XI.

[158] Und wie der einsame Mensch durch die kühle, windige Frühlingsnacht weiterschritt, fand er Zeit, Gelegenheit und allmählich auch immermehr wachsende Stimmung, noch Näheres wie Ferneres mit sich und zu sich zu sprechen. Zunächst ging der Herr Doctor allerdings eine kleine Weile sehr gedankenlos fürbaß. Er beschäftigte sich, unter dem Drucke einer einförmigen Müdigkeit leidend, unwillkürlich mit allerhand sehr äußerlichen Dingen. Er betrachtete ohne Theilnahme den leicht überwölkten Himmel; sein Auge, nahm gleichgültig von den paar Sternen Notiz, die da und dort schläfrig, mattblinzelnd auf die Erde herunterguckten; der Menschen, die ab und zu, bald schneller, bald langsamer, an ihm vorüberstapften, achtete er nur mechanisch, er sann ihnen nichts nach, spann ihnen nichts zu, vermuthete und verglich, verknüpfte nicht, wie es wohl sonst seine Gewohnheit war; die unklare, verworrene Welt der nächtigen Schatten, die sich durch spärliches Gaslicht compromittiren lassen mußten, reizte ihn nicht – es war zunächst eine große Leere, Stumpfheit und Gleichgültigkeit in ihm. Dann fiel ihm Dieses und Jenes ein, was er vorhin ...[159] was er vor einer ... vor zwei Stunden mit Lydia erlebt hatte: einer Gesprächswendung erinnerte er sich ... einer Frage ihrerseits, einer Antwort seinerseits – plötzlich sah er sich wieder zu den Füßen der schönen Frau liegen – er spürte den weichen Druck ihrer Hand, er ließ sich noch einmal von ihrer zarten Liebkosung durchbeben – er athmete das Parfüm ihrer Kleider ein – er sah wieder die erregt auf- und niedergehende Brust vor sich – – dann stand er Lydia noch einmal gegenüber, nachlässig-herausfordernd an den Tisch gelehnt – hm! der Schlußtrumpf mit seinen kleinen, niedlichen Anhängseln: der Bibeldedication, dem eleganten Handkuß – er war wirklich nicht übel! Aber was sollte er nun mit der Dame seines Herzens anfangen? Wie verhielten sie sich zu einander? Hatte er noch Etwas zu erwarten – oder war Alles vorbei – sollte er das Spiel verloren geben? Welches Spiel? Aber – beim Zeus! – war ihm das Weib denn jetzt schon wieder gleichgültig? War seine Liebe, seine Leidenschaft wirklich weiter nichts, denn schemenhafte Augenblicksphantasie ... überflüssige Einbildung gewesen? Waren seine Stimmungen in derbster Thatsächlichkeit weiter nichts – als eben die kosbarsten Stimmungen von der Welt? Durfte er sich gar nicht mehr auf sich verlassen? Haftete Nichts mehr in ihm? hatte der Impuls seiner Kräfte so bedeutend eingebüßt – war er in jeder Hinsicht so entscheidend herabgedrückt worden? Und Adam dachte eine Sekunde[160] daran, sich einmal den Proceß zu zergliedern, unter dem die Menschen ... andere Menschen, einfachere Individuen, die Durchschnittsmasse ... zu handeln pflegen. Der Motiv entfiel ihm wieder, entwischte ihm. Es war wohl auch zu complicirt und bedurfte einer ruhigen, objectiven, kritischen Secirstimmnng, welche Adam jetzt kaum vorräthig bei sich fand. Das Bewußtsein seiner Unzuverlässigkeit in erotischen Angelegenheiten zerrte doch gewaltig an ihm. Es machte ihn zuerst unruhig, es empörte ihn gegen sich, dann legte es sich als ein schwerer, massiver Druck, lähmend und zusammenschnürend, auf ihn. Adam athmete einige Male heftiger, er schüttelte an sich herum – er wollte um jeden Preis das Blei dieser trostlosen Starrheit aus seiner Seele los sein. Andere Gedanken kamen nun. Ja! Ja! Und nochmals Ja! –: er mußte sich andere, neue Verhältnisse schaffen, unter denen er in Zukunft leben durfte. Ah! da erwartete er also doch noch eine Erneuerung seiner »Persönlichkeit« – er hielt sie für möglich – er rechnete sogar schon mit ihr –? Oder that er das Letztere etwa nicht? Gewiß that er's! Er hatte noch längst nicht à la Doctor Irmer auf das Leben »verzichtet«. Nein, keine Spur davon! Er wollte leben: reich, unabhängig ... in einer Lage leben, wo er nicht jeden Groschen dreimal umdrehen und besehen mußte, ehe er ihn ausgab – was er allerdings sonst auch nie that, was er aber eigentlich den ökonomischen Privatgesetzen, unter denen er jetzt existierte, schuldig gewesen wäre –[161] in einer Lage, wo er seinen Neigungen, seinen Passionen, seinen Stimmungen zwanglos nachgeben durfte ... Eine reiche Heirath –: es war schließlich das Einzige, was ihn aus dem Dreck der Enge, in welcher er stak, herausretten konnte. Und ... und lag es nun nicht blos noch an ihm, in den Hafen seiner sehr praktischen Wünsche einzulaufen? Lydia schien doch ein tieferes Interesse für ihn zu haben – das war aus ihrem ganzen Benehmen heute Abend zu erkennen gewesen. Wirkten auch eine Portion Coquetterie ... und ein gut Theil jener suffisant-gutmüthigen Launenhaftigkeit, die sich eine junge, schöne, reiche, unabhängige Frau immer gestattet, mit – vielleicht ließ sich die Geschichte ... hm! ... die Geschichte ... ließ sich dieses dumme Interesse'-Gefühl doch vertiefen – vielleicht vertiefte es sich durch einen starken Appell, den es erführe, unwillkürlich! Adam sagte sich, daß es vom praktischen Standpunkte aus wahrhaftig unverzeihlich thöricht wäre, die Fäden wieder aus der Hand zu geben ... vom dürren Sande des Lebens wieder verschleppen zu lassen. Das war ja Unsinn, wenn er sich einbildete, Lydia zu lieben. Oh! Er würde gewiß noch im Stande sein: angeregte, reizvolle, intime, vielleicht auch leidenschaftliche, den ganzen Menschen erfüllende und aufwühlende, wahnsinnig schöne Stunden mit ihr zu erleben ... ein Sclave ihrer Reize, ein dämonisch Begehrender – ein – ein – ein – nun was denn –? pah! nur eine einzige, große, dürstende Sinnlichkeit – hm! ...[162] wenn ... wenn er eben in der entsprechenden Stimmung war ... wenn ihn eine übermächtige Kraft in den Strudel, in die kreißende Gefühlsfülle hineingeworfen ... Gewiß! Er war noch fähig, sich das gefallen zu lassen. Aber dauernd mit einem Weibe zusammenzuleben? Da lag der Hase im Pfeffer. Nein! das konnte er von seiner Natur nicht verlangen. Warum sollte er treu sein wollen, wo er wußte, daß er nicht treu sein konnte? Seine Natur war schon viel zu differenzirt, schon viel zu sehr auf die verworrene, verwirrende Masse der Lebensreize gestimmt. Er hatte es schon seit Jahren nicht mehr der Mühe für werth gehalten, kleinen Versuchungen gegenüber unzugänglich zu sein. In große Versuchungen war er leider im Grunde noch gar nicht geführt worden. Aber hat man überhaupt ein Recht, zwischen ›kleinen‹ und ›großen‹ Versuchungen zu unterscheiden? Adam sagte sich, daß sein Verhältniß zu der Ehe ... seine persönliche Auffassung der Ehe im landläufigen Sinne, im Mund- und Buchstabensinne, eine bodenlos »unmoralische« sei. Aber was that das? Er wollte – hm! nun ja! – er wollte also ›Privatdocent‹ werden – irgendwo ... in Van Diemensland, Tokio oder Angra Pequena, das war egal ... Dazu bedurfte er reicher Mittel. Broschüren weiterschmieren ... Leitartikel für conservative Zeitungen zusammenlügen, das hatte nicht viel Werth. Das brachte nicht viel ein – und konnte ihn zudem noch in Verhältnisse stoßen, die Opfer von ihm forderten ... Opfer, die er bei seiner ziemlich anspruchsvollen[163] Natur kaum auf sich nehmen konnte. Den ›Märtyrer‹ spielen – nein! Vielleicht hatte er es einmal vermocht. Vor Jahren, vor vielen Jahren – heute vermochte er es sicher nicht mehr. Und sich sonst zum Träger einer ›Rolle‹ aufwerfen –? Es hatte nicht viel Zweck. Mag es den Friseuren überlassen bleiben, auf vorüberflatternde lange Haare lüstern zu sein. In sich sein – bei sich sein, in sich hineinleben, aus sich herausleben – darauf kam es an. Ein paar kleine Zugeständnisse mußten gemacht werden. Darauf kam es ja aber auch nicht an. Doch ... sich ausleben ... in der Fülle und Kraft, wie er es sich einmal erträumt, vor Jahren für spätere Zeiten der Freiheit erträumt hatte – davon konnte wohl kaum mehr die Rede sein. Er fühlte oft eine so furchtbare Leere in der Brust ... wie Einer, der an heftigem Schleimhusten leidet, meint, seine Brust sei leer, ganz leer, ganz hohl. Und doch! Er mußte sich dieses Weib zu eigen machen, tausend Gründe zwangen ihn dazu. Er liebte eigentlich die Menschen ... aber mit gewissen Vertretern sotaner ›Menschheit‹ kam er zeitweilig sehr ungern in Berührung. Und dann um Gotteswillen keine Enge, keine Beschränkung, keine Noth! Die Noth stimmt Alles so herab ... entnervt ... entseelt Alles ... höhlt aus ... zerfrißt ... Nur nicht mechanisch vegetiren, wo man das natürliche Recht besitzt, organisch zu leben. Was hätte er davon, fragte sich Adam, daß er wußte, wie Peter seine Wurst ißt und Paul seinen Furz läßt?[164] Totalement Nix! Das ist ja Alles so gleichgültig. Aber das Volk – hm! das Volk – das ›Volk‹! ... Man könnte mit seiner Hülfe unter Umständen eine vorzügliche Carrière machen! Socialdemokratischer Reichstagsabgeordneter! Donnerwetter! das wäre 'was? Nicht? Hm! Nur die Glacéhandschuhe müßte man sich abgewöhnen ... und ... und sich nicht mehr darüber wundern, daß es die Menschen für eminent überflüssig halten, ihren geliebten Mitmenschen eine Lüge nachzurechnen und demonstrativ vorzuwerfen! ... Doch ... die Zukunftsidee des Proletariats – sie wird und wächst – und sie siegt auch zweifellos einmal – aber ich – declamirte sich Adam mit sonorem Pathos vor – ich ruhe mich doch von den Strapazen, Dummheiten und Narrenspossen des Lebens wahrhaftig viel lieber à la Hamlet zwischen den Beinen eines Weibes aus, als innerhalb der vier Wände einer monströsen Gefängnißzelle ... Und so kommt man denn allmählich dahinter, daß man zu Allem und noch Verschiedenem außerdem verflucht untauglich ist! ...

Aber – hielt sich Adam plötzlich selber auf – wie oft schon habe ich dieses dumme, triste, oberfaule Zeug durchgewürgt! Es ist ja leider Alles so scandalös richtig, doch sollte man sich das Blech nicht zu oft vorkauen. Lassen wir wieder einmal die Zukunft eben – Zukunft und die Gegenwart eben – Gegenwart sein! Das Andere ›findet sich‹ schon von ›janz alleene‹ ... Trinken wir lieber noch 'n Glas Absynth! Den ersten Schluck auf[165] Lydias Wohl! Es lebe der Leichtsinn und seine ehrenwerthe Amme –: die Allerweltsgleichgültigkeit! ...

Adam sah nach der Uhr. Es war kurz nach Eins. So hatte er sich doch fast eine Stunde in der Stadt herumgetrieben. Und was hatte er von der endlosen Konversation mit seinem höchsteigenen Ich profitirt? Er hatte sich eine Reihe tödtlich langweiliger Thatsachen vorerzählt und war schließlich zu keinem Resultate gekommen. Nun! das war ihm schon öfter passirt. Darüber brauchte er sich nicht mehr zu ärgern. Schließlich würde er ja schon handeln, wir er mußte – wie er gezwungen sein würde. Und das ließ sich abwarten ... bequem abwarten.

Adam orientirte sich. Er bemerkte, daß er aus der stillen, vornehmen Gegend, in der Frau Lange wohnte, unwillkürlich in die Mitte der Stadt seinen Weg genommen. Da konnte es ja bis zum Wiener Café nicht mehr weit sein. Nach einigen Minuten hatte Adam sein Ziel erreicht. Er trat ein. Es war sehr schwül, dunstig in dem großen, hellerleuchteten, vollbesetzten Raume. Die Gerüche von Kuchen, Kaffee, Cigaretten, Billardkreide, Menschenschweiß schwammen in der dicken, schweren, von schwarzblauen Rauchschwaden und Dunstpolstern durchlagerten Luft. Dazu ein wirres, gesetzloses, unregelmäßiges Gesumme und Gebrause von Menschenstimmen ... die Musik aneinandergeschlagener Tassen ... das schrille Klappern der Löffel ... das kalkige Rollen der Billardbälle ...[166] Adam suchte nach einem unbesetzten Tische. Er suchte vergebens. Da kam der Zahlkellner auf ihn zugelaufen, nahm ihm Hut und Ueberzieher ab und machte ihn in seiner souverän-zudringlichen, gleichgültig-interessirten Art auf einige leere Stühle aufmerksam. Schließlich ließ sich Adam an einem kleinen, runden, so ziemlich in der Mitte des Cafés stehenden Tische nieder, an dem schon ein Herr und eine Dame saßen. Die Dame hatte Adam nun links neben sich, den Herrn sich gegenüber. Er betrachtete seine Nachbarn.

Aber jetzt tauchte vorerst ein Kellner auf.

»Was darf ich bringen? ...«

»Einen Absynth und 'n paar Cigaretten –«

So gut wie Deine Sorte, geliebte Lydia, monologisirte Adam leise, werden sie wohl nicht sein ... aber Feuer zu fangen ... hm! ... dazu wird man sie wohl auch noch bewegen können –

Das kleine Weib hat ein verdammt hübsches Profil, constatirte der Herr Doctor jetzt mit großer Befriedigung. Und Er dagegen! Stutzerhaft elegant, sehr patent, sehr rasirt und tadellos frisirt. Aber wie dumm, wie ausgefahren war dieses Gesicht! Der liebe Gott mußte schlechterdings gerade am Asthma gelitten haben, als er diesem Menschen da, seinen Odem in die Nase blies. Aber was so'n Fatzke für Glück hat! Das Mädel war wirklich sehr appetitlich. Die zollschmale, im Gaslicht discret mattroth aufschimmernde, entzückend abgerundete Fleischspanne am rechten Unterarm zwischen dem[167] Aermel und dem bräunlich gelben Glacéhandschuh – Donnerwetter! war sie nicht zum Küssen –? Das schwarze, wellige Haar, am Hinterkopfe zu einem vollen, schweren Knoten zusammengeflochten, unter dem Hute noch deutlich sichtbar, mit selbständiger Plastik hingestellt, ergänzte prachtvoll die scharfen und doch feinen Züge des Profils.

Die beiden schienen sich nicht viel zu sagen zu haben. Das kleine Weib sog öfter durch die zarten, sauberen Strohröhrchen an seinem Eiskaffee und schaute sich sonst fleißig im Saale um. Adam bemerkte, wie der Dame von einigen Herren, die hinten in der einen Ecke des Zimmers saßen, zugenickt wurde. Die Cumpane grinsten geärgert-amüsirt. Nun ja doch! Was wunderte er sich denn? Immer wieder das alte Erstaunen und der alte Unmuth ... das alte Bedauern? Nun erhielt auch Adam einmal das volle Gesicht seiner Nachbarin und einen kurzen, scharfen Blick dazu. Jetzt wurde er von dem Herrn, dem Ritter und Liebhaber der reizenden Donna, nachdrücklich fixirt. Der Her Doctor ließ sich nicht aus der »Contenance« bringen. Er bereitete sich sehr ruhig seinen Absynth, der unterweilen vor ihm hingeschoben war, that einen vollen Zug und brannte sich nachlässig-herausfordernd eine Cigarette an. Die erste Ladung Rauch blies er seinem Gegenüber etwas unhöflich in's Gesicht. Der hustete ein Wenig, wurde etwas roth, ließ es auch an einem ziemlich wüthigen Blicke nicht fehlen, begnügte sich sodann aber sehr praktisch damit, nach[168] seinem Bierglase zu greifen und ebenfalls einen derben Schluck zu thun, welcher Aktus sich fast so ausnahm, als käme der fremde, zurückhaltende Herr Adam ein vorgekommenes ›Stück‹ pflichtschuldigst nach. Adam mußte lächeln. ›Ich werde dir schon in anderer Weise ein ›Stück‹ vor- oder nachkommen, mein Lieber – warte nur noch ein Weilchen – bald ist meine Kammer voll Sonne! ... Wahrhaftig! ich möchte dem göttlichen Paul Heyse eigentlich eine Bierkarte schreiben!‹ Adam mußte sich ja doch vorläufig noch mit seiner eigenen Wenigkeit unterhalten.

Und wie er so behaglich dasaß, jetzt einen Schluck Absynth zu sich nahm, jetzt an seiner Cigarette zog, an seiner reizenden Nachbarin in aller Ehrbarkeit herumschnüffelte und ihren Liebhaber mit mitleidig-impertinenten Blicken spickte, fiel es ihm plötzlich ein, daß ihm vorhin bei seinem Selbstgespräche zu mitternächtigster Stunde Hedwig gar nicht in den Sinn gekommen war. Das frappirte ihn und doch wunderte es ihn eigentlich nicht. Was war ihm Hedwig, wenn er vor Lydia auf den Knieen lag? Und was war ihm Lydia, wenn er Hoffnung hatte, mit seiner schönen Nachbarin hier eine süße, köstliche Nacht ... eine Nacht berauschenden Minnespiels, genießen zu dürfen? Und was würde ihm dieses Weib sein, wenn er morgen ein anderes fände, das ihm noch größere, feinere, heftiger lockende Reize entgegenbrächte –? Er suchte ja langst nicht mehr im Weibe ein Weib ... ein besonderes, individuelles,[169] ihm congeniales Weib – er suchte nur noch das Weib, welches sich von jenem einem Weibe gerade soviel geborgt hatte, daß es ihm für eine mehr oder weniger große Spanne Zeit genügen konnte. Und doch ... jenes eine Weib – waren die Tage schon vorüber, da er geträumt hatte, daß er es finden würde? Waren sie wirklich schon vorüber oder ... oder träumte er jetzt noch zuweilen denselben dummen, einfältigen Traum? Das wäre doch zu geschmacklos. Die Jugend mit dem geschmeidigen Gehirn im Schädel und dem frischen, unausgefahrenen Pumpwerk des Herzens – ja! die besitzt wohl das Recht und die Kraft, zu abstrahiren ... Idealschemen zusammenzukneten: fehlt ihr doch noch die ganze massive Fülle des Lebens, der Erfahrung an den Objekten. – Aber wie im spätgewordenen Menschen noch so Mancherlei rudimentär bleibt ... liebliche Erinnerungen aus den Kindheitstagen animalischen Erdenlebens – so nimmt der ältergewordene Einzelmensch nicht minder ... ganz unwillkürlich ... noch dieses und jenes Moment aus seiner Kindheit in die späteren Tage mit hinüber: ein ›Ideal‹, eine harmlose Abstraktion ... einen Traum, der einmal so frisch und so voll und so saftig gewesen ... und der sich nun – o! alle Farben und Formen des Lebens allmählich hat abstehlen lassen müssen ...

Adam beugte sich vor und legte den Rest seiner Cigarette auf den Aschenteller. Der Herr ihm gegenüber erhob sich jetzt plötzlich mit einem halblaut zu seiner Dame geknurrten »Verzeih!« und[170] ging nachlässig-langsamen Schrittes hinaus. Adam mußte die Situation benutzen.

»Sie haben einen ganz vorzüglichen Geschmack, mein gnädiges Fräulein –« begann er mit unwillkürlich ein Wenig stockender, undeutlich verschleierter Stimme.

Die Dame schien Adams Anrede vollständig überhört zu haben. Sie klopfte mit dem Löffel sehr energisch an ihr Kaffeeglas und bestellte bei dem Kellner, der herangestürzt kam, noch einen Eiskaffee. »Mein Kind! Ich bitte Dich! Thu' doch nicht so! Du hast Dich eben 'mal versehen! ... Dieser Fatzke! Dieses anlackirte Rhinoceros – – kannst Du Dich denn nicht losmachen? Komm! Es ist viel gescheiter, wenn wir beide heute zusammenschlafen –« Adam hatte schon etwas lauter und zudringlicher gesprochen. Die Apathie der Dame ärgerte ihn. Aber das kleine Weib rührte und regte sich nicht. Es saß sehr steif, sehr abgewandt, sehr unnahbar da.

Jetzt kam das Getränk. »Noch ein Eiskaffee!« Die schöne Sünderin beugte sich graziös über die beiden zarten, sauberen Strohröhrchen und zog sie zwischen die schmalen, dünnen, blaßrothen Lippenlinien. Gerade dabei erhielt Adam einen kurzen, äußerst liebenswürdigen und aufmunternden Seitenblick.

Der Herr Doctor hatte die Belagerung schon abbrechen wollen. Aber seine Sache schien doch gar nicht so ungünstig zu stehen. Wenn nur der Mensch ... der unbequeme Bursche noch ein paar Sekunden bleiben wollte, wo er war.[171]

»Ihr Weiber scheint doch manchmal recht dumme Kerls zu sein! Auf den Ersten Besten fallt Ihr 'rein! ... Also! ... Du gehst mit mir – nicht wahr –?«

»Wie soll ich ihn denn los werden –? Heute muß ich schon ... morgen – wir können uns ja irgendwo treffen –«

»Ach was morgen! Heute! Es ist übrigens schon längst ›heute‹, mein Kind – und wir thun sehr gut, wenn wir dieses ominöse ›heute‹ recht früh anfangen ... mir wäre es recht, wenn wir es auch – –«

Adam hielt plötzlich inne. Er hatte zufällig nach dem nächsten Billard hinübergesehen und bemerkt, daß dort der Ritter der Dame stand, anscheinend dem Spiele zusah, in Wahrheit aber seine Auserwählte und ihren neuen Galan scharf beobachtete.

»Der Würfel ist gefallen, Kind – Dein Herr und König hat schon Lunte gerochen – die Sache wird sich sofort entscheiden –«

»Um Gottes Willen –!«

Jetzt kam der gute Mann affektirt-nachlässig, die Hände in den Hosentaschen, im Gesicht einen Ausdruck furchtsamer Verbissenheit, nach seinem Stuhle zurückgeschlendert. Er setzte sich langsam, nachdrücklich nieder, griff nach seinem Glase und würdigte die Dame seines Herzens keines Blickes.

Adam aber Hub an, also zu ihm zu sprechen: »Gestatten Sie, mein Herr, daß ich mich vorstelle! Mein Name ist Doctor Mensch. Ich sehe, daß Sie[172] geradeso ein Anhänger der sogenannten ›freien Liebe‹ sind – wie ich. Das heißt: wohl ebenfalls nur in der ... Praxis – denn theoretisch werden Sie aus gewichtigen, socialen Gründen die ›freie Liebe‹ ebenso sehr verwerfen – wie ich es thue. Nun ist aber einer der Hauptparagraphen dieser praktisch angewandten ›freien Liebe‹, daß das Weib den Mann verlassen darf, sobald es seiner überdrüssig geworden ist. Nun ist aber die hier momentan zwischen uns sitzende junge Dame Ihrer so ziemlich überdrüssig geworden, wie sie mir soeben gestanden hat, und hätte Lust, mir ihre Gunst zuzuwenden. Ergo werden Sie nur consequent sein, mein Herr, wenn Sie die Dame sofort freigeben und – mir überlassen. – Nicht wahr? – Sie begreifen –?«

Auf diesen feierlichen Appell schien der Herr allerdings nicht besonders vorbereitet gewesen zu sein. Er machte ein mehr verblüfftes, denn verwundertes Gesicht und fuhr mit den Augen rathlos zwischen Adam und seinem ungetreuen kleinen Weibe hin und her. Endlich knirschte er ein gepreßtes »Mein Herr –!« heraus, dem gleich darauf ein ebenso heiseres »Emmy –!« folgte.

Die Dame ließ ihre beiden Kämpen sich balgen. Sie saß wieder sehr steif, sehr reservirt, sehr unnahbar da. An den Nachbartischen war es auffallend ruhiger geworden.

»Unverschämte Frechheit –!«

»Aber ... mein Gott! Wünschen Sie denn noch etwas?« wandte sich Adam mit gemachtem Erstaunen an sein Gegenüber. »Die Sache muß[173] Ihnen doch klar sein. Uebrigens ... wenn Sie wirklich noch Wünsche haben sollten – hier ist meine Karte –«

Adam warf eine Visitenkarte auf den Tisch, die sein Gegner sehr schnell zu sich steckte und dafür die seine hinschleuderte.

»Ah ... mein Herr ... nun! ... wie ich sehe, sind Sie ... mein Gott! Sie sind ja wirklich Kaufmann ... Vertreter der Firma ... Firma Dietz & Sperling ... Seidenmanufactur ... Freiberg ... hm! ... Alle Hochachtung – doch ... nun – das wird sich ja finden – also ... vorläufig – ich wäre für Sie ausnahmsweise zu Hause ... doch – pardon! – noch eine Frage – sind Sie ... vielleicht sind Sie Reserve-Officier? Es könnte ja doch sein, obwohl auf Ihrer Karte –«

»Nein!«

»Ich danke!«

»Kellner! Zahlen!«

»Sehr wohl!«

»Ein Bier ...«

»Fünfundzwanzig Pfennige – und zwei Eiskaffees –«

»Die bezahle ich natürlich!« erklärte Adam mit vorspringendem Pathos.

»Ah! Sehr wohl! Danke sehr!« begriff der Kellner.

»Also – wir sprechen uns noch –«

»Wird mir natürlich eine Ehre sein –«

Der geschlagene Held – »ein patenter Jammerkerl!« urtheilte ihm Adam halblaut nach – verließ die Wahlstatt.[174]

»Siehst Du, Kind – nun sind wir auf einmal entre nous! ... Die Geschichte war doch sehr schnell arrangirt – nicht? Uebrigens – jeht fehlte nur noch, daß ein Dritter anspaziert käme und Dich wiederum mir abspenstig machte! Das heißt: so leicht sollte es ihm nicht werden – beileibe nicht! ... Aber ...laß uns bald aufbrechen – ja? Wir sind den Göttern eine Hekatombe schuldig ... Ich habe Sehnsucht nach ... Dir, Kind! Mache! ... Komm! ... Trink Deinen Kaffee aus, bitte! – wir gehen zu mir – da wird's gut sein ... und da werden wir Hütten bauen ...«

Eine kleine Frist darauf verließ Adam mit seiner köstlichen Kriegsbeute das Lokal. Die beiden schritten Arm in Arm, eng aneinandergeschmiegt, durch die stillen Straßen dahin und plauderten miteinander und neckten sich und kosten, als stellten sie vor ein bräutlich liebend Paar. Und der Nachtwind strich um sie herum und zauste zaghaft an ihnen und blies sie sanft an und lauschte auf die Ouvertüre der Liebesnacht, welche zwei Menschenkinder feiern wollten, die sich vorher noch nie begegnet waren ... die der Gott der Stunde heute zusammengethan ... Es war zwischen zwei und drei Uhr. Der Himmel ließ soeben sein starres, gebundenes Schwarz in die erste hellere, mehr dunkelblaue Farbenwellung hinüberschlüpfen. Der Schlummer des Lichts begann unmerklich leiser und leiser zu werden. Bald mußte es aufwachen und den ganzen Horizont überflammen.

Adam aber vergaß in den weißen Armen seiner[175] Emmy Frau Lydia Lange, vergaß die Betheuerungen und Schwüre, die er ihr – waren denn unterweilen erst vier, fünf Stunden vergangen? – schluchzend zugestammelt. Und er vergaß Fräulein Hedwig Irmer, dieses blasse, ernste Weib mit den schweren, dunklen Augen und dem herben, langweiligen Schicksal. Der Stern einer unheimlich ungenirten Liebe stand leuchtend zu Häupten seines Lagers ... seines Lagers, auf dem er so oft allein, so oft verwaist geruht – stand, bis die rothe, ehrliche Morgensonne kam und Emmys schwarzes Haar bläulich aufschimmern ließ. Die Schläfer aber erwachten, blinzelten in den goldenen Glanz hinein, küßten sich und kosten miteinander in seltsamer Kurzweil. Das Licht wuchs und wuchs. –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 158-176.
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