag.

»Seine Majestät befehlen das Drama-Manuskript? Hier. Es liegt schon seit gestern bereit.«

Damit überreichte er dem Kurier eine dicke, blauweiß verschnürte, mit Goldschnitt verzierte Rolle.

»Und hier der neue Auftrag unseres allergnädigsten Herrn,« hob der Kurier feierlich an, dem Doktor ein umfangreiches Buch überreichend. »Seine Majestät erwarten, daß Sie die Auszüge aus den bezeichneten Kapiteln spätestens bis Mitternacht abliefern; die französischen Verse im Anhang sollen ins Deutsche umgedichtet werden, so wortgetreu als möglich.«

Trostberg verbeugte sich. Er werde alles thun, die schwierige Arbeit zu allerhöchster Zufriedenheit auszuführen. Sodann mit einigen[380] diplomatischen Zwischenfragen überleitend, kam er auf persönliche Hofangelegenheiten, schlug einen diskret vertraulichen Ton an und wollte den Kurier ein wenig ausforschen. Der Kammerlakai war aber heute zugeknöpfter als je. Er beantwortete verschiedene Fragen mit dem nämlichen lächelnden Grinsen und Achselzucken. Nur als Trostberg auf den neuen Günstling, einen ehemaligen Friseur, anspielte, dem man in Münchener Kreisen großen Einfluß auf den König zutraue, antwortete der Gefragte: »Glauben Sie das nicht, Herr Doktor; dieser Mann ist wie alle andern mit einem Fuß drin, mit dem andern draußen – und morgen vielleicht schon mehr draußen als drin.«

»Und Sie selbst, vortrefflicher Freund ... nicht wahr?« ...

Nun wurde der Kurier gesprächiger.

Der Regierungsrat lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit an der Thür. Er vernahm nichts. »Auch das ist charakteristisch, wie alles was ich seit zwei Tagen in München erlebe, und muß mit anderem gruppiert werden!«

Nach längerem Warten sah er auf die Uhr, machte eine Miene der Überraschung und Ungeduld, dann trat er an den Schreibtisch, schrieb[381] einige Zeilen auf eine Visitenkarte, ergriff Hut und Stock und wollte gehen. An der Thür kehrte er noch einmal um, überlas das Geschriebene und setzte mit malitiösem Lächeln noch die zwei Worte darunter »Cedo maiori«.

Im Hinausgehen, ohne den Gruß des Klowns zu erwidern: »Ich weiche dem Größern – der Regierungsrat dem Kammerdiener. Das ist jetzt unsere Situation ... im Staate Dänemark.«

Quelle:
Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. 2 Bände, Band 2, Leipzig [o. J.].
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