2.

[56] Das Kinderzimmer ging immer noch auf den Hof. Als Kommerzienrat Raßler das vierstöckige, mit Balkonen und einem Vorgarten geschmückte Eckhaus der Maximilian- und Quaistraße vor drei Jahren kaufte, sagte er wohl, das sei nur provisorisch, das Kinder- und Schlafzimmer müsse die beste und sonnigste Lage haben, Morgensonne natürlich, und auf der Gartenseite, damit die gute, ozonreiche Luft durch die Fenster ströme, der Vogelgesang aus den Zweigen der Ahorn-, der Kirschen- und Birnbäumchen in aller Frühe erschalle und die kleinen Langschläfer aus den Betten pfeife. Allein Herr Raßler war stärker in guten Meinungen und Vorsätzen, als in deren Ausführung.

Man muß sich ja ohnehin so einschränken in den neuen Häusern: zehn Zimmer, was will das viel bedeuten! Wenn man den großen Salon,[57] den Speisesaal, das Empfangszimmer, die altdeutsche Kneipstube, das Billardzimmer, das Boudoir der gnädigen Frau und das Badezimmer abrechnet, bleiben bloß noch drei Räume zum Wohnen und Schlafen. Damit ist der ganze erste Stock nach seinem Rauminhalt erschöpft. Das Erdgeschoß, ein Hochparterre mit einer Veranda gegen den Garten, ist für empfindliche Leute zum Bewohnen nicht recht ratsam; der Straßenlärm, die feuchte Nachtluft von der Isar herüber, die Nähe des Grundwassers, die Ausdünstung der verschiedenen Kanäle und so weiter – nein, nein, Herr Raßler konnte sich nicht entschließen, da unten zu hausen. Außer zwei eleganten Gesellschaftsräumen, die mit exotischen Gewächsen vollgestellt waren und als eine Art Treibhaus und Anhängsel des Gartens gelten konnten, enthielt das Hochparterre noch die Küche mit den notwendigen Nebengemächern und die Zimmer für das Dienstpersonal nach der Hofseite.

Außer dem ersten Stock auch noch den zweiten zu bewohnen, das erlauben die schlechten Zeiten nicht einmal einem Kommerzienrat. Man hat ja ohnedies noch das teure Landhaus am Starnberger See auf dem Hals. Und den zweiten[58] Stock würde Herr Raßler, der trotz aller, wenn auch nur schüchternen, Versuche mit der Schweningerei immer noch seine wohlgewogenen hundertzehn Kilo wiegt, schon aus dem einfachen Grunde nicht bewohnen, weil er das Treppensteigen als eine der häßlichsten Einrichtungen des Lebens empfindet. Jawohl, eine Aufzugsmaschine! Aber wie viele Unglücksfälle sind schon passiert durch das Zerreißen einer Kette, Brechen des Fahrstuhls und hundert andere Fährlichkeiten, welche das teure Leben bedrohen. Zudem ist auch das Treppenhaus so verbaut, daß sich die nachträgliche Einrichtung einer Aufzugsmaschine nur mit den größten Kosten bewerkstelligen ließe.

Ganz abgesehen von dem riesigen Entgang an Mietzins, den die englische Familie bezahlt, die seit sechs Jahren den zweiten Stock inne hat.

Eine Familie von verrückten Kunst- und Naturschwärmern, die sich alle drei Jahre die unverschämteste Preissteigerung gefallen läßt, nur um die herrlich gelegene Wohnung an der wildbrausenden Isar mit dem Ausblick auf das bayerische Hochgebirge, besonders den mächtigen Alpenstock des Wettersteingebirgs mit der Zugspitze, zu behaupten, obwohl vom Balkon aus nur noch ein hausgroßes Stück davon über dem Isarthal[59] zu erblicken ist, seit die Neubauten der Großbräuer auf dem Auer und Giesinger Höhenzug entstanden sind und die Rundsicht auf die Alpen bis auf einen schmalen Streifen zugedeckt haben. Aber das genügt den Engländern im zweiten Stock: allmorgendlich und allabendlich tummeln sie sich auf dem Balkon, bewaffnen sich mit ellenlangen Fernröhren, strecken die Hälse, begucken sich die schimmernden Alpenspitzen und debattieren ihre Wetterprognose.

Die mächtigste Anziehung nächst dem Blick auf die Alpenwelt jedoch übt auf die englische Familie die Isar selbst: auf die weiblichen Mitglieder besonders zur Floßzeit, wenn die wetterharten Holzknechte von Tölz und Lenggries mit den blauen Falkenaugen, den kühnen Hackennasen, den starren blonden Schnauzbärten und dem gemsbart- und auerhahnfedergeschmückten Filzhut, das Hemd auf der Brust offen, daß die braune Haut mit dichten Haarbüscheln heraussieht, – ihre Flöße dahertreiben und auf dem Floßkanal, hart am Wehr vor dem Raßlerschen Hause, verankern.

Da jauchzt das Herz der Lady Mary Vivian und ihrer Kousinen Misses Wood, wenn die Bursche bei der harten Arbeit mit den blinkenden[60] Holzäxten auf die Tannenstämme einhauen und dabei die derben Wilderer-Waden das Leder der hohen Wasserstiefel durch die Wucht der gespannten Muskulatur zu zersprengen drohen. Und die Rufe und Gegenrufe, die wie wilder Vogelschrei klingen in dem urbajuwarischen Gebirglerdialekt – welch ein erregender, erfrischender Tonwechsel in diesen Naturlauten, wenn die englischen Ohren und Herzen sich den Winter über in den süß berückenden Weisen von Chopin, Wagner, Liszt halb zu tot geschwelgt!

Für die männlichen Mitglieder des Wood-Astonschen Familien-Komplexes liegt der Hauptzauber der wilden Isar in etwas ganz anderem: nämlich in den nicht eben seltenen Szenen der Mordromantik, die sich gerade an dieser Uferstelle am eindrucksvollsten abspielen. Der erste Blick vom Balkon gilt in der Frühe dem großen Wehr am sogenannten Abrecher oberhalb der Maximiliansbrücke: ob hier nicht der Kadaver irgend eines Ertrunkenen im smaragdgrünen Kanalwasser sich bläht und schaukelt. Da gibt es dann Volksauflauf, Gendarmen-Intervention, Rettungsversuche, Polizei-Inspektion; der Kadaver wird mit mehr oder weniger Anstrengung und Lärm herausgefischt, am Ufer niedergelegt,[61] untersucht, dann von schwarzuniformierten Männern auf eine Tragbahre geladen, mit einem braunen Wachstuch zugedeckt und davongeschleppt in die Morgue, gefolgt von einem Gendarmen. Lange bleibt der Volkshaufen noch stehen – die Dienstmädchen und die alten Weiber der Nachbarschaft fehlen niemals; man beguckt die Stelle, bespricht mit einem großen Aufwand von Gesten den Fall und zerstreut sich dann allmählich, das Verdikt von Mord oder Selbstmord oder simplem Unglücksfall in die nächsten Gassen tragend. Welch ein labendes Schauspiel für Mister Harry Wood, dessen Stärke neben dem Dilettantismus in der Malerei gerade die Selbstmordstatistik bildet! Er hat bereits ziffermäßig festgestellt, daß die Isar vor seiner Wohnung im Jahr durchschnittlich zehn Kadaver »produziert«, wovon drei männlichen und sieben weiblichen Geschlechts – die letzteren zu fünfzig Prozent dem jugendlichen Dienstmädchenalter angehörend. Er ist infolge seiner intensiven Beobachtungen und Berechnungen auch gar nicht der Ansicht der Münchener Polizeibehörde, daß die Mehrzahl dieser Ertrinkungsfälle auf Unvorsichtigkeit und ähnliche harmlose Ursachen zurückzuführen sei, sondern behauptet im Gegenteil, daß besonders[62] bei den jugendlichen weiblichen Opfern auf Vergewaltigung aus Lustgier und Raubsucht und auf überlegten Mord geschlossen werden müsse. Seine englische Phantasie, genährt an den Brüsten der kriminalistischen Rothaut-Muse eines Poe und Bret Hart, malt ihm dabei mit lebhaftestem Eingehen auf alle nur denkbaren Nebenumstände die packendsten nächtlichen Schauderszenen an den Brücken, Stegen, Wehren, an den parkartig bewaldeten Stellen der Isarufer und auf den Isarinseln mit ihrer lauschigen Abgeschiedenheit in den grellsten Farben. Das gewährt ihm einen wahrhaft künstlerisch-wissenschaftlichen Genuß.

Seine mächtig erregte Einbildungskraft spielt ihm manchmal auch die abenteuerlichsten Possen. Wenn er lange auf dem Balkon gestanden und in die rauschende Isar gestiert, einen Ertrunkenen zu entdecken, und die heiße Sonne der bajuwarischen Hochebene seinen britischen Insulaner-Schädel zum Krachen geheizt hat, dann geht eine märchenhafte Verzauberung mit ihm vor. Die schmale Isar verbreitert sich vor seinem Blicke zu einem ungeheuren glitzernden Wasserspiegel, zweigt ganze Ströme als Nebenflüsse von der Ausdehnung eines Mississippi ab, dazwischen[63] gaukeln, wie die Luftgebilde einer Fata Morgana, Urwälder und Prärien, bevölkert von kampfeswütigen Rothäuten, die auf blutigen Kriegspfaden wie wahnsinnige Tiger dahinschleichen, die Mordwaffe im Anschlag ...

»Holla,« schreit er plötzlich auf, »ein Leichnam schwimmt daher, noch einer und wieder einer – und dort ein Skalp und noch ein Skalp – heisa! da wieder ein ganzer Kopf, scharf abgeschnitten ...«

Und er beugt sich über den Balkon, klatscht in die Hände, mit rückwärts gewendetem Gesicht frenetisch ins Zimmer rufend: »Miß Vivian, Miß Vivian, sehen Sie doch, wie das purzelt und Wasser schluckt und wieder ausspeit und ruhig schwimmt und wieder purzelt, eins, zwei, fünf, zehn Kadaver – und eine Legion Köpfe und Skalps! Wunderschön, hinreißend!«

Und Miß Vivian springt vom Flügel auf und lacht, und die ganze Familie hält sich den Bauch und lacht: »Mister Harry phantasiert – phantasiert wie toll. Ein paar alte schwimmende Holzscheite hält er für Kadaver, ein Reisigbündel für einen Skalp, einen alten Blechtopf für einen abgeschnittenen Kopf!«

»Aber dort, seht doch, ein bewaffneter Indianerzug!«[64] und er deutet auf den Steg an der Feuerwerksinsel.

»Das sind ja durstige Münchener, die nach den Bierkellern wallfahren und vor Ungeduld, daß ihnen das Bier nicht durch die Luft ins Maul fließt, mit den Stöcken fuchteln ...«

»Aber das breite Wasser da unten, groß wie ein See, mit der feurigen Sonne darüber? Ist das nicht der Mississippi?«

»Kindskopf, nein, das ist die Isar, die I–saa–r!« Miß Vivian lacht ihm immer lustiger ins Gesicht und nimmt ihn mit ihren langen, feinen Fingern ein wenig beim Ohrläppchen.

Nun spielt er die Posse mit Bewußtsein und Absicht weiter. Vivians Griff hat ihn angenehm elektrisiert. »Aber diese beiden kolossalen Mississippi-Dampfer, die da drüben Bord an Bord schaukeln, die müßt Ihr doch gelten lassen?«

Miß Vivian nimmt ihn kräftiger beim Ohr, daß er vor Lust mit den Zähnen knirscht: »Schelm, das ist der Hofbräuhauskeller und die gotische Kirche von Haidhausen!«

Mama Wood, den Kopf in die »Neuesten Nachrichten« vergrabend und nach Unglücksfällen schnüffelnd, erklärt: »Harry ist um seine Phantasie[65] zu beneiden. Die Isar thut ihre Schuldigkeit schlecht; sie hat schon so lange keinen Kadaver mehr gebracht! Es ist recht langweilig ... Man verlernt das süße Gruseln ...«

Kommen aber zu den Ertrunkenen noch einige Erhenkte an den alten, schönen Kastanienbäumen an der Isar-Quai-Promenade unter den Fenstern des Raßlerschen Hauses, dann schmeckt der englischen Familie das Frühstück noch einmal so gut; sie ist dann unsagbar befriedigt von den hohen Naturreizen und Vorzügen ihrer Wohnung, daß sie sich mit Enthusiasmus eine Mietzinserhöhung gefallen läßt, während sie sich mit Händen und Füßen gegen eine Steigerung wehrt in einem Jahre, welches weniger Isar-Ertrunkene oder gar keine Kastanienbaum-Erhenkte »Produzierte«.

»Well,« lispelte im vorigen Jahre Mister George Vivian Aston, das derzeitige Oberhaupt des englischen Familien-Komplexes, als ihm der Herr Kommerzienrat eine neue Steigerung ankündigte, nachdem sich sehr günstig gerade am Morgen des Mietzahlungstags ein erhenkter Packträger am Kastanienbaum befunden hatte: »Well, die dreihundert Mark ist der arme Teufel wert, er war sehr gut gehenkt und sah sehr gut[66] aus in dem Morgennebel, der mich an meine geliebte Insel-Heimat erinnerte.«

Seit der Gründung des Münchener Ruderklubs, der seine Übungen, in den Abendstunden auf dem Isarkanal zwischen der Maximilians- und Ludwigsbrücke abhält, sind die Engländer, besonders die Ladies Mary und Georgina, ganz Feuer und Flamme für die wundervolle Lage ihrer Münchener Wohnung. Auch Mister Harry Wood verspricht sich von dieser aquatischen Erweiterung des Münchener Vereinslebens neue Genüsse; er hat seiner Statistik eine neue Rubrik eingefügt: Ertrunkene Mitglieder des Münchener Ruderklubs bei ihren Schulfahrten auf der Isar an der Quaistraße.

Dieser Harry Wood war in der ersten Zeit ein Gegenstand des Abscheues für die ganze kommerzienrätliche Hauseigentümerschaft. Hatte er doch die satanische Gewohnheit, in den Raßlerschen Garten zu spucken! Und als ihm dieser Gartenspuck-Sport kraft eines neuen Paragraphen, den Herr Raßler extra für diesen unvorhersehbaren Fall in die alte, gedruckte Hausordnung einfügen ließ, untersagt worden war, da ersann er flugs eine andere Unart, um den neuen Hauseigentümer zu ärgern. Der unglaubliche Mensch[67] nahm ein Blasrohr und beschoß, hinter den Spitzen-Gardinen des Balkonfensters versteckt, den Glatzkopf des Herrn Kommerzienrats mit Erbsen, sobald dieser arglos lustwandelnd im Abenddämmer zwischen den grünen Sträuchern und Bäumen seines Hausgartens auftauchte. Erst der heimlichen, aber energischen Dazwischenkunft der Frau Leopoldine Raßler, welche zwar keine besondere Hochachtung vor dem kahlen Haupte ihres Gemahles empfand, es aber doch nicht zur Zielscheibe für englische Blasrohrschützen entwürdigt sehen wollte, gelang es, diesem Unfug zu wehren. Auf Frau Leopoldine hielt Harry Wood große Stücke.

»Wir sollten endlich doch ein anderes Zimmer für die Kinder bestimmen; je mehr die Knaben heranwachsen, desto bedenklicher werden die Störungen vom Hofe her. Die Hofseite hat mir nie gefallen, Du erinnerst Dich?« bemerkte Frau Leopoldine Raßler, mit etwas müden Bewegungen in ein einfaches, knappes Hauskleid, gelb und braun, von echt persischer Wollweberei, die kräftigen Formen pressend, von der Schwelle ihres Boudoirs zu Herrn Raßler hinüber, der sich gedankenlos im amerikanischen Schaukelstuhle wiegte und seine feuchten Bulldoggen-Augen in[68] den goldenen Arabesken des Salon-Plafonds spazieren gehen ließ. Gedankenlos? Vielleicht doch nicht ganz. Im roten Fleisch des Vollmondgesichtes spielte eben wieder ein verschmitzter Zug, offenbar als Nachwirkung eines listigen Gedankenfragments, das durch den Eintritt der fragenden Frau nicht zu Ende gebracht werden konnte. Die Gestrenge! Natürlich. Sie berief sich immer auf den puritanischen Arzt, wenn sie seinen Nachtischscherzchen ausweichen wollte. Die Widerwillige! Aber sie hatte sich doch seiner Laune bequemt ...

»Ich erinnere mich, mein Leo« (er gebrauchte mit Vorliebe die männliche Form der Namenskürzung), »ich erinnere mich, mein Leo!« erwiderte er mit schläfriger Stimme zweimal. »Ich bin ganz Deiner Meinung.«

Er gähnte, ohne die Hand vorzuhalten.

»Das bist Du seit drei Jahren, hast aber bis heute nichts geändert, und Du bist doch der Herr im Hause.«

»Ja, der bin ich, mein Leo. Sind neue Unzukömmlichkeiten vorgefallen?«

Sie trat hinter den Stuhl, hielt mit festem Griff der Lehne die Schaukelbewegung an und sagte, ohne ihr schönes, mattleuchtendes Gesicht[69] zu dem dicken, schläfrigen Gatten niederzubeugen: »Der Harry Wood spricht von seinem Küchenbalkon immer dummes Zeug zu den Leuten in den Hof hinunter, aber so laut, daß es in der Kinderstube gehört wird. Da unterbrechen die Knaben die Arbeit, horchen und lachen. Herr Schlichting hat sich soeben über die Störung beklagt.«

»Der gute Herr Schlichting. Das glaub' ich wohl. Recht, ich werde mir die Sache überlegen. Wenn's gar nicht anders geht, werde ich die Engländer doch noch zum Haus hinaussteigern. Sonst liegen keine Unzukömmlichkeiten vor?«

»Die Hausleute im dritten und vierten Stock beschwerten sich vorhin, daß eine unbekannte Hand in vergangener Nacht die Thürklinken mit gekochten Wursthäuten überzogen und die kleinen, runden Gucklöcher mit Oblaten zugeklebt habe. Als die Frau Professor im dritten Stock vom Theater heimkehrte und im Dunkel die warme weiche Wursthaut an der Thürklinke in die Hand bekam, schrie sie vor Entsetzen und war einer Ohnmacht nahe ...«

Der Herr Kommerzienrat wälzte seinen Fettwanst vor Lachen halb aus dem Schaukelstuhl[70] heraus und quackerte sein Lieblingswort: »Das macht der Liebe kein Kind ... Die gute Frau Professor ... Das glaub' ich wohl.«

Der plötzliche Lachanfall trieb ihm das Blut bis in die weiße Glatze hinauf. Fast ängstigte er sich, daß er der lustigen Erregung nachgegeben. Aber der Spaß war zu gut. Die Frau Professorin, die Vornehmthuerin und Superkluge, statt der Thürklinke eine warme Wurst in der Hand und einer Ohnmacht nahe! Ein gottvoller Jux! Und er lachte aufs neue, daß ihm dicke Tropfen über die runzligen Thränensäcke hinweg die Backen herunterliefen.

»Der Verdacht lenkt sich natürlich auf den tollen Engländer. Aber die Leute im vierten Stock zischeln schon, unser Hermann wär' auch solcher Streiche fähig; der Engländer verführe ihn und stifte ihn zu nichtsnutzigen Streichen an.«

»Wenn das Gesindel vom vierten Stock ...«

»Es sind anständige Leute, die Postoffizials, bitte ...«

»Erlaube, mein Leo, was im vierten Stock wohnt und ein halbes Dutzend Kinder hat, ist mehr oder weniger Gesindel ... Kein anständiger Mensch steigt und wohnt so hoch ... und[71] setzt so viele Kinder den andern Leuten auf die Köpfe ...«

»Wer selbst Kinder hat und seine Kinder liebt, sollte auch vor dem Elternglück und der Elternsorge der andern mit geziemender – ich sage nicht Noblesse, das versteht nicht jeder! – Achtung denken oder wenigstens sprechen. Wer anders handelt, würdigt sich selbst herab ...«

»Du bist heute sentimental, mein guter Leo; das Beamtenpack mit den vielen Kindern ist mir nun einmal zuwider. Das bläht sich und brüstet sich ... Ja, die Bildung! Und die Einbildung! Und dabei nichts im Sack; jeden Monat rennt's mit seiner Quittung an die Staatskasse. Das frißt alles aus der großen Schüssel – und den Kinderluxus muß zuletzt das Volk, das heißt: müssen wir bezahlen. Ewig Gehaltsaufbesserungen, und Witwen- und Waisenpensionen. Das verstehst Du nicht, was das kostet. Wo kein Vermögen ist, gehören auch keine Kinder hin. Kindermacherei auf Regimentsunkosten, das ist was Rechtes! Davon will ich gar nicht reden, wie die im vierten Stock unser Haus abnützen. Immer ist die Treppe beschmutzt, das schöne Stiegengeländer schon ganz verkratzt. Wie die Fußböden und[72] die Tapeten ausschauen, daran mag ich nicht denken. Und dafür zahlen sie die lächerliche Miete von 700 Mark. Na, ich werde den Herrn Offizial mit seinem Kinderpack nächstens hinaussteigern. Zum Saustall ist mir mein vierter Stock zu gut.«

Mit einem zornigen Stoß schnellte Frau Raßler den Schaukelstuhl in Bewegung und verließ das Zimmer, etwas wie »ein ekelhafter Protz!« zwischen den Zähnen.

Der Herr Kommerzienrat versank eine Sekunde in verblüfftes Staunen, dann erholte er sich wieder mit der verlangsamten Wiegebewegung und quackerte für sich weiter: »Der gute Leo hat wirklich wieder einen schlechten Tag. Aber das macht der Liebe kein Kind. Was im vierten Stock wohnt, ist immer mehr oder weniger Gesindel, und wenn es meinen Hermann verleumdet, wird's zum Tempel hinausgesteigert. Das ist einfach. Ich begreife die Aufregung meines guten Leo nicht. Auf den Hermann laß' ich nichts kommen. Absolut nichts. Nächstes Ziel ... Georgi ... kaum noch vier Wochen ... wird ... das Gesindel ... gesteigert ... daß ihm ... die ... Rippen ... kra ... krachen ...«[73]

Und der Herr Kommerzienrat war sanft eingenickt. Er hatte den Mund mit den gelben, angefaulten Zähnen halb offen und schnarchte seinen gediegenen Nachmittagsschlaf. Auf der Maximilianstraße klingelte die Pferdebahn, an der Quaistraße rauschte die Isar, im ersten Stock verklimperte Miß Vivian gar gefühlvoll ihre Seele im Wagner'schen Siegfried-Idyll; durch das offene Balkonfenster über dem Garten flutete Frühlingshauch und Sonnenduft in linden, würzigen Wellen herein: Raßler schlief in seinem weichgepolsterten Amerikaner wie ein feister seliger Engel im Paradies. Nicht einmal der Anflug einer bösen Traumeslaune wagte ihn heute zu stören ... Und wie er dalag, in holder Bewußtlosigkeit das stilwidrigste Inventarstück seines stilvollen Salons! Wie er schnarchte und dünstete! Keine Angst: die Verdauung war wieder wundervoll in Ordnung. Der große Kunstmäzen, als welchen er sich mit Hochgenuß preisen hörte, war vor allem ein großer Künstler im Essen und Trinken. Sein Wahlspruch: »Sehr gut und sehr viel!« Und heute war das Menü wieder geradezu erhaben gewesen. Krammetsvögelsuppe von göttlichem Wohlgeschmack. Poularde mit frühem Riesenspargel[74] aus dem Süden von überwältigender Qualität. Und das Übrige! Und das Unsagbare zum Nachtisch ...

»Er schnarcht wie ein Sägebock,« spottete die Gusti und legte die Korrespondenz nebenan auf das japanische Serviertischchen. »Der platzt doch noch in seinem Dickwanst ...« Dann huschte sie auf den Zehenspitzen wieder hinaus.

Es war keine Zofe mehr in gefährlichen Jahren. Eine Art von abgelagertem weiblichen Faktotum, ebenso allwissend in allen intimen Hausangelegenheiten wie ein Beichtvater in den Sündhaftigkeiten seines Sprengels, und dabei ein seltsames Gemisch von diskreter Unverschämtheit, treuherziger Dienstgefälligkeit und schlauer Berechnung des eigenen Vorteils. Jedermann im Hause schwor auf ihre Zuverlässigkeit, und niemand schwor falsch. Gusti war eine abgefeimte Diplomatin – und, wie alle Diplomaten, wenn's schief ging, nie um eine gute Ausrede verlegen.

Der Herr Kommerzienrat hatte sie aus seiner ersten Ehe, wo sie als Kindsfrau dem kleinen Eugen ihre Wärterdienste leistete, in die zweite Ehe mit herüber genommen. Die zweite Ehe war seither unfruchtbar geblieben; Frau Leo[75] Raßler, keiner Kinderwärterin benötigt, erhob die gewandte Gusti zur Würde einer Zofe – was aber kaum mehr als eine Sinekure bedeutete, da die neue Gnädige merkwürdigerweise ihre Leibesbedienung selbst besorgte. Gusti machte sich im Hause nützlich, wo sich irgend eine Gelegenheit bot. Sie war die Vertraute beider Gatten, bis zu einem gewissen Grade, und sie hatte dabei für jeden ein besonderes Ohr und eine besondere Zunge, wobei sie mit großem Geschick jeder Verwechslung gewachsen war. Nie war ihr in diesem Punkte bis jetzt ein Unfall passiert.

In der ersten Zeit seiner zweiten Ehe, so vor vier, fünf Jahren, hatte der Herr Kommerzienrat sehr viel auszustehen, bis er sich einigermaßen in das fremdartige Wesen seiner neuen Gattin eingelebt. Gusti griff ihm bei diesem Anpassungsprozeß wacker unter die Arme mit dem Schatze ihrer Erfahrungen und ihrem Instinkte für absonderliche Weiberlaunen und deren oft noch absonderlicheren Art der Befriedigung. Daß sie oft fehl griff, lag an den Umständen, nicht an ihrem Witz und Willen.

Wenn ihr der Kommerzienrat sein Leid klagte, daß Frau Leopoldine doch gar so kühl[76] und verschlossen gegen ihn sei, daß er so wenig zärtliches und in der Zärtlichkeit erfinderisches Entgegenkommen bei ihr finde, daß sie die Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten so widerwillig und träge, zuweilen sogar unter Widerspruch betreibe und immer neue Ausflüchten ersinne, um seinen Intimitäten zu entschlüpfen, kurz, daß sie ihn auf die schnödeste Weise behandle und seine Liebe nur wie mit Almosen erwidere, die man einem elenden Bettler hinwirft, um Ruhe vor ihm zu bekommen: dann lächelte Gusti spitzbübisch: »Sie fassen die Sache auch gleich zu tragisch auf, gnädiger Herr; Ihre Frau ist nun einmal anders als die andern, deswegen dürfen Sie nicht verzweifeln.«

»Kalt ist sie wie ein Eisblock,« antwortete Raßler bekümmert.

»Dann müssen wir den Eisblock aus Feuer bringen.«

»Aus Feuer! Wenn er sich nicht von der Stelle rührt! Wenn er daliegt wie angefroren ...«

»Dann bringen wir das Feuer zu ihm, wir erhitzen die Luft.«

Raßler schüttelte den Kopf: »Du redst[77] dummes Zeug Gusti. Das macht der Liebe kein Kind.«

»Freilich nicht, wenn Sie sich immer so abschließen, keine Gesellschaften geben, keinen ordentlichen Menschen zu sich einladen, nichts als so grauslich ernsthafte Gschaftlhuber ... Da wird jede Frau verdrossen, besonders eine so junge und schöne wie die Frau Kommerzienrat. Ein solches Kleinod sperrt man nicht in die Truhe. Da verliert's seinen Glanz. Das muß aus Licht, dann funkelt's und erfreut das Herz.«

»Ja, das Herz der anderen.«

»Was liegt daran? Besitzer bleibt man doch und hat im Besitz den schönsten Genuß davon. Na, die Eifersucht, die läßt freilich keinen gescheidten Gedanken aufkommen.«

»Ich bin neugierig auf Deinen gescheidten Gedanken.«

»Laden Sie Ihre jüngeren Freunde ein, machen Sie wenigstens einmal in der Woche einen lustigen Abend, wo man sich zu einem Spielchen zusammensetzt oder musiziert und tanzt wie in den andern vornehmen Häusern ...«

»Jüngere Freunde! O Du Schlange, sag'[78] doch gleich Verehrer und Liebhaber!« pustete der dicke Kommerzienrat.

»Ei freilich, na, was wär' dabei? Jede schöne Frau von Stand hat ihre Verehrer. Das bringt die Damen in guten Humor und frischt ihre Laune auf – und schließlich schöpft der Mann als der einzig wirkliche Liebhaber den Rahm ab. Jessas Maria, daß doch manche Männer gar so vernagelt sind und so blind ...«

In einigen weiteren Geheimsitzungen verfocht die schlaue Gusti ihren Vorschlag so gut, daß dem Kommerzienrat ein Brett ums andere vom Kopf und eine Schuppe nach der andern vom Auge fiel. Er wurde so frei und so hellsehend, daß die lustigen Abende und Jourfix bei Raßlers bald zum Stadtgespräch wurden. »Liebhaber-Vorstellungen« nannte sie zwar die Bosheit der Krähwinkler, »Rekruten-Musterung« die Offizierskasino-Médisance, »Hornvieh-Rennen« die Hintertreppen-Flegelei, aber die Hauptsache blieb doch, daß der Herr Kommerzienrat an der Sache Vergnügen fand und munter des Glaubens lebte, zur Aufheiterung seiner so ernsten und nachdenksamen Leopoldine das rechte Mittel gefunden zu haben. Obwohl die Frau Kommerzienrat anfänglich von dem Einfall ihres täppischen Grandseigneur-Nachäffers[79] überrascht war und sich gegen die Fortsetzung dieser gewaltsamen Erheiterungsversuche sträubte, so glaubte sie doch, es dem Ansehen ihres Eheherrn schuldig zu sein, die Honneurs des Hauses mit dem vollendeten Maskenspiel der Weltdame zu machen. Ihr Herz blieb unbeteiligt.

Keiner der zahlreichen Gäste aus dem Kaufmanns-, Künstler- und Beamtenstand, so gewandte Kurmacher auch darunter waren, konnte sich eines tieferen Erfolges bei der seltsamen Frau erfreuen. Nichtsdestoweniger trieb die Geckeneitelkeit manchen zu der schurkischen Koketterie, im Kreise seiner Stammtischbrüder mit ahnungsvollen Anspielungen auf genossene Bevorzugungen und Triumphe die Geschichte seiner galanten Abenteuer als unwiderstehlicher Schwerenöter zu erweitern. Besonders der im Rufe eines treffsicheren Frauenjägers und Unschuldmörders stehende Parklas, Beamter im statistischen Büreau, dessen breites, blondbebartetes Maul stets vom Honigseim ranziger Galanterieen triefte, rühmte sich bei seinen Zechgenossen, daß er ein neues Leben begonnen habe: Frau Raßler habe ihm den Geschmack an seiner Spezialität, immer einige zierliche Theatermäuschen an seiner liebegeschwellten[80] Brust zu hegen, ganz und gar abgewöhnt, seit ihn die Sphinx selbst an ihren rätselvoll heißen Busen genommen und mit ihren Löwentatzen halb totgedrückt. Die ganze freiwillige männliche Prostitutions-Kohorte kam darob in Aufruhr: Frau Raßler! lautete fortan ihre geheime Parole.

Frau Raßler selbst in ihrer festen Gefühlsumzirkung, welche noch auf den Rechten wartete, dem das Schicksal die siegreiche Grenzüberschreitung zugesprochen, hatte keine Ahnung von dem Unfug. War doch von je die männliche Prostitution, welche sich gelegenheitslauernd in Häusern und Gassen, auf Promenaden und geselligen Ausflügen herumwälzt, um als williges Werkzeug sinnlicher Befriedigung den zügellose Weibern zu dienen, ein Gegenstand lebhaftesten Abscheus für sie gewesen. Wie viele Verführer hatten schon mit brünstigem Zuwinken und Bocksgemecker ihren Lebensweg umdrängt! Aber was lag ihr an diesen Hundenaturen? Wie oft hatte sie ihrer Freundin Bertha, dieser lüsternen und neidigen braungefleckten Tigerkatze, die ehrliche, aber nie geglaubte Versicherung gegeben, daß alles, was gewöhnliche Frauen von ungestümer Sinnlichkeit zu Falle bringt: ein hübsches[81] Gesicht, ein starker Nacken, ein fesches Bein mit muskulösen Schenkeln, ein appetitliches Fell, ein von innerem Feuer ausgeglühter Teint, ein bald keckes, bald zaghaft glitscheriges Auftreten u.s.w. keine Gewalt über sie habe.

Ja, diese vielerfahrene Bertha, deren zweites Wort war: Willst Du die Wahrheit über die Männer wissen, so frage mich! – Diese schlanke Forstmeisterswittib, die im Wald und auf der Haide, im Salon und in der Dachkammer, im Patschuliduft wie im Mistgeruch mit dem Ewigmännlichen experimentiert hatte, ohne den Schein der ehrbaren Frau der Welt gegenüber preiszugeben: sie hatte ihre liebe Not mit ihrer alten Pensionsfreundin Leopoldine.

Einmal kam eine große Singhalesentruppe nach München. Wochenlang produzierte sie sich in einem Zeltlager auf der Theresienwiese. Die dunkelhäutigen und dunkeläugigen Kerls mit ihren schlangenglatten Leibern und bald träumerisch lässigen, bald leidenschaftlich sprunghaften Bewegungen hatten die ganze Münchener Damenwelt rebellisch gemacht. Frauen vom hohen Adel und Frauen des Erwerbsstandes sahen sich die Augen aus dem Kopf nach diesen asiatischen Wildlingen. Bertha war aus Rand[82] und Band vor exotischer Nächstenliebe; einmal wäre sie und eine blonde Bräumeisterin beinahe im Zeltlager übernachtet, wenn der Aufseher sie nicht entdeckt und mit Gewalt hinausbefördert hätte. Diese halbnackten Singhalesenjünglinge, deren Gewandung, Gang und Reitkunst bald die Beine bis hoch zu den Schenkeln hinauf entblößt zeigte, bald den schmalen, biegsamen Oberleib enthüllte und die edelste Muskulatur den bewundernden Blicken darbot; diese Söhne einer fremden Natur von unverbrauchter Kraft, von verheißungsvollstem leidenschaftlichen Elementarismus: wie wußten sie schon durch den Gegensatz zu der schweren, umständlichen Männlichkeit Bierbajuwariens die sinnlichen Weiber zu entflammen! Zigarren, Näschereien, kostbare Andenken wurden den Fremdlingen heimlich von den Damen zugesteckt als Gegenleistung für das nervenerregende Schauspiel, für einen lodernden Blick aus den indischen Samtaugen, für eine flüchtige Belastung, für einen sehnsüchtigen Händedruck. Bertha ließ ihrer Freundin Leopoldine keine Rube, sie mußte mit ihr hinaus, die Männerwunder einer fremden Zone auf der Theresienwiese zu betrachten.

Bertha entschied sich zuerst für einen jungen[83] Zauberer, dann für einen grotesken Teufelstänzer, dann wieder erkannte sie den Preis sieghafter Männlichkeit einem Priesterjüngling zu; zuletzt blieb sie bei einem märchenhaft zarten Menschen stehen, der auf einem kostbar gesattelten Elefanten unter einem roten Baldachin ritt. »Was meinst Du? Welcher wäre Dir der schönste und begehrenswerteste?« fragte sie wild umherhastend mit den Augen, deren Sehkraft sie noch mit dem Opernglas verstärkte.

Leopoldine: »Da könnte man ebenso gut fragen: welchen Insassen eines Affenhauses ich schön und begehrenswert fände. Interessant ist schließlich alles. Als Schaugericht kann man sich diese Kerls gefallen lassen. Sonst versteh' und will ich nichts davon.« Beim Fortgehen drückte Leopoldine einem kaum zweijährigen, trotz der warmen Umhüllung fröstelnden, hüstelnden Singhalesenkind ein Silberstück ins grauschwarze Händchen. »Das arme Ding sieht seine Heimat auch nie wieder.«

Nachdem der Singhalesenransch verraucht war, trat für Bertha die europäische Kultur mit ihren zahllosen Männertypen wieder ins Vordertreffen.

Es war auf der internationalen Kunstausstellung[84] im Glaspalaste. Die Damen promenierten im Ehrenpavillon; der Springbrunnen warf seine Wasser durch Tannenwipfel und sing sie plätschernd in Felsenbecken auf; hinter einem Boskett schmetterte die Regimentsmusik. Die Rendezvous-Stunde der vornehmen Welt.

»Ach, Leopoldine, sieh doch den dort, mit dem schwarzen üppigen Vollbart, wie muß der auf der Brust und überall behaart sein, ganz zottelig, schau, den möcht' ich haben!«

Und Leopoldine kalt: »Der oder ein glattes Milchschwein – mich lockt wahrhaftig nichts von dieser Sorte; ich wünsche Dir viel Vergnügen.«

Und Bertha darauf: »Ja, ich weiß, Du suchst den keuschen Mann, ein Geschöpf, das nie existiert hat und wenn es existierte, das Dümmste und Unausstehlichste wäre, was ich mir denken könnte ...«

»Und Du den Salonlöwen, der seine parfümierte, an allen Ecken und Enden schon ramponierte Männlichkeit mit faunischem Grinsen Dir auf dem Präsentierteller entgegenträgt – und dann wieder den Bettler, dessen Fleisch Dir aus den Fetzen seines Gewandes lüstern zuwinkt, während seine scheue Miene mit niedergeschlagenem[85] Blick ein Almosen heischt – geh' mir, der eine wie der andere ist der süßen Geheimnisse einer glühenden Umarmung gleich unwert ...«

Dann fauchte Bertha, daß ihre scharf geschnittenen Nüstern über den sinnlich geschürzten Lippen bebten: »O, ich weiß, der Gegenstand Deiner Passion sind unverdächtige, zurückhaltende Individualitäten, an denen sich die sexuelle Neugierde die seltsamsten Befriedigungen verspricht, ich weiß, ich weiß ...«

»Nichts weißt Du! Wie frivol, mir solche Dinge zuzutrauen!«

Gewiß, Frau Bertha wußte trotz aller eigenen Erfahrungen die Natur ihrer Freundin nicht zu deuten. Diese wußte es aber ebenso wenig. Sie war sich in der Liebe selbst ein Rätsel. Vor lauter verhaltener Sinnlichkeit kam sie nicht zur landesüblichen Befriedigung der Sinnlichkeit. Sie jagte dem Phantom einer Liebe nach, das ein Wunder bewirken sollte. Sie fühlte, daß in der Sinnlichkeit ein hohes Menschheitsideal verwirklicht werden könnte, aber sie fand nicht den Mann dazu. So lebte sie ihre erste Jugend in erzwungener Keuschheit dahin, vegetierte in zielloser Sehnsucht, die verschlossenen[86] Samenkörner einer traumhaften Liebe in der einsamen Seele. Oft hatte sie sich den Tod gewünscht.

»Was wird aus mir werden?« fragte sie in bangen Stunden und brach in heißes Schluchzen aus. Dann betrachtete sie sich wieder im Spiegel oder betastete sich auf ihrem öden Lager in verschwiegener Nacht und seufzte: »Es ist schade um mich ...« Und sie konnte sich nicht helfen.

In der Pension, wo sie als die Waise eines wenig bemittelten Hofrats von den wohlhabenden Schülerinnen, deren Eltern im Fett reichen Erwerbes schwammen, ohnehin mit einer gewissen Zurückhaltung behandelt wurde, hatte sie sich inniger an Bertha v. Starkloff angeschlossen und in naiver Hingabe deren ausschweifende Phantasieen geteilt. Sänger, Schauspieler, Dichter, Maler, welche durch ihre öffentlich ausgestellten, recht lecker zugerichteten Photographieen den Verehrungssinn der jungen Damen erhitzt und entflammt hatten, wurden mit bewundernden Briefen und Gedichten heimlich bombardiert. Leopoldine verübte für ihre Freundin Bertha manche liebestammelnde Reimerei, welche diese mit einem fingierten Namen unterzeichnete und[87] zur Anbahnung einer schwärmerisch erotischen Korrespondenz an die rechte Adresse beförderte. Gar mancher von den jungfräulich angedichteten Künstlern fühlte sich so tief in seiner männlichen Eitelkeit geschmeichelt, daß er in entzückten Briefen antwortete, seine Photographie beifügte und sich zu einem Stelldichein bereit erklärte. Ein ebenso geckenhafter als erzdummer mit Familie gesegneter Opernsänger reagierte auf diesen Pensionatskultus in so beharrlicher Weise, daß die Institutsvorsteherinnen von dem Unfug Wind bekamen und, um ein Exempel zu statuieren, die Unschuldige mit der Schuldigen, Leopoldine mit Bertha aus der tugendsamen Anstalt entfernten. Bertha Starkloff genas bald darauf bei einer hilfsbereiten Frau, die sich in den Inseratenblättern den nach zeitweiliger Zurückgezogenheit sich sehnenden Damen nachdrücklich zu empfehlen pflegte, eines Knäbleins. Das kleine Geschöpf hatte aber kaum das Licht der Welt erblickt, als es sofort den Geschmack daran verlor und sich stracks aus dem Staube machte. Bertha kehrte blaß und keusch aus der Zurückgezogenheit in das Getümmel des Lebens zurück und beglückte einen gutmütigen ältlichen Forstmann mit ihrer Hand und anderen hübschen Sachen. Um ihre[88] arme Freundin Leopoldine Klebnikow kümmerte sie sich jahrelang nicht mehr.

Nachdem für Leopoldine die ersten schmerzlichen Folgen jener theatralischen Pensionats-Katastrophe überstanden waren und sie selbst den Weg zur Bühne versuchsweise gefunden hatte, trat eine neue Wendung in ihrem Leben ein. Eines Tages, als sie von einer Theaterprobe heimkehrte, wurde sie unter ihrer Hausthüre von einer fremden, anscheinend vornehmen und würdigen Dame von äußerst zutraulichen, gewandten Manieren angehalten und zu einer Besprechung an einem dritten Orte, einer kleinen Villa in einem Garten an der Briennerstraße, eingeladen, unter der Bedingung, die größte Verschwiegenheit zu beobachten. Die Dame nannte keinen Namen, keinen näheren Zweck. Sie begnügte sich nur, wiederholt zu versichern, daß die wichtige Unterredung, wenn sie zur Zufriedenheit ausfalle, für Fräulein Leopoldine von den glücklichsten und angenehmsten Folgen sein würde. Jede Gefahr sei ausgeschlossen. Die Diskretion verbiete ihr, mehr zu sagen. Fräulein Leopoldine möge Ja sagen, alles übrige werde sich finden. Zögernd gab Leopoldine ihre Zusage. Warum? Was trieb sie zu dem Abenteuer,[89] das eine fremde Dame mit ihr einfädeln wollte? Sie wußte es selbst nicht, woher und wie es plötzlich über sie gekommen, diesem Kitzel der Neugierde nachzugeben. Daß irgend ein Mann im Spiele sei, ahnte sie natürlich sofort. Diese Ahnung verstärkte den abenteuerlichen Reiz. Etwas Unerklärliches, Überraschendes! Eine Begegnung mit einem geheimnisvollen Märchenprinzen? ... Sie hatte eine schrecklich unruhige Nacht ... Ohne daß Mutter und Bruder davon erführen, hielt Leopoldine Wort. In sehr aufgeregtem Zustande kam sie in das bezeichnete Haus – sie schützte daheim Theaterprobe vor – und wurde von der fremden Dame mit bestrickender Liebenswürdigkeit empfangen.

»Himmlisch, daß Sie gekommen sind, ich fürchtete fast schon, daß Sie mich umsonst warten ließen. Aber dann sagte ich mir: nein, sie ist viel zu nett und zu klug, ihrem Glück aus dem Wege zu gehen, auch wenn es sich unter ungewöhnlichen und geheimnisvollen Umständen ankündigt. Ich bin entzückt, Sie zu sehen. Lassen Sie sich umarmen! Und nun zur Sache!«

In den knospentreibenden Bosketts des Gartens flüsterte der Frühling, aus den Wipfeln der Ahornbäume rief die Amsel, aus den Veilchenbeeten[90] wehte süßer Duft. Dazu das hohe Gemach mit der kostbaren Vertäfelung, den schweren Teppichen, auf welchen das Geräusch der Schritte erstarb, den Portièren und dichten Vorhängen, welche nur spärliche Helle eindringen ließen, und den künstlich bereiteten Wohlgerüchen, welche betäubend den wohlig schlummernden Raum erfüllten: das alles vermehrte Leopoldinens Aufregung. Bald überkam es sie wie eine schmerzlich süße Betäubung, welche jeden Willen lähmte, dann wieder wie Gewissensangst und Mahnung, doch ja auf ihrer Hut zu sein und jeder Überrumpelung ihrer Sinne zuvorzukommen. Ihr Blick verschleierte sich, ihr Herz schlug bis zum Halse herauf. Die Dame redete in sie hinein mit den holdesten Worten der Verführung. Bei diesem Wortgeplätscher fuhr Leopoldine plötzlich auf wie aus einem Traume. Am liebsten wäre sie davongeeilt. Allein aus dem Banne der funkelnden Schlangenäuglein der zärtlichen Dame gab es kein Entrinnen. Mit dem Blicke drückte sie Leopoldine auf den schwellenden Sitz des niedrigen Eckdivans. Sie setzte sich an ihre Seite und faßte ihre Hand.

»Ein hoher Herr verehrt Sie, bewundert Sie, liebes Fräulein. Seine Stellung verbietet[91] ihm, sich Ihnen in der gewöhnlichen Weise zu nähern und Ihnen seine Gefühle auszudrücken. O fürchten Sie nichts! Seine Absichten sind die edelsten. Er leidet schwer unter der Entsagung, welche ihm sein Lebensstand auferlegt, unter der Zurückhaltung, welche ihm seine hohe Würde gebietet. Und er fühlt so heiß für Ihre Schönheit, Ihre Jugend, Ihr Talent ... Erweisen Sie sich ihm freundlich, großmütig ...«

»Es ist doch nicht ein –«

»Ein geistlicher Herr, wollen Sie sagen, liebe Seele? Und wenn? Und der höchsten geistlichen Aristokratie angehörend und aus dem Wälschlande stammend, wo eine feurigere Sonne scheint, als in unserem trüben Norden? Ein genialer Freund aller Kunst und Schönheit, dem auch unter dem priesterlichen Kleide das Herz für die Wunder reiner Liebe schlägt? Schreckt Sie das? Ich will Sie zu ihm geleiten; Sie sollen ihn zunächst nur sehen und ihm Ihren Anblick verstatten. Was ihm ein Fest der Augen, soll Ihnen eine Gelegenheit zur Prüfung sein ... Gefällt er Ihnen nicht, je nun, Sie sind frei, Ihre Meinung zu äußern und zu thun was Ihnen beliebt. Ich will Sie zu ihm geleiten ...«[92]

»Heute? Jetzt? O Gott!«

»Diesen Augenblick ... Ach, da ist der hohe Herr selbst. Ich ziehe mich zurück. Seien Sie recht, recht gütig mit ihm ...«

Leopoldine hat später die Szene ihrem alten Beichtvater zähneknirschend mit allen Einzelheiten geschildert und nicht achtend der väterlichen Abwehr des entsetzten ehrwürdigen Greises mit den bitteren Worten geschlossen: »So, da habt Ihr Euere Heiligkeit in Kirche und Haus –! Rein und weiß wie das Kaschmirkleid, das ich an jenem verdammten Tage trug, war mein Herz, und besudelt habe ich die Stätte verlassen, in die mich wälsche geistliche Wollust gelockt, um mich meines köstlichsten Gutes, der Unschuld, mit den Teufelskünsten eines ausstudierten Don Juans zu berauben.« Und als sie einige Jahre hernach dem nämlichen würdigen Seelenarzt als verheiratete Frau Kommerzienrat ihre Osterbeichte ablegte, schloß ihr Schuldbekenntnis nicht weniger bitter: »Was der geweihte Zölibatär an mir begonnen, hat der Weltmensch in kirchlich eingesegneter Ehe an mir vollendet; wenn meine Phantasie vergiftet ist, werfen Sie den Fluch nicht allein auf das sündige Weib, dem Gott in Zukunft gnädiger sein möge, als er's in der[93] Vergangenheit gewesen. Wenn der Himmel das Herz eines Weibes verderben will, gibt er sie einem thöricht schamlosen Manne zur Gattin.«

Einmal, in einer Plauderstunde mit Bertha, als diese die Künste der Männer analysierte, ernsthafte und scheue Frauen zu willigen Werkzeugen sinnlicher Gier zu machen, fand Leopoldine das harte Wort: »In der Liebe scheinen Götter und Bestien Brüder zu sein. Und da soll ein Weib seine Ehre wahren!«

Da wurde Bertha Feuer und Flamme. »Weißt Du, Leopoldine, wer meiner jugendlichen Unerfahrenheit in bezug auf den Umgang mit dem männlichen Geschlecht eigentlich die unverschämteste Aufklärung gegeben hat? Du wirst's nicht glauben: ein Geistlicher im Beichtstuhl, ein fetter Mönch in den Dreißigern. Ich habe niemals in den verrufensten Büchern so schamlose Dinge gefunden wie ich sie als frühreifes fünfzehnjähriges Mädchen im Beichtstuhl zu hören bekam. War das ein Lasterkasten! Als ich alle seine anzüglichen Fragen, die mir das Blut in die Wangen trieben und mich furchtbar aufregten, mit gutem Gewissen verneint hatte, sagte der Mensch, das sei keine Tugend, ich soll's erst einmal probieren – und erst wenn ich aus Erfahrung[94] die wunderbar süße Sünde und das unbeschreibliche Vergnügen, das der geschlechtliche Umgang gewähre, kennen gelernt und dann in Zukunft jedem unerlaubten Genusse mit klarem Bewußtsein aus dem Wege ginge, dann erst könnte ich mich der Tugend rühmen. Unerfahrenheit sei keine Tugend. Hierauf beschrieb er mir, wie ich mich auf diese sündige Lustbarkeit zunächst auch ohne Liebhaber genügend vorbereiten könne. Es war ganz unglaublich. Zuletzt bot er sich in unzweideutiger Weise selber an, diese meine Vorstudien zu leiten; ich solle ihn einmal besuchen ... Ich habe noch ein in Goldschnitt gebundenes Büchlein, ›Die Nachfolge Christi‹, das er mir zum Andenken an einen Besuch geschenkt hat. Die Keuschheit der Frommen, das wußte ich seit jener Zeit, ist ein unglaubliches Ding ... Nein, dieser Pater Evorist ...«

»Was kann noch Großes an der Keuschheit liegen, wenn selbst im Ehestand Schamlosigkeiten als Pflichterfüllungen honoriert werden? Schweigen wir darüber. Auch ich gedenke mit Schaudern eines Kusses von heiligen Lippen ... Ich gedenke mit Schaudern meiner Hochzeitsnacht ... Soviel Schmutziges selbst am Erhabensten.[95] Die Ehe hat mich verdorben ... Übrigens bist Du zu sehr verleutnantet –«

Frau Leopoldine hatte ins Schwarze getroffen. »Verleutnantet« war eine ganz richtige Bezeichnung der neuesten Geschmackslage ihrer Freundin. Vorausgegangen war die Epoche der »Vermalerung«. In den Ateliers junger, genialer Pinselführer ging's so ungebunden und anregend zu! Da war so viel zu sehen – und so Überraschendes. Und es war gar nicht schwer, mit diesen flotten Kunststadtgenossen in Verkehr zu kommen. Mit einigen mußte man sich freilich in acht nehmen, denn sie hielten nicht reinen Mund und brachten böse Reden in Umlauf. Der Herr Schnürle zum Beispiel war so einer. Da hatte man gleich einen Spitznamen weg. »Madame Voulezvous« hatte der Undankbare eine ehemalige gefällige Freundin getauft – und der Titel war ihr lange hängen geblieben. Bei einem andern gab's so schwüle, aufregende Sachen, mythologische Tiermenschen von unerhörter Leidenschaft, Zentauren, halb Mann, halb Roß, von zermalmender Muskelkraft. Einmal malte er ein Zentaurenpaar: das Männchen mit dem Leibe eines schwarzen Hengstes, das Weibchen mit dem Leibe einer isabellenfarbigen Stute; mit den nervigen[96] Menschenarmen hielten sie sich den Oberleib umschlungen, während sie sich hinten aneinanderpreßten, daß die Flanken krachten, und mit hochgeschwungenen, sausend die Schenkel und den Rücken sich peitschenden Schweifen trabten sie im Abendlicht am Ufer hin, der violetten, schäumenden Meeresbrandung entgegen. Es war ein kolossal ergreifendes Bild, eine Verkörperung und zugleich poetische Verklärung unerhörter natürlicher Liebeskraft. Hätte nur der Maler nicht die Indiskretion begangen, seiner Zentauren-Stute die Züge seiner Freundin Bertha zu leihen! So kam's zum Bruch, denn Bertha mußte noch obendrein das Bild um teures Geld erwerben, damit es nicht in fremde Hände gerate. Später wandte sich der Maler einer zahmeren Gattung zu und hatte den Vorteil, von dem König mit einträglichen Bestellungen für das Chiemseeschloß ausgezeichnet zu werden. Bertha hatte inzwischen die Geschmackswandlung vom mythologischen Zentaurentum zum modernen Heldentum der leichten Reiter mit den malerischen grünen Uniformen vollzogen. Sie war »verleutnantet«, wie Frau Raßler sagte.

»Verleutnantet ist schön gesagt,« lachte Bertha frech auf, daß es wie hündisches Bellen klang.[97]

Bertha schwor in der That damals nicht höher, als auf die »feschen Leutnants«, die stets zu allem zu haben und viel ritterlicher seien, als die losen Maler.

»... Ja, zu sehr verleutnantet, um mein Ideal von Liebe und Keuschheit zu begreifen.«

»Ideal! Mich trifft der Schlag. Wo hast Du denn diese Merkwürdigkeit aufgegabelt? Vielleicht als Empfangsdame in der photographischen Anstalt von Albrecht, wo der verrückte Attenkofer als Cerberus Deine Keuschheit bewachte?«

Diese Anspielung gab der Plauderstunde eine böse Wendung. Leopoldine brach den Verkehr mit Bertha ab. Erst nach monatelangem Bemühen gelang es der letzteren, die alten Beziehungen allmählich wieder anzuknüpfen.

Wenn man bei Frau Leopoldine Raßler Sonnenschein in schlechtes Wetter verwandeln wollte, brauchte man sie nur an jene voreheliche Epoche, die empfindlichste in ihrem Leben, zu erinnern. Auch hier barg sogar für ihren nächsten Bekanntenkreis die Empfindlichkeit Leopoldinens ein ganzes Nest von Unerklärlichkeiten. Was lag hier eigentlich unter der Decke? Niemand wußte es. Leopoldinens Mutter war gestorben, mit der Theaterlaufbahn ging es nicht vorwärts,[98] ein mißratener Bruder hing ihr an der Geldtasche, plötzlich war sie vom Schauplatz verschwunden, dann tauchte sie als Empfangsdame im photographischen Salon der berühmten Albrechtschen Anstalt auf: das war die äußere Reihenfolge ihrer Lebensthatsachen, deren innerer Zusammenhang dem profanen Blick verschlossen blieb.

Bei Albrecht hatte der verwitwete Kommerzienrat Raßler Leopoldine kennen gelernt und zur Überraschung aller die Gunst der rätselhaft stolzen und schönen Empfangsdame in so hohem Maße gewonnen, daß sie dem häßlichen Manne in die Ehe folgte als zweite Frau. Natürlich sah die sittsamliche öffentliche Meinung der Schmierblätter, sowie die Klatschsucht der Freunde und Bekannten und sonstiger Maulaffen und Frechlinge, die ihre Nase in alles stecken, in diesem Ereignis nur eine unerhörte Schmutzerei. »Sein Reichtum hat sie verlockt; sie hat nicht ihn, sondern seinen Geldsack geheiratet; sie hat sich wie eine Dirne ihm verkauft,« deutelten die braven Tugendbolde. Der Kommerzienrat Raßler und die Exkomödiantin Klebnikow! Alle Wetter! Das ist ja ein wahres Ereignis! Natürlich war's ein Ereignis im Leben zweier Menschen, die für[99] ihr Handeln in Herzensangelegenheiten nur sich selbst verantwortlich waren. Was ging das die andern an? Gar nichts. Aber eben weil sie's gar nichts anging, stürzten sie sich um so gieriger darüber her und ließen die bösen Zungen weit aus den Mäulern hängen. »Der Raßler, dieser dicke Schweinehund, na, man kann sich's denken ...« – »Und sie erst! Natürlich sie!! Diese durchgewichste Person; wenn nur die Hälfte von dem wahr ist, was man über sie hört, ist's stark genug ...« – »Nun kann sie ihre schönen Arme bis an die Schultern in die Geldsäcke stecken.« »Geld war ihr die Hauptsache; man weiß ja, wie diese Frauenzimmer sind.« »Und er, dieser alte Troddel, statt ein gut bürgerliches Mädchen zu nehmen und glücklich zu machen, wirft seinen Reichtum dieser Abenteurerin nach ...«

»Und Du hättest sie nicht – anders haben können?« fragte der cynische Neffe den Onkel Raßler.

Statt dem Frager mit einer Ohrfeige zu antworten, obwohl's ihm in der Hand zuckte, erwiderte Raßler fast beschämt: »Nein, um keinen Preis der Welt.«

»Unglaublich.«[100]

Wäre dieser Neffe nicht selbst in jeder Faser ein moralischer Lump gewesen, hätte er sein »Unglaublich« nicht über die Zunge zu bringen vermocht. Er erinnerte sich sehr gut, daß er und einige seiner glänzend ausgestatteten Kameraden von der männlichen Demimonde vergebens das Rasendste an verführerischen Angeboten geleistet hatten, um sich die stolze Leopoldine Klebnikow willig zu machen oder wenigstens ihre Zusage zu einer heimlichen Partie zu erreichen, die unter der Leitung eines virtuosen Impresario zu der ersehnten Orgie auswachsen konnte. Der biedere Neffe hatte mit seinen Spießgesellen von der Jeunesse dorée – vergoldete Jugend zu Deutsch, was wiederum mit übertünchten Gräbern oder mit Brokat drapierten Spucknäpfen zu übersetzen wäre – eine Wette eingegangen, bis zum nächsten Vollmond die Widerspenstige so gezähmt zu haben, daß sie ihm aus der Hand frißt. Das waren seine eigenen Worte. Nachdem er seinen Schädel, der schon anfing, vielversprechende Spuren von Kahlköpfigkeit in seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahre zu zeigen, mit allerlei Plänen zu diesem Handstreich gemartert hatte, flüsterte ihm ein Kamerad den Gedanken ein, sich als Photographenlehrling[101] ins Albrechtsche Atelier aufnehmen zu lassen, was ja um so unauffälliger geschehen könne, als die Ausübung der Photographie mehr und mehr als Sport auch von vornehmen Weltbummlern betrieben werde. Diese stundenlange unmittelbare Nähe, besonders in der Nacht, wo mit elektrischem Lichte gearbeitet wurde, müßte doch die günstigsten Gelegenheiten schaffen!

Es half nichts. Bis zum nächsten Vollmond hatte der improvisierte Photographie-Dilettant zwar ein sehr stilvolles Samtkostüm, welches alle seine männlichen Reize eines leicht angefetteten, rosigen Blondins von mittlerer Gestalt farbig und plastisch hinreißend zur Geltung bringen sollte, abgenützt, allein sein Kriegsplan hatte sich vollkommen wirkungslos erwiesen. Zum Teil aus Ärger über den Mißerfolg und die verlorene Wette, zum Teil aus Geldverlegenheit, da der Onkel plötzlich das Portemonnaie verlegt hatte, ließ sich der rosig-blonde Neffe von einer reiselustigen Dame als »Mädchen für alles« nach Paris anwerben, wo er sich mit besseren Erfolgen in allerlei Photographie-Sport ausleben konnte. Als er nach zweijährigem Pariser Aufenthalt wieder in den Kreis der vornehmen männlichen Demimonde Isarathens zurückkehrte, war er zwar[102] ein vollendeter Kahlkopf, aber auch ein vollendeter Photograph geworden. Nachdem ihm das Hans seines kommerzienrätlichen Onkels auf Betrieb Leopoldinens bald nicht weniger fest verschlossen wurde als es die kommerzienrätliche Geldbörse bereits war, sah der angenehme Neffe aufs neue Holland in Not – und rasch entschlossen nahm er die Hand und das Vermögen eines dummen und verliebten Bürstenbinderstöchterchens – Schwiegerpapa war k. Hoflieferant – und gründete sich, um endlich doch auch geschäftlich etwas Rechtes vorzustellen, ein eigenes photographisches Atelier, das von seinen ehemaligen Freunden viel besucht und mit der hübschen Bezeichnung »Amor und Psyche oder zum photographischen Damensport« bald in Schwung gebracht wurde.

Der Lebemann a.D., wie er sich im Kreise seiner ehemaligen Spießgesellen und Klubfreunde mit fader Selbstgefälligkeit nannte, spielte sich jetzt auf den Künstler-Erwerbsmann hinaus, um seinem knickerigen Onkel zu imponieren.

An allen Hauptstraßenecken Münchens prangten seine photographischen Musterbilder in reichgeschnitztem Rokokorahmen. Als Spezialität pflegte er das Kostümbild, weil er mit richtigem[103] Instinkt die Kunststadtkomödie der vornehmeren und reicheren Lebenskreise als ergiebiges Feld erkannte, wo die Pfiffigkeit erntet, was die Eitelkeit säet.

Die Frauen und Töchter der Großbräuer und Großhändler und Bankiers wollten um die Wette mit den Frauen und Töchtern der berühmten Maler, mit den Aristokratinnen und Theaterprinzessinnen im Glanze künstlerischer Darstellung ihre Leibesschöne zur Schau tragen. Um sich den Anschein regsten Kunstinteresses und lebendigen Schönheitsgefühls zu geben, genügte es ja bei der zunehmenden Versumpfung echten Kunstgeistes und der Neigung zu leerem Maskenprunk, die großen malerischen Vorbilder der Renaissance zu modischen Toilettestücken karnevalhafter Schaustellungen zusammenzuflicken. Diese herabwürdigende Veräußerlichung der Kunst zum wesenlosen Scheine gelang den Damen der Geldsack-Aristokratie im Bunde mit den Belustigungs-Malermeistern ganz vortrefflich. Zwar protestierte die Natur durch den Schnitt der Alltagsgesichter und den Umfang der oft schwer zu bändigenden Fülle und Plumpheit des Leibes gegen diese renaissanceliche Kunstaffenkomödie, allein der Zug der Mode war stärker, als die[104] Einsprache der Natur. Und dieser Zug der Mode war es, dessen sich Raßlers Neffe als Kunstmodephotograph so gut zu bedienen wußte, daß sein Geschäft bald ein blühendes wurde, jeder Konkurrenz zum Trotz.

Bei aller Befriedigung wurmte ihn nur eins: daß Frau Kommerzienrat Raßler sich immer noch wehrte, seiner Schönheitsgallerie sich einverleiben zu lassen. Mit einer ihm unerklärlichen Beharrlichkeit nahm sie von seinem photographischen Aufschwung nicht nur keine Notiz, auch als er ein neues Atelier in der Quaistraße neben dem kommerzienrätlichen Hause eingerichtet hatte, sondern ignorierte ihn auch vollständig, als er mit unzweideutiger Aufdringlichkeit sich in ihren Mittwochs-Gesellschaftsabenden einstellte.

»Ein rätselhaftes Weib,« murmelte er, »aber der Teufel soll mich holen, wenn ich sie nicht dennoch auf meine Platte zwinge.«

Der Höllenzwang versagte seine Wirkung. Auch den Onkel bekam er nicht vor sein Objektiv, so sehr er ihn umschmeichelte.

»Aber bester Onkel, bei Albrecht hast Du Dich neunundneunzigmal in allen erdenklichen Posen abkonterfeien lassen und Du bist inzwischen wirklich nicht häßlicher geworden ...«[105]

»Ja damals!« grunzte der Kommerzienrat und rieb sich die Glatze.

»Bockbeinige Bande! Der Teufel soll ...«

Vorläufig begnügte sich der durchlauchtigste Höllenfürst, seinen Schwanz in die Raßlerschen Mittwochsabende zu stecken und die schöne Gesellschaft zu sprengen. Ton und Formen des Umgangs waren nach und nach bedenklich ungezwungen geworden. Es riß eine Gemütlichkeit ein, die nichts Arges darin finden wollte, wenn ein Herr Künstler hinter dem Fenstervorhang sich handgreiflich von der Modellfähigkeit einer Dame für sein neuestes Venusbild überzeugen wollte, oder wenn sich eine üppige »höhere Tochter« in höheren Semestern in den kleineren Salon zurückzog und sich auf das Ruhebett warf, während ein Herr Piano- oder Geigen-Zauberer vor ihr auf dem Teppich kauerte und geeignete Teile ihres flott hingegossenen Leibes als Tastbrett für virtuose Fingerübungen benützte.

Frau Raßler erlaubte sich zwar, ihren Gatten mit unmutsvollen Bemerkungen auf diese Exzesse künstlerischer Phantasie aufmerksam zu machen, fand aber wenig geneigtes Gehör.

Das mache der Liebe kein Kind, meinte er[106] lachend, und ein vornehmes Haus in der Kunststadt München sei kein Kloster; es sei ihm erzählt worden, daß es in den berühmten Soireen der Baronin Paurexins, wo auch hauptsächlich Künstler verkehren, und an den Donnerstag-Abenden des Akademieprofessors Franz v. Kraxelheim noch viel bunter zugehe. Das sei nun einmal der herrschende Ton. Es wäre doch lächerlich, sich über Scherze zu skandalisieren, welche bei den feinsten und gebildetsten Herrschaften ganz anstandslos passieren. Gegen ernste Unzukömmlichkeiten würde er der Erste sein sich aufzulehnen. Man dürfe sich nicht in den Ruf der Spießbürgerlichkeit bringen, zumal bei den Gelehrten und Künstlern immer noch die Neigung bestehe, die kaufmännischen und industriellen Inhaber der modernen Million unrühmlich zu behandeln, fast wie Menschen zweiter Klasse ...

»Sei unbesorgt, mein Leo, auch ein Geldmann wie ich versteht sich so gut aus aristokratischen Schliff und Schick wie die Herren Barone und Grafen von Habenichts und wie die großthuerischen Künstler, die ihren Bettelsack erst an unserer Kasse füllen und uns dafür ihre Ölschwarten aufhängen. Also mach's wie ich[107] und drücke anderthalb Augen zu. Ich weiß, Du amüsierst Dich doch, verstell' Dich nicht, mein Leo! Wie gesagt, so lange keine Unzukömmlichkeiten ...«

Der Herr Kommerzienrat wurde erst stutzig, als in der nächsten Woche, am Gedächtnistage seiner Hochzeitsfeier, wo ein Souper und ein Tänzchen die Lustbarkeit des Abends erhöhen sollte und der Kreis der Geladenen erweitert wurde, zahlreiche Absagen einliefen. Der freundnachbarliche Konsul Schmerold schrieb, daß er bedauere ablehnen zu müssen, geschäftliche Verpflichtungen u.s.w. ließen ihn nicht frei über seine Abende verfügen. Das war glaubwürdig. Ebenso, daß sich der Fabrikbesitzer und Handelsrichter Hans Deixlhofer damit entschuldigte, daß er der Entbindung seiner Frau entgegensehe. Die blonde Frau Deixlhofer kam ja überhaupt nicht mehr aus den interessanten Umständen heraus. Kaum eins angekommen, war schon ein anderes unterwegs. Wie die Orgelpfeifen. Und alles frisch und gesund ... Hauptsache ... Der Professor Hirneis und die Dichterin Thusnelda Wechsler dankten, weil sie zur Zeit die Zahl ihrer geselligen Verpflichtungen nicht vermehren dürften. Das waren faule Ausflüchte, offenbar.[108] Der Bankier Guggemoos, den die jüngste Gemeindewahl zur Würde eines Stadtvaters erhoben hatte, dankte, auch im Namen seiner Frau und Schwägerin, ohne sich die Mühe zu geben, seine Ablehnung zu begründen. Das war unhöflich. Der Kunsthändler Feldmann, der Goldwarenfabrikant Zwicker, der Magistratsrat Rohleder, der Oberst a.D. Gotteswinter und die Baronin Kleebach-Kilpo schickten einfach ihre Karten mit dem Ausdrucke des Bedauerns. Das war beleidigend. Was sollte das alles bedeuten?

Rasch wurden die Vorbereitungen eingeschränkt und der Tanz vom Programm gestrichen. Man wollte Unwohlsein eines Kindes vorschützen. Außer dem leichten Volk der gewöhnlichen Jourfix-Gäste waren nur fünfzehn besonders geladene Personen erschienen. Einer der Getreuen des Hauses hatte einen ungeladenen Gast angemeldet und mitgebracht: den Hauptmann a.D. Baron Max v. Drillinger.

»Die ungeladenen Gäste sind die willkommensten,« sagte der Kommerzienrat geschäftsmäßig begrüßend und führte den Baron seiner Frau zu. »Sie sind uns kein Fremder, wir[109] haben schon von Ihnen gehört ... Hier meine liebe Gattin Frau Leopoldine.«

Sie verneigte sich kühl und düster.

Vierzig Personen saßen zu Tische. Den Hauptgenuß des Abends bot der Mehrzahl der Gäste das Essen und Trinken. Alles war in Hülle und Fülle vorhanden. Der Hausherr, um sich aus einer gewissen Befangenheit zu befreien, sprach selbst den sorgfältig ausgewählten und zubereiteten Speisen und Weinen tüchtig zu und versäumte nicht, auf die Güte des Gebotenen mit Eifer aufmerksam zu machen. Auch der Kunstwert der Aufsätze und Gefäße wurde von ihm mit Nachdruck hervorgehoben. Niemand ließ sich durch diese ästhetische Beflissenheit des Kunstmäzens den Appetit verderben. Baron Drillinger kam der auffallend stillen und nach Innen gekehrten Hausfrau gegenüber zu sitzen; an seiner Seite saß der Schauspieler Geiling und die pikante Forstmeisterswittwe Bertha Hohenauer, geborne v. Starkloff (sie versäumte nie, bei Vorstellungen diesen genealogischen Vermerk passend anzubringen).

Drillinger sah an diesem Abend sehr interessant aus; seine dunklen Augen leuchteten in schwärmerischem Glanz aus dem auffallend[110] blassen Gesicht. Es war etwas Weiches, Elegisches in seinen Zügen, etwas Wälsches fast, mit der fröhlichen Derbheit der urbajuwarischen Bierköpfe verglichen, deren es heute einige ältere Musterexemplare an der Raßlerschen Tafel gab. Eigentlich fand er auch gar keinen Gefallen an dieser Schmaus-Gesellschaft. Er war da hereingekommen wie der Heide Pontius Pilatus ins christliche Glaubensbekenntnis. Am Nachmittag hatte er ein zärtliches Stelldichein absolviert mit dem jungen, tollen Weibchen des pensionierten Generals Roller, genannt Rollmops, der freundlich gesinnten Hälfte seines ehemaligen Busenfeindes. Brigitta hatte Wind davon bekommen – und wie gewöhnlich die Schalen ihres gerechten Zornes über das Haupt des argen Sünders ausgegossen. Wie gewöhnlich machte der böse Max die Miene der gekränkten Unschuld zu dieser altjungferlichen Strafpredigt und suchte dann durch allerlei scherzhafte Abschwenkungen den Sinn der Alten auf gemütlichere Wege zu lenken. Zum Beispiel mit dem parodistischen Bibelspruch: »Hasse deinen Nächsten und liebe sein Weib wie dich selbst.« Oder: »Sei unterthan, deinen Vorgesetzten, und sage nicht nein, wenn die Generalin ja sagt.« Oder: »Du sollst dem[111] Ochsen, der kommandiert, nicht das Maul verbinden, aber seine Hörner zu vermehren, ist erlaubt.« Und dergleichen Sündhaftigkeiten mehr. Diesmal jedoch mit einem nicht gewöhnlichen Mißerfolg. Und so war er froh, als Erwin Hammer zufällig Sukkurs brachte. Nur der Vorschlag behagte ihm nicht, sich als blinder Passagier mit zu Raßlers kutschieren zu lassen. Diese Leute interessierten ihn ja gar nicht!

Und jetzt saß er doch da! Er sprach wenig und bemühte sich mit der gefälligen Grazie eines erprobten Weltmannes und Beobachters zuzuhören. Seine Ohren waren zwar heute nicht von besonderer Schärfe, doch entging ihm kein Wort, als Bertha Hohenauer dem Schauspieler zuflüsterte: »Wenn Du das Glück siehst, halt's fest; dies ist die Summe aller Weisheit zum Glücklichsein.«

Dieser Spruch bildete den ganzen Abend das Leitmotiv seiner gemischten Empfindungen. Als nach aufgehobener Tafel ein wenig musiziert wurde und nach einigen künstlerischen Momentsphantasieen auch eine Dilettantin ein bischen à la Liszt rhapsodiert hatte – die Mehrzahl der Herren that sich mittlerweile im Rauch- und Spielzimmer gütlich – setzte sich auch Baron[112] v. Drillinger leise an das Klavier und wagnerisierte in gedämpften Akkorden Götterdämmerungsmotive. Da traf ihn zum erstenmal einer jener rätselhaft hellen Blicke Leopoldinens wie ein Blitz aus einer schwarzen Wetterwolke. Dann plätscherte der Regen der Unterhaltung in hastigem Getröpfel ringsum hernieder und Frau Raßler war wieder verschwunden. »Wenn Du das Glück siehst – – ah bah!« machte Drillinger, harpeggierte einen verminderten Septimenakkord über die Klaviatur hin, daß die Töne harfenartig verklangen, matt und matter, wie ersterbende Herzschläge. Er erhob sich langsam vom Stuhle. Niemand achtete darauf. Man war pianinomüde. Die Maultrommel, ah ja, besonders auf der Damenseite; wie wurde da Wahrheit und Dichtung aus dem Leben der lieben Mitmenschen von gestern und heute flink in Noten gesetzt und durch alle Tonarten gepeitscht! Im Ganzen schien die gesellige Stimmung flau. Drillinger lehnte noch am Pianino und ließ seinen Blick über die schwatzenden Gruppen in dem gelben Salon gleiten. Er kam sich immer noch eigentümlich fremd, fast verschüchtert in dieser Umgebung vor. Was mußte ihn aber auch Erwin Hammer da herein schleppen, um ihn[113] hier stehen zu lassen wie einen Marterstock! Ja, wie einen Marterstock! Drillinger mußte lächeln über sich selbst: wie war ihm nur dieser komische Vergleich in den Sinn gekommen? Ein Marterstock oder kurzweg ein »Marterl«, die frommnaive Bildsäule, welche das Landvolk im einsamen Feld oder Hochgebirg an der Stelle errichtet, wo ein armer Mensch verunglückte durch Absturz, Blitzschlag ... Spaßig, was die Phantasie für Sprünge macht. Er hier ein Marterl ... Blitzschlag ... Es ist zu dumm. Alle Wetter, jetzt eben ging die seltsame Frau wieder an ihm vorüber, diesmal gesenkten Blickes, wie eine trauernde Walküre, wie eine Brunnhilde, der ein unsichtbarer Schicksalsmund die Gottheit von der Stirn geküßt ...

Und hinter ihr drein watschelte der Kommerzienrat. Nein, der hatte nichts Wotanhaftes. »Leo, so hör' doch, Leo!« Frau Leopoldine hörte nicht; sie war in einer Gruppe von Damen verschwunden. Der Kommerzienrat war pustend mitten im Salon stehen geblieben, hilflos, ratlos, mit einem dumm-verlegenen Ausdruck im feisten Vollmondsgesicht. »Leo, Le ...« Da erblickte er den Baron einsam am Klavier.[114]

»Sie haben famos gespielt, Herr Baron; scheinen in allen Sätteln gerecht, hehehe?«

»Die Kunst ist oft ein gar zahmer Klepper, Herr Kommerzienrat, da gehört nicht viel Mut dazu, das heißt, zuweilen nichts als ein gewisser Mut.«

»Schade, daß unser berühmter Tastenschläger heute nicht gekommen ist, der geniale Friedberg, ein ganz junger Mensch, aber von einer unglaublichen Verwegenheit auf seinem Instrument. Der haut Ihnen das Zeug herunter ... Sie kennen ihn nicht?«

Drillinger verneinte lächelnd.

»Er hat meinen Flügel neulich so verarbeitet, daß ich ihn zur Reparatur fortgeben mußte; das Pianino ist nur als Lückenbüßer da. Jüngst hat er meiner Frau vorgespielt was die Isar rauscht. Alles durcheinander, Trauermärsche und Hopswalzer. Besonders in der Tanzmusik ist er unwiderstehlich. Ja, wenn der da wäre und loslegte, da sollten Sie einmal die Damen sehen, keine ist mehr zu halten. Das Frauenzimmervolk, Sie kennen es ja, ganz unberechenbar, hehehe! Ein Rattenfänger auf der Bildfläche – und weg ist's. Na, das macht der Liebe kein Kind ... Apropos, Bildfläche: Sie müssen uns[115] einmal am Tag die Ehre schenken und meine Bildergallerie betrachten.«

»Mit Vergnügen, Herr Kommerzienrat.«

»Wollen Sie nicht ins Rauchzimmer kommen? Wir schwatzen uns hier die Kehle heiser. Ich habe da drin ein exquisites Kraut, auch einen feinen Tropfen dazu. Die Herren qualmen und politisieren, was Zeug hält. Die soziale Frage wurde schon wieder zum ixtenmal gelöst. Kommen Sie doch.«

Drillinger war zwar heute weniger denn je aufgelegt, sich von Hinz und Kunz politische Kannegießereien vorreden zu lassen. Immerhin, dachte er; mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. Und da ihn das Ewigweibliche ausnahmsweise einmal gar nicht lockte ...

Der Kommerzienrat schielte noch einmal suchend nach Leopoldine in den Salon zurück. »Kommen Sie, Herr Baron!« Er führte ihn durch einen kleineren Salon, wo zerstreute Gruppen jüngerer Leute drauflos schwadronierten, in das Rauchzimmer. War das dort nicht der Schauspieler Geiling, der sich mit der verliebten Wittwe durch die Portière drückte? Drillinger erhaschte nur noch flüchtige Umrisse des verschwindenden Pärchens. Unbekannt mit[116] der Einteilung der weitläufigen Wohnung und den Gewohnheiten ihrer Benützung, vermochte er nicht zu erraten, wohin sich die Witwe mit ihrem Galan gewandt, um in trauter Ungestörtheit die »Summe aller Weisheit zum Glücklichsein« zu ziehen. Ein anderer Gast, der sich gut auskannte, der Maler Schnürle, eine gallige Natur und ein unermüdlicher Spürhund, hatte mit dämonischer Freude die Davonschleichenden aus seinem Observatorium in der Fensternische beobachtet. Dem Komödianten war er schon lange aufsässig und der geborenen Starkloff war er aus allerlei Ursach auch nicht grün. Hollah, diesmal gilt's, dachte er, und diesmal werden die sauberen Schliche aufgedeckt ... Er schlängelte sich leise hinaus ...

Schon drohte im Bereiche der Damen der Geist der Unterhaltung zu verflüchtigen; die boshaften Gespräche erlahmten, die ungeduldigen Füßchen trommelten zum Aufbruch, es war heute offenbar nichts mehr los. Da hieß es plötzlich: »Friedberg wird noch kommen! Friedberg ist da!«

Hui dada, hui dada, dideldumdei –

»Liebste Frau Kommerzienrat,« röhrte die höhere Tochter in den höheren Semestern,[117] »Friedbergchen muß uns was Lustiges aufspielen, damit wir doch noch ein wenig tanzen können. Sie müssen erlauben ... Wir können nicht mehr an uns halten ... Unsere Beine sind schon den ganzen Abend in Aufregung ... Sehen Sie dort den Herrn Leutnant, der ist schon ganz weg ... Bitte, bitte ... Tanzen ist ja Gottesdienst; der König David hat vor der Bundeslade hergetanzt ...«

Hui dada, hui dada, dideldumdei –

Einige ältere Herren flüchteten vor dem Tanzrummel aus dem gelben Salon in das Rauchzimmer und da sie auch dies schon überfüllt fanden, in den Billardsalon. Hier hatte der sogenannte Wunderdoktor Wendelin Wamperl, seines Zeichens Rechtsanwalt, dessen Schnurrbartenden wie Pfropfzieher ausgedreht waren, eben den Queue auf das Billard geworfen und einer Gruppe Herren, welche, das Weinglas in der Hand, schlechte Witze über einen neuesten Ehebruchskandal rissen, voll sittlicher Empörung zugerufen: »Und ich bin dafür, daß jeder Mann und jedes Weib, auf Ehebruch ertappt, mit Kastrierung bestraft wird!«

»Gewiß, Untreue ist Infamie, sofern man nicht selbst den Genuß davon gehabt hat,« sagte[118] einer aus der Gruppe mit Beziehung, ein sonderbar gestalteter Heiliger, dessen Nasenflügel aufgebläht schienen, als wären sie mit einer kitzelnden Prise Schmalzlertabak gefüllt, während der hochgezogene Nasenrücken und die gefältelte Nasenwurzel den Eindruck eines permanenten Niesreizes machten. Wer dieses gespannte Gesicht ansah, war versucht, immer gleich Helfgott zu sagen. »Da muß ich doch bemerken, daß die tonangebende Presse den Fall viel milder beurteilt hat, als der gestrenge Herr Doktor.«

»Die Presse,« höhnte Wamperl, »diese babylonische Hure; das muß ich als ehemaliger Herausgeber einer Zeitung doch besser wissen, wie so etwas gemacht wird. Milde Beurteilung! Da hat die Bestechung eben nicht bis zum Schweigegeld gereicht.«

»Doktor Wamperl hat Recht: gegen die zunehmende Zerrüttung des Ehelebens müßte mit den stärksten Strafen vorgegangen werden. Die Ehe ist die Basis von allem –« bemerkte ein Dritter.

»Natürlich,« zischelte der gereizte Nasenflügler – »so sehr die Basis von allem, daß kein anständiger Mensch mehr sich damit einlassen[119] mag und das Junggesellentum von Jahr zu Jahr zahlreicher wird. Fragen Sie doch unsern bewährten Statistiker Parklas!«

»Junggesellentum?« fuhr Doktor Wamperl auf, »sagen Sie doch richtiger die männliche Halbwelt. All' diese biederen Junggesellen sind zu haben, wenn eine holde Sirene lockt. Lauter Kuckuckseierfabrikanten, wenn's aufs Apropos ankommt. Biedermänner, die, wenn sie zum Verführen zu faul, nichts sehnlicher wünschen, als verführt zu werden. Und diese Mustermenschen schimpfen auf den Ehestand und auf die Weiber und die Dirnen – und sie selber schlupfen drin herum wie die Maden im Käslaib.«

»Bravo, Herr Doktor!« rief der Kommerzienrat beifällig und schob dem Baron v. Drillinger zuvorkommend einen Rohrsessel hin, während er gleichzeitig einem vorbeieilenden Diener bedeutete, einen frischen Trunk zu bringen.

Der mehr und mehr gereizte Nasenflügler: »Sie gebrauchten den Ausdruck männliche Halbwelt, Herr Wamperl; das wäre ein Thema für Ihre Feder. Schreiben Sie doch einen tief empfundenen Artikel darüber.«

Bei diesen Worten erschien Erwin Hammer geräuschlos unter der Thür.[120]

»Wofür? Für die Tagespresse?«

»Es stehen Ihnen doch die angesehensten Blätter offen.«

»Angesehene Blätter gibt's nur im physischen, nicht im moralischen Sinn. Ich danke. Ich verachte die Presse für das, was sie nicht schreibt und noch mehr für das, was sie schreibt. Ich verachte sie grundsätzlich.«

»Oho!« von verschiedenen Seiten.

Und Doktor Wamperl mit explosivem Cynismus: »Ja, ich verachte sie. Eher pflanze ich coram publico einen Kaktus auf dieses Billard, als daß ich wieder die Feder für einen Zeitungsartikel anrühre ...«

»Probe machen!« riefen einige Übermütige.

»Bitte, meine Herren,« fiel der Kommerzienrat ein, »das Kaktuspflanzen ist unstreitig ein gesundes Vergnügen, aber mein Schleifersches Billard gebe ich nicht dazu her. Haben Sie eine Ahnung, was dieses Möbel gekostet hat? Das wär' ein teurer Blumentopf, mein Lieber.«

Erwin Hammer war leise zu Wamperl getreten und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich komme soeben aus dem Museum; großartige Lobeshymne über Ihre jüngste Verteidigung gelesen.«[121]

»In welcher Zeitung?« fragte dieser ebenso leise wie gespannt.

»Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, im Nürnberger Anzeiger oder in der Frankfurter oder in der Allgemeinen. Man hat sich um das Blatt gerissen.«

»Da muß ich doch nachsehen.«

Und Doktor Wendelin Wamperl drückte sich eilig.

Erwin Hammer sah ihm spöttisch nach.

»Was ist los? Ist er beleidigt, daß er sich französisch empfiehlt?« fragte der Kommerzienrat besorgt.

»Gott bewahre,« erwiderte Hammer. »Ich gehe jede Wette ein, daß unser großer Zeitungsfeind in dieser Nacht noch alle Kaffeehäuser einrennt und alle Zeitungsständer demoliert, um einen Lobesartikel auf seine vorgestrige Verteidigungsrede aufzustöbern.«

»Und der Artikel findet sich nirgends?«

»Natürlich nicht. Ich hab' ihm den Bären aufgebunden, um seiner Eitelkeit einen Possen zu spielen. Der Gute ist so wütend auf die Presse, weil er nicht genug gelobt wird.«

»Das ist gelungen. Bravo, Herr Doktor[122] Hammer!« rief der Kommerzienrat und rieb sich vergnügt die Hände.

Hammer setzte sich zu Max v. Drillinger und entschuldigte sein Durchbrennen.

Inzwischen stellte der Diener eine Batterie schöner schlanker Rheinweinflaschen auf den Kredenztisch. Die Herren schänkten sich selbst ein nach Belieben. Der Kommerzienrat war in einen Polsterstuhl gesunken und hörte schläfrig den Auseinandersetzungen des Prokuristen der königlichen Notenbankfiliale zu.

»Jawohl, diese Entscheidung des Reichsgerichts ist eminent wichtig.«

»Welche Entscheidung?« fragte Raßler und rieb sich die Augen, vom Zigarrenrauch gebeizt. »Das Reichsgericht entscheidet so viel, daß man sich extra einen Gelehrten dafür anstellen muß, wenn man im Geschäft alles beachten will.«

»Zu dienen, Herr Kommerzienrat,« antwortete der junge Prokurist Gottlieb Nordhäuser, ein gewandter Streber, der sich mit Vorliebe den älteren, einflußreichen Kaufherren, besonders wenn sie hübsche Frauen oder heiratsfähige Töchter hatten, angenehm zu machen suchte. »Die Entscheidung lautet so,« dozierte er mit glatter, einschmeichelnder Stimme: »Hat ein[123] Bankier seinem Kommittenten den Kauf von bestimmten Börseneffekten empfohlen mit der Angabe, daß sie steigen werden, obwohl ihm bekannt ist, daß ein verhältnismäßig geringer Umsatz in diesen Effekten stattfindet und dieser geringe Umsatz hauptsächlich von ihm selbst veranlaßt ist, um äußerlich den Kurs derselben eine zeitlang auf einer bestimmten Höhe zu erhalten und somit den Leuten Sand in die Augen zu streuen, so ist er für den seinem Kommittenten durch diese schwindelhafte Manipulation erwachsenen Schaden haftbar.«

Gedämpft tönten die schmachtenden Walzermelodieen »Künstlerleben« von Strauß aus dem gelben Salon herüber und begleiteten die reichsgerichtliche Prosa, daß sie im Munde des gefälligen Prokuristen fast wie Poesie, wie eine rezitierte Romanze klang.

»Ich bewundere Ihr stupendes Gedächtnis, Herr Nordhäuser,« nickte der Kommerzienrat. »Eine sehr gute Entscheidung. Hätte ich dieselbe damals gehabt, wäre ich dem Bankier Weiler anders zu Leibe gegangen. Nun, gedrosselt habe ich den Spitzbuben, daß sein Kragen noch lange blaue Flecken zeigte, aber der Spaß kam mich doch teuer.«[124]

»Dem Kravattenfabrikanten hätte man schon längst den Hals zuziehen sollen. Immerhin hat Ihre Lektion gefruchtet, Herr Kommerzienrat. Weiler ist seitdem viel vorsichtiger geworden. An einen Finanzmann wie Sie wird er sich so leicht nicht mehr heranwagen,« flötete der Prokurist mit seiner einschmeichelnden Stimme.

Raßler fühlte sich sehr angenehm berührt, sich aus solchem Munde als Finanzmann preisen zu hören. Er drückte die Augen zu. Mit diesem freundlichen Eindruck hätte er jetzt schlafengehen mögen. Wenn nur auch Leopoldine diese sachverständige Anerkennung seiner Finanzkapazität gehört hätte! Wo sie nur stecken mag, daß sie sich gar nicht nach ihm umsieht? Er schielte nach der Thür. Diese verdammten Gastgeberpflichten ...

In der Trinkergruppe in der andern Ecke wurde die Unterhaltung immer lebhafter, seit Erwin Hammer seine schneidigen Bemerkungen den Leuten an die Köpfe warf.

»Alles ist Halbwelt,« rief er, anknüpfend an das Wort, das Doktor Wamperl zurückgelassen. »Die Kunst, die Wissenschaft, die Politik, die Finanz – ich bin so frei, auch im Hause des Gehenkten vom Stricke zu reden – überall die[125] nämlichen Halbwelt-Allüren und die nämliche Halbwelt-Moral. Diese industrielle Brutaliät, in allem nur Ware zu sehen, alles nach dem Ausbeutungsgewinn zu taxieren, ist das nicht schmutziger Halbweltsgeist? Ideale –! Wird ihr Preis nicht auch durch Angebot und Nachfrage geregelt? Haben wir nicht eure Menge ererbter Ideale, die, weil keine Nachfrage mehr besteht, jetzt als traurige Ladenhüter verschimmeln? Seht Euch doch einmal in unserer guten Kunststadt München das Zeug an, was als modernes Ideal in die Schaufenster gestellt wird, um zu prunken und zu bestechen und den Blick der Kauflustigen auf sich zu ziehen!«

»Nennt doch das Kind beim Namen und sagt einfach: der Kapitalismus! Der hat jetzt alles im Sack. Was ihm nicht dient, existiert nicht mehr. So ist es einmal. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Man fügt sich oder man fügt sich nicht.«

»Natürlich fügt man sich,« mischte sich der rotnasige Orang Utang Xaver Schwarz, Vorstandsmitglied des Hausbesitzervereins, ins Gespräch.

»Reichtum ist Ehre, Sie müssen das ja am[126] besten wissen, Herr Schwarz, zischte der Nasenflügler.«

»Ach, spotten Sie nicht über den Reichtum und lassen Sie mich mit der sogenannten Ehre aus, Herr Major!« gab Xaver Schwarz zurück. »Die Ehre! Kann ich mit der Ehre Häuser bauen? Kann ich mit der Ehre Steuern zahlen und den Staat erhalten? Kann ich mit der Ehre Geschäfte machen? Man kann von der Ehre so wenig leben als von der Luft.«

»Nun ja, da habt Ihr ja die ganze Herrlichkeit. Herr Schwarz sprach ein großes Wort gelassen aus. Alles übrige ist Lüge, im besten Fall Notlüge,« rief Hammer mit einer großen Geste.

»Der Wamperl hatte wahrhaftig so unrecht nicht.«

»Wahrhaftig nicht. Nur sollte er sich immer gleich bei der eigenen Nase nehmen und sich selber als lebendiges Beispiel zum Besten geben,« höhnte der gereizte Nasenflügler und griff nach einer vollen Flasche.

»Seine Verachtung der Presse ist einfach lächerlich.«

»Das stimmt,« bestätigte Hammer. »Nächst dem Komödianten Geiling ist in ganz München[127] kein Mensch hungriger nach Zeitungslob, als gerade er, der große Kato der Rechts- und Linksumwissenschaft, der große Ehrenretter aller Finanzspitzbuben und anderer Seeräuber.«

»Nicht so laut, der Geiling ist noch im Hause,« beschwichtigte der Prokurist, der, nachdem der Herr Kommerzienrat sanft eingeschlummert war, sich dieser aufgeregten Tafelrunde vorsichtig genähert hatte.

»Aber ich bitte Sie,« dröhnte Hammer mit rücksichtsloser Überzeugungskraft, »dieser Mensch würde nur wieder eine erwünschte Reklame für sich darin sehen, wenn wir uns hier über seine Reklame-Hubereien lustig machen.«

»Wie er sich das Trompeterkorps der Preßhusaren abgerichtet hat, das erzählt er ja gelegentlich jedem selbst, der's hören will,« versicherte der Nasenflügler Major a.D. Fabian v. Pemsl-Schwanegg mit wiegendem Kopfe.

Max von Drillinger hatte getrunken, geraucht, zugehört, – aber alles wie im Traume. Nichts gewährte ihm einen tiefen Eindruck mit folgerichtigem Zusammenschluß aller Umstände, die ganze Gesellschaft und ihr Gebahren erschien ihm so matt und blaß und ganz und gar überflüssig.[128]

»Ja, ganz und gar überflüssig,« wiederholte er halblaut und ging hinaus. »Ich will doch das Weibervolk noch einmal aufs Korn nehmen, in diesem entsetzlich abgetriebenen Revier ... Die Hausfrau schien in der That nicht übel ... Leider fühle ich mich heute so wenig aufgelegt, mich der Bestrickung dieses Weibes mit frischen Sinnen hinzugeben.«

Es bot sich ihm im Hausflur ein seltsames Bild. Frau Raßler hatte eine ältere Freundin bis zur Thür geleitet. Mehrere Herren, darunter einige bekannte Maler, umschwärmten und umwedelten sie mit Phrasen gewöhnlichster Galanterie. Stolz aufgerichtet stand sie da, mit stoischer Stirn und dem unentwegt über die Köpfe der Schmeichler hinweg wie in weite Ferne gerichteten Blick die Galanterie zu überhören. Als sie Max von Drillingers ansichtig ward, trat sie, nicht achtend der anderen, auf ihn zu: »Wollen Sie denn auch schon gehen, Herr Baron?«

Ausweichend lautete seine etwas verlegene Antwort: »Es ist so heiß hier, gnädige Frau.« Und flüsternd setzte er hinzu: »Ich leide.«

»Ich leide auch. Wer leidet nicht?«

Hatte er recht gehört?[129]

Er schwieg, denn er scheute sich, gleich den andern mit einer konventionellen Redensart zu erwidern. Das Weib traf ihn jetzt so mächtig mit dem Eindrucke ihrer hohen Originalität, daß sein Auge aufleuchtete und bewundernd auf ihr ruhte. Sie fühlte die Huldigung, die ihr in dieser stummen Sprache unbewußt und unbeabsichtigt dargebracht wurde, daß sie ihm die Kühnheit verzieh, mit der er ihre Hand ergriff und sie zum Kusse an seine Lippen führte.

Mit dieser Berührung glaubte Drillinger nicht nur die Sicherheit seines Geistes wiedergefunden zu haben, auch seine seitherige Erschlaffung schien einem kräftigeren Pulsschlag gewichen zu sein. Wie neubelebend durchdrang ihn jetzt die Nähe dieses Weibes; es war ihm, als hätte er sie in mystischer Kommunion in sein eigenes Wesen aufgenommen. Und doch trat er wieder zeremoniell einen Schritt zurück, indem er ihre Hand losließ. Ein eigentümliches Mißtrauen umwölkte seine Stirn und setzte sich lauernd in seine Augen und überschauerte kalt seine zärtliche Begierde. Wie ein Ton in eisiger Nacht zerspringt, so zerbrach das süße Sehnsuchtslocken des Herzens an dem frostigen Gedanken: »Sie ist eines anderen Weib und, wie alle, selbst im[130] Leid unheilbar schamlos, sobald man's zu teilen sich anschickt. Was schnarren und schnattern die da hinten?« Und es war ihm, als hörte er die schmutzigen Neid- und Unzuchtsreden der brünstigen Schwärmer, und als sähe er deren giftige Blicke auf sich gerichtet als auf den Erwählten des Augenblicks, den Überlisteten und vom Weibe Beherrschten ...

Klang's nicht so: »Da haben die zwei Rechten einander erraten«?

Und wieder: »Nun kann er zappeln ... Er zittert schon im Paarungskrampf ... Es ist ein Skandal, daß er sich auch da hereindrängt ... Seht die straffen Formen ihres Oberleibes, wie sie beben und sich wölben und wie der Unterleib sich einzieht und zurückweicht ... Und wie dieser Bock sie jetzt anstiert ... Ah, sie thut spröde, die Komödiantin ... Ein Bild zum malen! Das ist was für Dich, Kropfhay ... Wo ist denn der Schnürle? Das wäre sein Genre ...«

Drillinger sprach zu ihr, aber er wußte selbst nicht recht, was er sagte und wie er's sagte, denn der anderen Lasterreden, die wirklichen und die eingebildeten, drangen ihm gleich vergifteten Pfeilen ins Gehirn. »Ich will doch lieber gehen, ich bin wirklich leidend,« schloß er.[131]

Nun reizte sie's, seinen Eigenwillen zu brechen. Und wie sie so mit ihrem Widerspruch in ihn drang, da flößte sie ihm beinahe Furcht ein.

»Lassen Sie sich führen,« sprach sie, daß es wie Bitte und Gebot zugleich klang.

Er folgte ihr und trat am Ende des Ganges mit ihr hinaus auf den Balkon.

»Das ist die Feuerwerksinsel, die hochragenden Bäume da drüben, zwischen den tosenden, Wasserfällen?« fragte er.

»Wie die Böcklinsche Toteninsel. Dieses Nachtbild ...«

»Und was rauscht Ihnen die Isar dazu?«

»Ein Grablied ...«

Mit triumphierenden Mienen, den Finger am Mund, kam Schnürle aus einer Seitenthüre geschlichen und winkte den gaffenden und lachenden Gesellen. »Pst, pst, hier reift etwas!«

Kropfhay deutete nach dem Balkon. Die anderen reckten die Hälse.

»Bewahre!« flüsterte Schnürle und seine bösen Augen funkelten und kniffen sich ein, daß es wie Blitze aus der schmalen Ritze leuchtete: »Da unten – im Gartensalon. Da reift etwas Wunderschönes. Pst ... Geduld! In fünf Minuten[132] wird uns der herrlichste Skandal als saftige Frucht in den Schoß fallen.«

Und er gestikulierte in die fragenden Gesichter hinein und erschöpfte die Andeutungen mit den wüsten Zeichen seiner Geberdensprache ... Dann schlich er mit den Eingeweihten hinaus, wie ein Verschwörerchor in der Operette in den Kulissen verschwindet.

Major Fabian von Pemsl-Schwanegg fuhr mit dem weißen, kronenbestickten Taschentuch, das er um den Zeigefinger gewickelt, in die gerümpfte Helfgott-Nase und brachte endlich einen schallenden Nieser zum Ausbruch. Dann jagte er ein Glas Wein durch die Gurgel und nahm seine Erzählung wieder auf.

Erwin Hammer gähnte und steckte damit die ganze Tafelrunde an. A – i – jah! Hai – ja!

»Der Wein ist ein Erhitzer, aber kein Durststiller, eine kühle Maß Hofbräuhausbier wäre eine rechte Wohlthat. Aber der edle Gastgeber schläft den Schlaf des Gerechten. Da müssen halt wir dem gastlichen Hausregiment ein wenig nachhelfen. Diener! He!« Und Hammer gab dem kommerzienrätlichen Ganymed den entsprechenden Auftrag.

»Sehr willkommen!«[133]

Im Schwung war er hinaus. Ein Zwanzigliterfäßchen auf Eis harrte längst des Anstichs.

Xaver Schwarz brummelte. Die Hammersche Eigenmächtigkeit ging ihm wider den Strich, obwohl er selbst nach einem erfrischenden Trunke lechzte.

»Ach was, Sie alter Frömmler, thun Sie nur nicht so!« lachte ihn Hammer aus. »Man sieht's Ihnen ja an, daß Sie's nicht erwarten können, Ihr ausgepichtes Vaterunser-Loch mit edlem Hofgebräu durchzuspülen. Der Abendsegen wird Ihnen dann herausrutschen wie geschmiert. Also keine Redensarten. Die können Sie sich für den österlichen Beichtstuhl aufsparen.«

»Aber ich meine Geschichte nicht!« schrie der Major-Nasenflügler dazwischen, der immer wütend wurde, wenn er nicht loslegen konnte, »die Dichterin Thusnelda Wechsler nämlich ...«

»Ist im Weiblichen was der Geiling im Männlichen ist, oder umgekehrt, na?« fuhr ihm Hammer ins Gerede.

»Ach, du gerechter Strohsack,« lispelte der Prokurist und schlürfte eine Thräne.

»Kennen wir schon: Thusnelda war eines Tags oder einer Nacht empört, daß ein gewisser[134] Journalist ihr immer am Zeug flickte, am Dichtzeug nämlich, in seinem Schmierblättchen. Da sprach Thusnelda: Dem Kerl muß ich endlich das Maul stopfen – und sie lud ihn zum Essen ein. Aber siehe da, die Abfütterung half nicht. In ihrem Grimm ersann sie eine grausame List. Sie legte sich ins Bett und ließ den kritischen Federfuchser zu sich rufen: Das haben Sie aus mir gemacht! Ich bin halbtot – vollenden Sie Ihr Werk, wenn Sie's vermögen ...«

»Und so weiter. Das ist 'ne alte Geschichte, aber ein probates Mittel. Das Bier, das Bier! Bravo! Prosit!« rief eine speckige Stimme von der andern Seite herüber.

»Prosit!«

Fabian von Pemsl-Schwanegg würgte an seinem Ärger und that einen verzweiflungsvollen Schluck.

»Reden wir von was anderem, wenn überhaupt noch geredet sein muß. Sie kennen das berühmte Wort: Das Bier, das nicht getrunken wird, hat seinen Beruf verfehlt. Helfen wir, daß es seinen Beruf erfülle ... Wie viel Liter? ... Zwanzig? ...«

Herr von Polly, der sogenannte Bierbaron – eine dunkle Sage rannte, daß er, obzwar[135] legitimer Ministerssohn aus einem Großherzogtum à la Gerolstein, doch, durch eine Verkettung romantischer Umstände mütterlicherseits, einem Großbrau-Pascha sein edelgeborenes Dasein, sein plebejisches Bierdimpfl-Ge sicht und den Besitz ansehnlicher Bräuerei-Aktien verdanke – wackelte auf seinem krummen Gebein auch heran, sich einen frischen Maßkrug zu sichern. Er hatte sich den ganzen Abend zwischen dem Büffet und dem Damenflor im gelben Salon herumbewegt, gewohnt, stets das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Wie er seine krummen Beine auf allen Gesellschaftsböden, so hatte er seine langen Hände auf allen gastlichen Büffets, seine Glotzaugen auf allen Nuditäten der weiblichen Galatoiletten, seine langen, roten Ohren in allen Plauderwinkeln. Das Wort bekam er gewöhnlich erst zum Kehraus der Konversation, wenn es nur noch halbschlafende Zuhörer gab, denn sein Geschlapper war allen zuwider. Er vermochte überdies kaum einen Satz sprachrichtig zu bilden.

»Süffig, Herr Baron, nichtwahr? Ausgezeichneter Stoff!« nickte ihm der Major-Nasenflügler Fabian von Pemsl-Schwanegg ermunternd zu, um den Doktor Hammer zu ärgern. »Wie[136] gehen denn jetzt die Geschäfte in der Großbrau-Industrie? Sie sind doch auf dem Laufenden wie kein Zweiter!«

»Ihr könnt Euch die Kinnbacken ausrenken mit Eurem mundfaulen Geschwätz,« dachte Hammer und lachte in sich hinein, eine frische Havanna im Munde, zwischen den aufgestützten Ellbogen den nachgefüllten schäumenden Maßkrug! »Ich gebe jetzt meinen eigenen Gedanken und Träumereien stille Audienz.«

Bunter Lärm klang aus den Nebengemächern immer lauter herein.

Nachdem der Bierbaron von Polly sich den schaumtriefenden Schnurrbart abgeleckt, lümmelte er sich auf einen Rauchstuhl und zog die Schleußen seiner Kehraus-Beredtsamkeit aus: »Die bayerische Bierproduktion hat, wie man zu sagen pflegt, wieder eine beträchtliche Steigerung erfahren, was in der Hauptsache zur Folge hat, daß die Rente eine bedeutend bessere geworden ist ...«

Der Prokurist Nordhäuser nahm seinen Krug und schlich zu zwei Herren auf die andere Seite hinüber. »Wer ist denn jener melancholische Herr gewesen, der sich vorhin entfernt hat, wissen Sie, der mit den interessanten Augen?« – »Ach, Sie meinen den Baron Drillinger, den bald[137] sentimentalen, bald enthusiastischen Schwachmatikus? ...«

Der Herr Kommerzienrat wälzte sich schnarchend in seinem Armstuhl. In seiner dunklen Ecke nahm niemand mehr Notiz von ihm. Man war diese Art von abwesender Anwesenheit bei ihm gewohnt.

Der Bierredner mauschelte blumenreich weiter: »Was der bayerischen Bierfabrikation den Nimbus der Reellität, wie man zu sagen pflegt, erhalten hat, so wie auch den Stempel der Reinheit aufgedrückt hat, das ist bekanntlich das gänzliche Verbot, welchem gemäß keine Surrogate, sondern nur Gerste, Hopfen, Wasser und Hefe zum bayerischen Biere zu verwenden sind. Nichtsdestoweniger haben sich die Absatzverhältnisse im allgemeinen schwieriger gestaltet, so zwar, wenn auch, wie anzunehmen ist, daß sich der Export nach Paris nur einer momentanen Stockung, wie man zu sagen pflegt, zu unterziehen hat ...«

»O heiliger Gallimathias, nun möchte ich dir doch eine über die Schnauze ziehen,« fluchte Hammer, halb belustigt, halb geärgert über seinen Maßkrug hinweg.

»Jedoch die Bierpaläste der Münchener in Berlin, he?« feuerte der befriedigte Major-Nasenflügler[138] den Redner an. »Dieser Bier-Aufschwung im verschnapsten Norddeutschland! Die frommen Preußen thun jetzt, als kriegten sie mit dem Bier zugleich die wahre Religion ins Land ...«

»Jawohl, das ist nicht bloß die Eitelkeit unserer Großbräuer, sondern auch, weil sie die Erfahrung gemacht haben, daß ihre riesig gesteigerte Produktion nicht mehr so leicht unterzubringen ist wie früher. Wer wie ich, meine Herren, einen tiefen Einblick in den Betrieb der Großbrauereien gethan zu haben in der Lage gewesen, der wird mir beistimmen, wie man zu sagen pflegt, daß nur eine starke Erhöhung der Branntweinsteuer hierzu beitragen kann ...«

Der Maler Schnürle erschien unter der Thür, den Kopf wie suchend nach allen Seiten wendend. Dann tänzelte er auf den Fußspitzen auf den schlafenden Kommerzienrat los, rüttelte ihn und bellte ihm einige Worte ins Ohr.

»Wer wäre, wer wäre ... so dreist ... solche Unzukömmlichkeit ...« lallte der schlaftrunkene Raßler. »Mit welcher Frau? Mit meiner Frau?«

»Gleichgültig, mit welcher Frau, Herr Kommerzienrat; ein Haus, in welchem solche Dinge[139] passieren können, ist blamiert vom Keller bis zur Windfahne.«

»Branntweinsteuer, ja, ja, es gibt kein besseres Mittel gegen die Schnapspest unserer nordischen Brüder. Bier wirkt sittlich; das ist das Öl rechtschaffener Denkungsart, die unsern nordischen Brüdern auch nicht schaden kann.«

»Dann ölen Sie zunächst nur sich selbst gründlich ein, Herr Pemsl von Schwanegg und Herr von Polly,« rief Hammer aufstehend, mit einem verächtlichen Blick auf die schwefelnde Kumpanei.

»Sie werden beleidigend, mein Herr!« krähte der Herr von Polly und wollte sich gegen Hammer aufschnellen, fiel aber wieder mit einem schweren Plumps auf seinen Stuhl zurück. Er fuhr mit der Hand an seine weiße Kravatte, deren Schleife unter dem linken Ohre stand, und zerrte, als müsse er sich Luft machen, um einem Erstickungsanfall zu entgehen. Seine schmutzigen Fingerspitzen – die langen Nägel mit den tiefen Trauerrändern waren eine Sehenswürdigkeit – ließen graue Kleckse an Hemd und Kravatte zurück.

Der Major-Nasenflügler wurde grün im Gesicht vor Ärger und Wut. »Das uns? Sie[140] wollen einen Skandal provozieren, Herr Preuße? Sie meinen wohl, uns Bayern kann man alles bieten?«

Der Zank hatte den schlaftrunkenen Raßler vollends ernüchtert und auf die Beine gebracht. In seinem Gehirn schossen die Einflüsterungen Schnürles und die Schreie der anderen durcheinander. Von allen Seiten stürzten die Herren auf ihn zu. »Schaffen Sie doch Ordnung, Herr Kommerzienrat, das ist ja skandalös!«

»Was ist denn los?« gluckste er mit vorquellenden Augen und verstörtem Ausdruck. »Ich versteh' ja gar nicht ... Wo ist denn ...«

»Drunten im Gartensalon, kommen Sie nur, überzeugen Sie sich!« rief Schnürle dringend und faßte ihn am Arm, ihn fortzuführen.

Baron von Polly vertrat ihnen den Weg. Sein Gesicht flammte. »Dieser Mann da« – er deutete auf Hammer, der sich in aller Gemütsruhe eine frische Zigarre ansteckte, als wäre nichts passiert – »dieser Mann da hat den schönen Abend gestört. Er hat alle Bayern beleidigt.«

Herr Xaver Schwarz, der mittlerweile in einer andern Gruppe sein patriotisches Licht hatte leuchten lassen und eben einem bekannten Kirchturmspolitiker[141] seine Bereitwilligkeit erklärte, sich bei der nächsten Wahl in den Agitations-Ausschuß ultramontaner Wähler aufnehmen zu lassen, kam, angelockt durch den Lärm, mit aufgeblasenen Backen angestiegen. »Was? Die Preußen gegen die Bayern? Da sind wir auch noch da! Wir sind zwar alle Brüder, aber hier ehrt man unsern König nur in unsern Landesfarben!«

»Es handelt sich gar nicht um Landesfarben!« schrie ihn Polly an.

Die Verwirrung erreichte ihren Höhepunkt, als aus dem gelben Salon, wo inzwischen der Maler Kropfhay die schreckliche Geschichte mit den Worten verbreitet hatte: »Im Gartensalon ist ein Gespenst, das Shakespearesche Tier mit dem doppelten Rücken erschienen!« mehrere Damen ganz erhitzt anstürmten: »Herr Kommerzienrat, was sagen Sie dazu? Ist's wahr? Solche Dinge in Ihrem Hause? Das ist ja unheimlich!«

Andere drängten lachend nach: »Nein, es ist, unglaublich! Dieser Geiling ...«

»Alle Teufel, wo ist meine Frau? Ich versteh' ja von der ganzen Geschichte nichts!«

Thüren wurden aufgerissen und wieder zugeschlagen. Das ganze Hans schien in Aufruhr,[142] als ob das wilde Heer durch die Räume jage. Eine heiße Luft brodelte vom gelben Salon herüber mit dem Dunst von erhitztem Menschenfleisch und vermischte sich mit der raucherfüllten Atmosphäre des Billardzimmers, wo die Gasflammen unter den grünen Lampenschirmen trübe flackerten.

»Das Tier mit dem doppelten Rücken, verstehen Sie nicht, Herr Kommerzienrat? In Ihrem Gartensalon, auf dem Divan unter den Palmen?« kreischte ihm die höhere Tochter in den höheren Semestern unter die Nase.

In der Angst seines Herzens rief er aus dem Trubel heraus: »Leopoldine! Leopoldine!«

Verschiedene boshafte Bemerkungen schwirrten an seinen Ohren vorüber. Mehrere Gäste entfernten sich kopfschüttelnd ohne Dank und Gruß.

»Leopoldine! Leopoldine! Jean, schnell, suchen Sie meine Frau!« rief der unglückselige Raßler, der völlig den Kopf verloren hatte.

Die Frau Kommerzienrat hatte vorhin noch eine Weile auf dem Balkon in weltentrückter Zwiesprache mit dem Baron Max von Drillinger gestanden.

»Geht es Ihnen auch so, Herr Baron? Nach solchen Erfahrungen wird man immer unpersönlicher. Wie vermöchte man sonst im Dunstkreis[143] der Gewöhnlichkeit weiter zu leben? Was bleibt nach solchen Umwälzungen im Leben übrig, uns aufrecht zu erhalten, als der Glaube an das Ideale, an die Pflicht

»Es kommt darauf an, gnädige Frau, wie man das Leben auffaßt.«

»Und noch mehr, wie man es anfaßt.«

Anfaßt! Mit welcher verhaltenen Energie dieses Wort sich von ihren Lippen löste!

»Ob es gut oder schlecht schmeckt,« fuhr sie fort, »wir müssen mit ihm fertig werden. Das Glücklichsein scheint wirklich nicht die Hauptsache zu sein, worauf es ankommt – – oder?«

Er hätte der hohen, ernsten Frau um den Hals fallen und ihr Berthas Wort zurufen mögen: »Wenn du das Glück siehst, halt's fest, dies ist die ganze Summe aller Weisheit zum Glücklichsein.«

Er wagte nicht einmal mehr, ihre Hand zu berühren. Sein Leutnants-Skeptizismus in Betreff der Frauentugend sah sich in komischer Verlegenheit diesem verlästerten Ausnahme-Weib gegenüber. Eine Heuchlerin oder eine Heldin? Seine Empfindung entschied sich für die Heldin.

Dem Baron wurde es nicht allzu leicht, in der Nähe einer schönen, gesunden Dame seine[144] Empfindung aus diesen abstrakten Ton praktischer Heiligkeit zu stimmen, zumal in einer Umgebung wie sie in diesem Augenblick der einsame Balkon des Raßlerschen Hauses bot: hinter sich die verführerischen Klänge Straußscher Walzer, nach deren wollüstigen Rhythmen verschlungene Menschenpaare sich im Takte wiegten, Männlein und Weiblein Brust an Brust; vor sich die rauschende Isar, etwas rechts die Feuerwerksinsel, wo der kleine, dicke, originelle Heinrich Burg haust, der täglich um die nämliche Stunde mit seinem tief ins Gesicht gedrückten Schlapphut wie ein wandelnder Champignon über den Steg der Überfälle schreitet, um in geheimnisvollen, zwischen Büschen versteckten Laboratorien in Gestalt von alten, verwitterten Bretterhäuschen seiner pyrotechnischen Zauberkunst obzuliegen; links auf der jenseitigen Uferhöhe das phantastische Gebäude des Maximilianeums, hinter dessen luftigen Flügeln soeben der Mond aufging und die Bogenhallen mit seinem silbernen Glänze erfüllte; über sich den tiefdunkelblauen Nachthimmel mit dem Kranze seiner goldenen Sterne ... Und eine Luft fächelte von diesem Himmel mit seinem lächelnden Sternenschein hernieder, so frühlingslind und rein und seltsam erregend.[145]

Die Frau Kommerzienrat lud ihren Gast ein, mit ihr noch einen Gang in den eilte Stiege tiefer gelegenen Gartensalon zu machen. Dort pflege sie oft dem Getöse der Gesellschaftsabende auf einige Augenblicke zu entrinnen. Es sei ein traulicher Zufluchtswinkel, ein buen retiro, dem die lärmfreudigen Gäste freilich wenig Geschmack abgewännen. Einsamkeit und Schweigen, wer suche das heute noch? Der König in seinen sieben Bergeinsamkeiten, wie wenig werde er von den Lärmmachern der Gegenwart begriffen! Ein Heim in der Felsenwelt wie ein Adler – es ist zu außerordentlich, als daß es nicht den Spatzen in den Gassen und auf den Dächern wie Wahnsinn erscheinen sollte ... »Oh, Sie haben ein wunderschönes Heim, Frau Kommerzienrat,« bemerkte der Baron, den Balkon verlassend.

»Haus wollen Sie sagen. Zu einem Heim gehört mehr, als Bequemlichkeit und Glanz, welche der Reichtum verleiht. Die Kraft des Reichtums ist geringer, als man denkt. Das reichste Haus vermag oft kein Heim zu schaffen.«

Max von Drillinger runzelte die Stirn, als ihn diese neue philosophische Randglosse in der plötzlichen Helle des Korridors traf, und dachte, wie es doch auf die Dauer recht langweilig sei,[146] mit einem so herrlichen Weib nicht aus der Tretmühle abstrakter Gedanken und kritischer Klügeleien herauskommen zu können. Einige kichernde Gruppen, an denen sie vorbei mußten, veranlaßten ihn, gerade vor den Augen dieser leichtfertigen Salonpflanzen die Saite geistreicher Koketterie aufzuziehen und nicht den landesüblichen trivialen Kurmacher zu spielen. Die sollten einmal sehen, diese Flachköpfe, auf welchem ästhetischen Fuß ein Max von Drillinger mit dieser offenbar verkannten Frau verkehre.

»O, Sie haben gewiß Recht, gnädige Frau,« sagte er mit absichtlich erhobener Stimme und fuhr, seine Schritte hemmend und ein wenig verweilend, deklamatorisch fort: »Nicht weniger Recht hat aber auch unser Schiller mit seinen berühmten Versen:


Es ist ein altes Wort, doch bring' ich's wieder:

Die Ehre wohnt beim Reichtum. Reichtum übt

Die größte Herrschaft über Menschenseelen.

Der Arme, sei

Er noch so groß geboren, gilt für nichts.«


»Leider, ja!« erwiderte sie einfach, ohne sich umzublicken. »Hören Sie nur diese Unruhe da drinn'. Gehen wir schneller. Ich erfülle heute meine Pflichten als Dame des Hauses schlecht.[147] Aber die Menschen sind mir so zuwider, die kein ernstes Wort vertragen ...«

Schnürte kam eilig die Treppe herauf und drückte sich mit scheuem Grinsen an ihnen vorbei.

»Ein widerwärtiger Schleicher, dieser Sittenbilder-Kleckser mit dem Basiliskenblick,« bemerkte Drillinger.

»Haben Sie die nähere Bekanntschaft der Frau Bertha Hohenauer gemacht?«

»Herr Geiling hatte sie ganz in Beschlag genommen.«

»Das erklärt Schnürles schlechten Humor. Schnürle war einst sehr um sie bemüht. Fatale Liebeshändel ...«

Drillinger lächelte. »Überhaupt die Liebe – nichtwahr, gnädige Frau?«

Eine kühlere Luft schlug ihnen entgegen. Links zweigte die Kellertreppe, ab, rechts war die Thür zum Vorzimmer des Gartensalons. Das Vorzimmer war, wie das Treppenhaus, an Gesellschaftsabenden gewöhnlich hell erleuchtet, während der Gartensalon nur von einigen venezianischen Lampions, die malerisch in den grünen Sträucher- und Palmengruppen hingen, ein mattes Rosalicht empfing. Dicke Läufer bedeckten den Boden.[148]

Frau Raßler schauerte, als sie die angelegte Thür des Vorzimmers öffnete und den Baron so nahe hinter sich fühlte, daß sein Atem ihren Nacken bestrich.

»Überhaupt die Liebe –!« wiederholte Max v. Drillinger leiser. »Ah!«

Plötzlich war Frau Raßler stehen geblieben.

Das Vorzimmer war dunkel. Wie kam das? Wer hatte das Licht ausgelöscht? Der schwarze Raum erschien ihr wie ein Abgrund. War es nicht unpassend und unheimlich, mit dem fremden Manne solche Wege zu wandeln, die zu den schwersten Mißdeutungen verleiten konnten? Aber war ihr Max v. Drillinger noch ein Fremder, nachdem sie ihm ein solches Übermaß von Vertraulichkeit entgegengebracht? Vor wem hatte sie sich überhaupt zu rechtfertigen? Unsinn ... In diesem Augenblick drückte sie aber doch die dunkle Einsamkeit wie stiller Vorwurf.

»Bitte, Herr Baron, lassen Sie mich erst nachsehen, ob der Gartensalon beleuchtet ist. Ich begreife nicht ... Sonst brennt hier immer Licht ... Ich wollte Sie wirklich nicht in Nacht und Nebel hieher führen ...«

»Ich sehe hell, wo ich Sie sehe ... Ihre Lichtgestalt ...«[149]

Er brach ab. Frau Raßler hatte das dunkle Vorzimmer durchschritten und die mit einer Portière verhängte Thür zum Gartensalon leis und hastig geöffnet und war mit einem dumpfen »Oh!« auf der Schwelle stehen geblieben.

Nein, das ging zu weit: das Gewächshaus in einen Venusberg zu verwandeln! An diesem Orte solche Umarmungen! Geiling glaubte sich wohl im Theater ...?!

»Bertha!«

Bevor sie im stande war, die Thür wieder zu schließen, drängten schon lachend und spottend mehrere Gäste den Kommerzienrat die Treppe herunter.

»Frau Kommerzienrat, man kommt!« rief Drillinger erschreckt, er wußte selbst nicht warum. Er schritt auf sie zu und faßte ihre Hand.

»Das ist ja eine Verschwörung!« quackte der Kommerzienrat mit seinen pappigen Lippen und rieb sich die Augen. »Ah, Leopoldine und der Baron,« stieß er heiser heraus, als er mitten im dunklen Zimmer seine Frau Hand in Hand mit Drillinger erblickte, von dem Streifen Rosalicht beleuchtet, das aus der offen gebliebenen Salonthür hereinzitterte.

»Ein Irrtum, meine Herrschaften! Nur vorwärts[150] in den Gartensalon, dort ist das Schauspiel!« pfiff Schnürle mit seiner dünnen, erregten Stimme und stürmte voraus.

Der Kommerzienrat stand jedoch wie angewurzelt und schüttelte den Kopf.

»Ich begreife nicht ...«

»Ich auch nicht, Herr Kommerzienrat,« sagte verdutzt der Baron, indem er die Hand der Frau Raßler losließ. »Es ist ...«

»So? Sie begreifen auch nicht?«

»Ausgeflogen, da, durch den Garten; Donnerwetter, jammerschade, wir sind zu spät gekommen,« kreischte und gestikulierte Schnürle außer sich.

Jean zündete die Lichter des Vorzimmers an und stellte eine Lampe in den rosadämmerigen Gartensalon. Die grelle Helle verscheuchte die Gespenster, welche der hämische Schnürte in der Phantasie der Gäste heraufbeschworen hatte – an Verdächtigem blieb nur das Eine: Frau Raßlers dunkler Verkehr mit Drillinger. Dieses Verdächtige war aber für die Klatschsucht das einzig Positive, was die Zuschauer aus diesem Zufalls-Possenspiel mit nach Hause nahmen.

So endeten die Gesellschaftsabende des Raßlerschen Ehepaars mit einer Faree, deren Unkosten zunächst die Unschuldigen zu tragen[151] hatten. Nur einer ließ sich von der Schuldlosigkeit der Schuldigen wie der Unschuldigen nach einigem Sträuben überführen: der Herr Kommerzienrat. Wenn später durch irgend eine unvorsichtige Gesprächswendung die Rede auf dieses Fiasko der geselligen Abende stieß, pflegte er zu sagen: »Nun ja, das macht der Liebe kein Kind, es war ein dummer Zufall; die Leute, mögen sagen, was sie wollen.«

Der »dumme Zufall« ließ sich's freilich nicht nehmen, in seiner Art weiter zu schalten und für Frau Raßler und Max v. Drillinger an ihre erste Begegnung an jenem Abend das knotenreiche Fädchen intimer Beziehungen anzuspinnen, ein Fädchen, das sich allmählich so verdichtete, daß Frau Raßler den jungen Kandidaten Schlichting in ihrer Herzensnot mit dem Bekenntnisse verblüffen mußte: »Ich kann nicht mehr ohne ihn leben.«

»Warum liebst Du mich eigentlich?« Mit dieser Frage schloß einst Drillinger eine heiße Liebesstunde in Pasing. So ganz leichthin, beim Anzünden der Zigarette.

Leopoldine schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß nicht – vielleicht, weil ich muß, um für[152] meine Untreue als Frau durch meine Treue als Deine Geliebte gestraft zu werden.«

»Warum hast Du Dich zu jener Narrenehe entschlossen?«

»Warum? ...«

Sie zögerte mit der Antwort. Ein Bein über das andere gelegt, mit dem Zuknöpfen ihres Halbstiefels beschäftigt, ließ sie die Hand müde sinken.

»Sonst hast Du mir geholfen, Max!«

Er ließ sich aus ein Knie nieder, stellte ihren Fuß auf seinen Schenkel und zog die letzten Knöpfe zu. »Also warum?« fragte er wieder, ohne die Zigarette aus dem Munde zu nehmen.

»Raßler litt unter seiner Liebe, verstehst Du das? Er hatte unerzogene Kinder zu Haus, die nach einer Mutter schrieen ... Ich hielt ihn für sehr unglücklich ... Er war der einzige Mensch, den ich nicht leiden sehen konnte.«

»Also bloß darum?«

»Weil ich mir selbst nicht mehr traute und keinem Menschen auf der Welt – aus Verzweiflung.«

»Aus Verzweiflung? Vielleicht auch darüber, daß Herr Albrecht selbst ... wie man sagt ...«[153]

»Pfui! Du solltest der Letzte sein, so etwas zu wiederholen.«

Pause. Gespenster gingen um. Husch! Leopoldine fühlte ein leises Schauern.

»Ach, Max ...!« seufzte sie auf.

»Und warum bleibst Du in dieser Ehe, nachdem Du mich liebst?« forschte er kaltblütig weiter, wie ein Vivisektor, der die Herzkammern eines geknebelten und betäubten Versuchstieres bloßlegt, nicht achtend der Qualen, die sein trauriges Experiment schafft.

»Weil ich Dir noch nicht traue ...«

»Ein merkwürdig sophistischer Grund!«

»Und weil ich an den mutterlosen Kindern aus Raßlers erster Ehe sühnen will durch Pflichterfüllung, was ich an Raßler selbst aus Pflichtverletzung sündige. Jetzt weißt Du's.«

»Was würdest Du unter solchen Umständen thun, wenn Du – ein Kind von mir hättest?«

»Mich töten – und Dich dazu.«

»Du bist wahnsinnig.«

»Ich bin nur gerecht und nehme die Konsequenzen, meiner Handlungen auf mich.«

Von den vielen heftigen Szenen wilder Eifersuchtskämpfe war Drillinger besonders eine im Gedächtnis geblieben. Sie fing wie gewöhnlich[154] mit scheinbar harmlosen Fragen, nach unaufgeklärten Punkten in Leopoldinens Vergangenheit an.

»Warum bist Du nicht beim Theater geblieben, erzähle, Leopoldine!«

»Ich hatte nicht genug Talent dazu, meine große Figur war für eine Reihe kleinerer Rollen auch nicht günstig. In die Ecke mochte ich mich nicht drücken lassen ...«

»Geh, das allein kann der Grund nicht gewesen sein.«

»Ich war zu arm und hatte nicht genug Mittel, um anständig vorwärts zu kommen. Ohne Bestechungen geht's einmal nicht.«

»Du hattest Verehrer – waren keine zahlungsfähigen Leute darunter?«

Leopoldine schwieg. Hatte sie überhört? Endlich sagte sie abschweifend: »Das Talent bedeutet so wenig beim Theater. Gunst, Gönnerschaft sind viel wichtiger für das Vorwärtskommen. Zunächst liebt man immer erst das Weib, dann erst das Talent, wenn es ein – gefälliges ist. Das Talent allein entscheidet gar nichts. Von den Gemeinheiten dieser Zustände, besonders bei kleinen Theatern, hat man gar keinen Begriff.«

»Das ist schließlich überall so. Der Unterschied[155] liegt nur in den Nüancen. Erzähle weiter, wir kommen schon auf den Punkt, wo ich Dich haben will.«

»Du tyrannisierst mich, Max. Macht Dir das Vergnügen?«

»Ja. Erzähle weiter!«

»Ich gehorche Dir. Wir werden in vielen Stücken einander nie verstehen.«

»Das liegt an Dir. Erzähle!«

»In meinem Rollenfach hatte ich eine Rivalin, damals, weißt Du, in Landshut, eine ganz ungebildete, talentlose Hausmeisterstochter. Interessiert Dich das wirklich?«

»Gewiß. In Deiner Vergangenheit interessiert mich alles.«

»Ich forsche doch auch nicht mit diesem peinlichen Argwohn in der Deinigen!«

»Bitte!«

»Also eine urdumme Person, aber sie hatte einen hübschen Puppenkopf, einen zwar ungraziösen, jedoch gewisse Männer lockenden Leib – und war sehr gefällig, beispiellos gefällig; natürlich hatte sie einen reichen Verehrer, einen abgelebten Kaufmann, der ihr die schönsten Toiletten schenkte, und der wollte dann auch seine kostbaren Geschenke auf der Bühne ausgestellt[156] sehen ... Und die Talentlosigkeit bekam die schönsten Rollen, und spielte sie herunter, wie sie ihr von dem Regisseur eingepaukt wurden, und in der Zeitung bekam sie die schönsten Kritiken und der Direktor that, was er ihr an den Augen absehen konnte und trug sie auf den Händen und ließ sie in allen Fächern herumspielen ... Schließlich beherrschte sie den Direktor, der gar nicht mehr aus dem Unterrock hervorkam, und die Regisseure und die Rezensenten und die ganze Schmiere – und der reiche Verehrer zahlte alles und jedes ... Von grenzenlosem Ekel über diese Kunstwirtschaft erfüllt, brach ich das Engagement und lief davon.«

»Mit wem? Natürlich gleichfalls mit einem sogenannten Verehrer ...«

Damit war das Zeichen zu einer fürchterlichen Auseinandersetzung gegeben – – –

All' ihr Elend wägend, sprach Leopoldine für sich selbst: »Das Gräßlichste ist die Vergangenheit. Alles rächt sich. Das Gedächtnis ist die Rache. Ihm braucht wahrlich nicht erst die brutale Eifersucht des Geliebten zu Hilfe zu kommen: es verrichtet sein Henkeramt von selbst.[157] Alles späte Glück ist vergällt, gedenkt man früher Schuld – –«

»Ach, laß doch dieses Herumspintisieren.«

»Wer rührt alles in mir auf? Ich fürchte, auch Dein Gewissen foltert Dich noch für all' die Schrecknisse, womit Du meine große Liebe lohnst. Hast Du etwa eine Sühne in Deiner Reinheit? Bin ich die Alleinschuldige? ...«

Es war dem Baron mit der laxen Leutnantsmoral in allem, was das Liebesleben und seine Folgen betrifft, durchaus versagt, den Grund und Ernst eines solchen Gefühls zu erfassen. Er fühlte sich plötzlich angekältet und so unbehaglich in Leopoldinens Nähe, daß er wochenlang die Begegnung mit ihr zu vermeiden suchte. Dann erfaßte ihn wieder ein jähes Fieber, und er glühte und dürstete nach ihren Küssen und Umarmungen.

»Das Weib pflegte, deine Lust zu sein und du konntest nie der Liebe genug haben,« spottete er in solchen Zeiten des Gefühlsumschlags seiner selbst, »und nun bist du an eins geraten, das dir aus unfaßlich großer Liebe eitel Unlust schafft – und von dem du doch nicht lassen kannst.«

Der Herr Kommerzienrat machte die Beobachtung,[158] daß Frau Leopoldine merklich leichter zu haben sei, seit der Baron im Hause verkehrte. Das that ihm wohl. »Der Baron ist ein Hexenmeister,« sagte er. Und er dankte ihm still für seine Hexerei. »Die Leute sagen ihm Übles in bezug aus die Frauen nach: das macht der Liebe kein Kind – wem sagen sie's nicht nach? Und zumal hier in München, in diesem Krähwinkel-Klatschnest! Wir kennen's ja. Und wir pfeifen drauf. Der Baron gefällt meiner Frau, er gefällt aber auch mir – und das ist die Hauptsache.«

Einmal wußte er beide allein im Zimmer, als er heim kam. Hatten sie ihn kommen sehen? Nicht die Spur. Ahnten sie, daß er vor der Thür stand? Nicht im Traum. Also konnte er am Schlüsselloch lauschen; jedes Wort mußte echt sein. Gusti schlich unbemerkt vorüber, mit einem spitzbübischen Lächeln in den Augen. Und er lauschte. Zuerst vernahm er wenig mehr, als konfuses Stimmengeräusch, ein Zwitscherduett im fernen Busch; aber jetzt hoben sich die Stimmen immer deutlicher und nachdrücklicher, kein Wort ging verloren.

»Sie moralisieren!« schmunzelte er. »Er widerlegt sie, er zahlt ihr odentlich heim. Sie[159] kehrt natürlich die Radikale heraus. Wart', Leo! Ganz ihre Art: ›Den Künstler zwingen, eine Moral anzunehmen, bloß weil sie – moralisch ist? Weil sie zum angenommenen Umgangston gehört? Der rechte Künstler läßt sich nur Künstlerisches aufzwingen ...‹ Und jetzt der Baron. Da bin ich neugierig: – – ›Das heißt, sie bringen es selbst hervor, und wie sie sich ihre eigene Kunst schaffen, so wollen sie sich auch ihre eigene Moral machen! Wo kämen wir da hin, gnädige Frau? Moral ist etwas für sich selbst Bestehendes, alle Menschen ohne Unterschied, das Genie wie den Dummkopf gleichmäßig Verpflichtendes!‹ Bravo, Herr Baron! Der deckt dich gehörig zu, mein Leo! ... Natürlich bleibt sie nicht bei der Stange; sie springt ab, wie alle rechthaberischen Weiber ... Sie ist erhitzt ... ›Man hört jetzt allerwärts das Ziel der Moral ungefähr so bestimmen: Erhaltung der tugendhaften Menschheit, Förderung der Wahrheit, Stärkung der sozialen Ordnung. Erhaltung, Förderung, Stärkung, lauter Sand in die Augen. Die Herrschenden und Besitzenden wollen die Moral von den Andern, sofern sie ihnen Vorteil und Vergnügen verschafft – und sie machen sich blutwenig aus der Moral, sofern[160] sie ihnen keinen Vorteil und kein Vergnügen verschafft ...‹ Aber Leo! Hihihi ... Ah, nun fängt er sie mit Nachgiebigkeit. Der Pfiffikus! ... ›Gnädige Frau, es hat edle und weise Männer gegeben, welche an die Musik der Sphären geglaubt. Wir glauben nicht mehr daran. Sind jene Gläubigen darum weniger edel und weise? Wir glauben nicht an Sphärenmusik, aber wir glauben an die soziale Notwendigkeit der Moral, an die Schönheit ihrer sittlichen Wirkungen. Soll man deshalb dereinst von unserer Intelligenz und unserem Charakter geringer denken?‹ Ich klatsche Beifall mit beiden Händen.«

Und die Thür aufreißend: »Herr Baron, lassen Sie sich umarmen, Sie sind mein Mann.«

Als sich einmal der Baron wochenlang nicht hatte sehen lassen, begegnete ihm Raßler zufällig in den Isar-Auen.

»Aber böser Mensch, was treiben Sie? Kommen Sie doch wieder einmal zu uns und machen Sie meiner Frau ein wenig die Kur! Bitte, ja, kommen Sie! Sie müssen Leapoldine wieder tüchtig moralisieren; kein Mensch kann's so gut[161] wie Sie. Thun Sie ihr und mir den Gefallen!«

Und der Baron that beiden den Gefallen.

Und Raßler war über die Maßen vergnügt.

Als es aber später Sticheleien hagelte, wo sich die Glatze des Kommerzienrats nur blicken ließ, und anonyme Schmäh- und Drohbriefe ins Haus schneiten, da verging ihm oft der Spaß.

»Erbärmlich,« klagte er, »daß man keine Ruhe haben und nicht einmal im eigenen Hause nach seiner Façon selig werden kann!«

Frau Leopoldine selbst war, allen diesen Zwischenfällen zum Trotz, offenbar heiterer und entgegenkommender gegen ihren Gatten geworden, namentlich in jener Zeit, wo die Besuche und Aufmerksamkeiten des Barons ihren Höhenpunkt erreicht hatten. Ein besonders gutes Zeichen sah der Kommerzienrat darin, daß sie öfter als früher seine Geldbörse direkt ansprach zur Gewährung größerer Summen für Unterstützungszwecke. Raßler frohlockte, gewährte sie und begehrte nichts Näheres zu wissen. So ganz selbstlos und aus etwa angeborenem Mildthätigkeitssinn handelte dabei der Kommerzienrat freilich[162] niemals. Er erinnerte gern an seine Gaben, als ob er fürchtete, daß man sie unterschätzen könnte, und war nicht faul, sich eine Quittung in Form von allerlei Extra-Zärtlichkeiten auszubitten. Daß die Empfängerin nicht die Nutznießerin, sondern nur die Vermittlerin seiner Wohlthätigkeit war, kümmerte ihn nicht.

Frau Leopoldine machte sehr oft ganz allein längere Besuche und Spaziergänge in den Nachmittag- und Abendstunden und kam meist recht erquickt, ja lustig heim. Es lag dann etwas so tief Befriedigtes und herzhaft Wunschloses in ihrem Wesen wie bei jemand, der einen brennenden Durst gelöscht hat und noch dankbar an den Quell zurückdenkt, der ihm die köstliche Labe gewährte. Ein frohes Lebensgefühl durchdrang sie; sie spürte ordentlich jeden Pulsschlag, jeden Atemzug wie eine Verheißung immer reicheren Glückes. Wie ein Blütenbaum in lichter Frühlingspracht, so stand sie in Blust und Duft eines verjüngten Lebens.

»Schön ist sie wieder und gütig heute, mein Leo!« lachte Raßler in sich hinein.

Erst in den letzten Monaten schienen diese Solo-Ausflüge nicht mehr ganz die alte Wirkung zu haben; Leopoldine wurde wieder nachdenklicher,[163] grüblerischer, eine gewisse schwermütige Ruhe, ein stundenlanges Hinbrüten wechselte mit plötzlicher nervöser Erregung und Gereiztheit. Verstimmt, wortlos ging sie an ihrem Gatten vorüber.

»Der Teufel verstehe sich auf dieses Abrakadabra der Weiberlaunen!« meinte er, wenn sich Gusti in Tröstungen und Erklärungen erschöpfte.

Mit Gusti schien übrigens die Gnädige nicht mehr so vertraut zu stehen. Gusti ließ sich nichts merken und schluckte den Ärger über die Zurücksetzung hinab.

»Kommt Zeit, kommt Rat; man wird mich schon wieder brauchen,« tröstete Gusti sich selbst. Der Baron gefiel ihr immer weniger. Er war ihr auch nicht spendabel genug.

Gegen die Kinder blieb Leopoldine gleich gut, gleich aufmerksam. War's auch keine tiefinnerliche Zärtlichkeit, sondern sah's öfter aus wie selbstübertriebene, fest gewollte Pflichterfüllung mit einem Stich ins Herbe und Peinliche, so that es dem väterlichen Egoismus doch wohl, einen so zuverlässigen Ersah für die wirkliche Mutter gefunden zu haben, die ja zudem nur ein ziemlich reizloses Geschöpf gewesen. Außer[164] dem Kindersegen hatte er wenig genug von ihr gehabt. Von den Freuden der Liebe, die sie ihm bereitet, war ihm nur eine dürftige Erinnerung geblieben. Und seine Erinnerungskraft ist doch gerade in diesem Punkte allezeit eine so ungewöhnliche gewesen! Ganz natürlich: was sollte sonst seine Gedanken belasten, wenn nicht die wonnigen Genüsse des Lebens? Die Angelegenheiten seines großen Fabrikgeschäftes? Die ordneten sich unter der Leitung vorzüglicher Beamten von selbst. Die Verwaltung seiner Kapitalien? Die Handhabung der Kouponschere macht keine Schwierigkeit. Die Sorge für die Familie? Kleinigkeiten! Beteiligung an den Angelegenheiten der Gemeinde und des Staats? Soweit sie direkten Gewinn bringt, ist sie Sache des Geschäfts und wird, vom Direktor und seinem Stabe von Buchhaltern besorgt; da genügt sein bloßes Mitwissen. Soweit die Gemeinde- und Staatsangelegenheiten nicht direkt gewinnbringende Geschäftssachen sind, läßt man sie überhaupt nur mit Auswahl an sich herantreten. Bei Wahlen, Ausschüssen für gemeinnützige Unternehmungen, Ehrenämtern u.s.w. läßt man die Andern für sich arbeiten und begnügt sich, seinen Namen, ab und zu auch das Repräsentations-Portemonnaie,[165] zur Verfügung zu stellen. Bei Konsortial-Unternehmungen, wie der geplanten Isarnferbebanung, der Isarthalbahn u.s.w., wo natürlich die Firma der Raßlerschen Eisengießerei mitparadieren muß, hat der Herr Kommerzienrat an seinem Kollegen und Nachbar Schmerold einen Zuverlässigen Wortführer und Aufklärer. Kurz, alles kann man von andern besorgen lassen und dafür Gewinn und Ehre einheimsen – nur die Genüsse des Lebens muß man selbst durchprobieren ...

War sie nicht auch eine Betschwester, diese selige erste Frau, die ihm alle Franziskaner vom Kloster im Lehel auf den Hals hetzte, ihm, dem freisinnigen, heiteren Kunstmäzenas? Nein, das rechte Weib nach seinem Herzen war sie nicht gewesen. Ihre Einbildungskraft und ihr guter und belehrsamer Wille waren besonders in bezug auf Liebesgenüsse sehr beschränkt. Auch sonst war sie in zeitgemäßer Bildung sehr zurück und gar nicht mit ihrer Nachfolgerin zu vergleichen.

In einer unglücklichen Stunde schleuderte ihr Raßler das Wort an den Kopf: »Du bist ein frommes Schaf.« Und als sie bei jeder Entbindung sich geberdete, als ginge die Welt aus den Fugen und mit dem Arzt immer gleich den[166] Pfaffen bestellte, da rief Raßler verzweiflungsvoll: »Nein, ein solches Weib zu haben, das gar nichts kann, nicht einmal ein Kind anständig auf die Welt bringen!« Es war ein arges Hauskreuz. Wenn er's recht bedachte, eine Schinderei. Bei alledem hatte sie in ihrer ferneren Verwandtschaft Namen von angesehenen Talenten aufzuweisen, zum Beispiel den gelehrten Professor Hirneis und den in seiner Weise wohl genialen, aber auch aus der Art geschlagenen Bildhauer Achthuber. Aber mit allen diesen Leuten mochte Raßler nichts mehr zu thun haben. Es war immer sein Grundsatz gewesen, sich die angeheiratete Verwandtschaft, die nähere und fernere, möglichst weit vom Leibe zu halten.

Summa: so viel er auch bei Leopoldine mit in den Kauf nehmen mußte, was ihm oft über die Hutschnur ging, die war doch aus ganz anderem Teig!

Zweierlei Kinder sind zwar oft auch eine eigene Sache: aber Leo noch als wirkliche Mutter zu sehen – – Ein Traum!

Die Augen gingen ihm über, wenn er sich das ausmalte.

Warum sie wohl so lange unfruchtbar blieb? Sollte sie ... sollte er ...? Er half sich über[167] diese Fragen mit dem Gedanken hinweg, daß die Natur oft gar geheimnisvolle Wege gehe, daß man Beispiele habe von fünf-, zehn-, ja fünfzehnjähriger Sterilität, bis dann plötzlich aus später Nachblüte noch Früchte reisten.

Und wer weiß – Leo war jetzt in so üppiger Pracht, daß er sie sich gar nicht schöner wünschen konnte – ob die Mutterschaft nicht ihre stolze Erscheinung schädigen, oder den Ernst ihrer Stimmung nicht noch höher treiben könnte?

Komisch: er vermochte sich dieses hohe, stattliche Weib gar nicht in der entstellenden Fülle der Schwangerschaft vorzustellen. Noch komischer: neulich hat er von ihren gesegneten Umständen trotzdem geträumt. Wie eine Kugel stand sie vor ihm, mit winzigen Extremitäten. Und die Kugel wurde immer größer, eine ganze Welt, während er immer mehr zusammenschrumpfte und schwand und schwand. – Er wußte plötzlich vom Traumbild und von sich selbst nichts mehr, es war wie eine Ohnmacht, wie ein Sterben im wonnigen Schlafe.

– – – –

Und jetzt wieder, bei halb offenen Augen[168] und klarem Kopfe schlich sich dieses Traumbild betäubend in sein Bewußtsein.

»Meine schwangere Frau, sie erdrückt mich, sie erdrückt mich!« schrie er und fuhr aus dem Nachschlummer auf.

»Es ist gut, daß mich dieser dumme Traum aufgejagt hat. – Ich habe heute zu lange geduselt. Am hellen, lichten Nachmittag träumen ... Und hier ein ganzer Stoß Postsachen ... Leo ist in der Kinderstube; sie hat nichts gemerkt. Ich müßte mich ja schämen ...«

Quelle:
Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. 2 Bände, Band 2, Leipzig [o. J.], S. 56-169.
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