Die müde schon verglühte ...

[102] Die müde schon verglühte,

Die leise schon verklang,

Jach ist sie wieder aufgeflammt

In jauchzendem Gesang!

Wie Zymbelton, wie Lautenschlag

Ward meine Liebe wieder wach,

Die müde schon verglühte,

Die leise schon verklang ...


Und heller tönt ihr Rauschen,

Wie junger Frühlingswind,[102]

Wenn er in heißem Schöpferdrang

Die Welt dem Licht gewinnt

Und das Prophetenwort erläßt,

Daß nun der Menschheit Osterfest –

Ja! heller tönt ihr Rauschen,

Wie junger Frühlingswind!


Und wie durch Nebelschleier

Die Sonne siegreich bricht,

Der jungen Flur ein goldnes Band

Ums Lockenantlitz flicht:

So überglänzt mit Purpurschein

Die Liebe nun mein ganzes Sein,

Gießt goldne Feuer nieder

Und wirbt um neue Lieder ...


Und nah und ferne quellen

Blitzende Welten empor

An meinem Lebenshorizont

Aus Dunst und Wolkenflor!

Gedanken, die mir nie genaht,

Und Pfade, die ich nie betrat,

Entsteigen verborgenen Gründen,

Heilige Kraft zu entzünden!


Die leise schon verklungen,

Die müde schon verglüht:

Wild ist sie wieder aufgeflammt,

Im Lenzsturm stark erblüht!

Und lag ich wieder staubbedeckt,

So hab' ich mich nun aufgereckt,[103]

Und die Gedanken schweifen

In großem Weltbegreifen!

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 102-104.
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