Es liegt die Welt in Sünden ...

[134] Es liegt die Welt in Sünden,

Das Heiligste ist feil –

Aufreckt sich wie der schwarze Tod

Das Laster wollustgeil!

Es werfen seine Flammen

Den Brand in jede Brust –

Im Triumphatorwagen rauscht

Durch aller Welt die Lust!


Und keiner hebt die Keule,

Zu morden das Pestgezücht!

Und keiner schreit nach andrem Heil

Und bangt vor dem Gericht!

In wilden Wollustschauern

Liegen wir staubbesät –

Und stammeln an schwellender Dirnenbrust

An die Venus ein Gebet:


»O große Mutter, nähre

Dein liebelechzend Kind![134]

Schling auch um mich dein Diadem,

Deine Rosen, dein Traubengewind!

Sieh! Meine verschmachteten Lippen

Dürsten nach heißem Genuß –

O große Mutter, vergiß mich nicht –

Laß trinken mich deinen Kuß!


Laß, bis ich selig versunken

In Träume, märchenumkost,

Hinfluten über das dürre Gefild

Meiner Seele deinen Trost!

Nicht mag ich kargen und dulden,

Wie ein Schächer nach Brocken gehn –

Es soll für meine verzehrende Brunst

Ein Paradies erstehn!


Wir haben vom Kreuze gerissen

Des Heilands zermartert Gebein!

Wir warfen von uns das Pilgerkleid –

Wir ließen den Wüstenstein!

Was frommt uns bleiches Entsagen?

Was frommt uns Dornengerank?

Wir schlürfen den Kelch hintaumelnder Lust

In seligem Ueberschwang!«


O sagt, ihr müden Lippen,

Kennt ihr kein andres Wort?

Ist in der Seele tiefstem Grund

Der Bronnen denn verdorrt,

Daraus in lichten Strömen[135]

Das Leben sich verjüngt?

Schreit ihr zur Aphrodite nur –

Zur Dirne, frech geschminkt?


Zur Dirne, der im Herzen

Nur Lug brennt und Verrat?

Die mit geschmeid'ger Buhlerkunst

Erstickt die freie Tat?

Schreit ihr nach Wein und Rosen?

Nach üpp'gem Bacchusgelag?

Nach sternendunkler, schwüler Nacht

Und flucht dem goldnen Tag? ...


Ihr Narr'n! Es naht die Stunde,

Da wieder am Kreuze einmal

Bluttriefend ein neuer Messias hängt,

Im Herzen Prometheus-Qual!

Auch den habt ihr gekreuzigt,

Dieweil sein Zorn geflammt –

Dieweil er die sündenverstrickte Brut

In heißem Groll verdammt!


Sein Mund sprach nicht von Liebe,

Sein Wort sprang wie ein Pfeil

Von klirrender Bogensehne springt,

Und traf, die sündengeil

In üppigem Wollustreigen

Das Leben verträumt und verspielt –

Sein Herz – das wußte Vergebung nicht:

Es hat nur die Schmach gefühlt!
[136]

Die Schmach, daß ihr verraten,

Den gottgebornen Geist!

Daß ihr in wilder Bestiengier

Das Gold, das glänzt und gleißt,

Dran tausend Flüche kleben,

Das tausend Tränen genetzt,

Ein sündenverloren, entartet Geschlecht,

Zu eurem Gott gesetzt!


Auch ihm, dem Bußekünder,

Verrenkt ihr das Gebein –

Doch wenn sein starres Auge bricht,

Bricht auf der Erde Gestein –

Aufbrausen die Meere im Sturme,

Es bebt der Berge Granit,

Und durch die ganze Schöpfung wogt

Ein einz'ges Sterbelied!


Da wird sie über euch kommen,

Die Angst, die Rächerin!

Und mit verglasten Augen starrt

Ihr zu dem Galgen hin!

Hernieder steigt vom Kreuze

Der Gott im Glorienkleid

Und spricht: Du bist verflucht, o Welt,

Verflucht in Ewigkeit!

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 134-137.
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