XIX.

[426] Als Adam erwachte, lag die Sonne in breiten Licht-und Wärmemassen im Zimmer. Die Luft war schwül, schweißdurchdünstet. Adam hob den Kopf aus den Kissen und sah sich um. Allmählich kehrte ihm die Erinnerung zurück, er entsann sich, wie es gekommen war, daß Emmy da im Sessel, kaum einen Schritt von ihm entfernt, saß und schlief. Ach ja! Das war gestern ein böser Tag gewesen und ein wüster Abend. Aber nun war der Spuk verflogen, das kleine Weib da hatte seine letzten schwarzen Schatten zu verscheuchen gewußt. Adam fühlte sich heute wohler, im Ganzen gestärkt und gekräftigt, wenn er auch noch eine träge Schwere und Mattigkeit in den Gliedern verspürte und einen heftigen Schmerz im Hinterkopf. Auch das Genick war steif geworden, jede Bewegung zuckte stechend in den Schläfen nach. Adam beschloß, leise aufzustehen. Die Zeit lief auf Neun, es war also schon spät genug. Aber Emmy konnte noch ruhig weiter schlafen. Ihr Athem ging tief und langsam. Der Kopf ruhte in halber Wendung nach links zwanglos an der Lehne, auf der Stirn standen ein paar kleine[427] Schweißtropfen. Die Decke war ihr von den Knieen auf den Teppich hinabgeglitten, die obersten Knöpfe des Kleides waren ihren Oeffnungen entschlüpft, discret schimmerte das Weiß vom Spitzenbesatze des Hemdes durch den schmalen Spalt.

Adam erhob sich, kleidete sich nothdürftig an und schlich nach seinem Arbeitszimmer hinüber. Er öffnete das Fenster, unten auf der Straße trieb rüstig das Leben. Da drüben auf der anderen Seite hatte er gestern Abend ... hatte er heute Nacht gestanden, und nach hier hinaufgestarrt. Und jetzt lag der helle Tag da unten, und allerlei buntes Menschenvolk zog an der Stätte vorüber, da er noch vor ein paar Stunden – denn länger war's doch nicht her – gestanden, mutterseelenallein gestanden, mutterseelenallein in der schweigenden Nacht. Und doch dünkte es ihn, es wäre das schon lange, lange her, viele, viele Jahre. Er war heute ein so ganz Anderer, wohl war kaum das Bewußtsein intimer Fülle in ihm, aber doch durchzitterte es ihn wie eine Ahnung, daß es in ein anderes Geleise eingelenkt. Dies und das kam noch zu ihm in seiner stillen Morgenschau an losen Erinnerungen, die Erlebnisse der jüngsten Tage mitbrachten. Hui! Er war ja auch Bräutigam, glücklicher Bräutigam ... und das war jedenfalls das Curioseste von Allem, worauf er sich in dieser Stunde besinnen mußte.

Nun bestellte er sich seinen Kaffee und machte Toilette. So viel Zeit war gar nicht mehr übrig. Um elf Uhr fuhr der Zug, mit dem Lydia abreisen[428] wollte – und – nein! ... es ging wohl doch nicht an, daß er die Abschiedsscene versäumte. Er mußte sich schon bei Zeiten an den obligaten Biß in den bewußten saueren Apfel gewöhnen.

Da schlug die Glocke der elektrischen Klingel heftig an. Adam horchte erstaunt auf. Das mußte etwas Besonderes zu bedeuten haben. Im nächsten Augenblick wurde auch schon die Thür seines Zimmers aufgerissen und Hedwig stürzte herein.

Adam war nicht im Stande, ein Wort hervorzubringen. Er starrte das Weib an, das todtenblaß, keuchend, mit fliegenden Gliedern, verstörten Mienen, unstet umherirrenden Augen vor ihm stand. Er sprang nicht hinzu, als Hedwig jetzt schwankte, zusammenbrechen zu müssen schien und sich nur noch im letzten Augenblick am nächsten Thürpfosten festklammerte.

»Adam –!« stieß sie aufstöhnend heraus – »mein Gott –! ich kann nicht mehr – daß ist zu viel – mein Vater – o Gott! – mein armer Vater ist – ist – todt ... oh – –«

Das Aufkreischen der Stimme bei dem Worte »todt« riß Adam aus seiner Erstarrung. Zuerst wußte er nicht, was dieser kurze, schneidende Laut ihm sagen sollte, jetzt wurde ihm sein Inhalt plötzlich klar – nein! das war ja nicht möglich – nicht möglich –

»Hedwig –! Besinne Dich –! O Gott! Das kann ja nicht sein – kann ja nicht sein –«

»Todt –!« wiederholte das Weib nur, leise,[429] dumpf, der Kopf war haltlos auf die Brust herabgesunken, die groß aufgerissenen Augen stierten vor sich hin –

Adam war zu Hedwig hingetreten – »komm –!« sagte er leise – »besinne Dich, Hedwig –! Das ist ja nicht möglich – komm zu Dir – hier setz' Dich nieder – soll ich Dir 'n Schluck Wasser bringen – es ist nur so warm – oder etwas Rum – ich habe auch Portwein – warte –«

»Nein –! nein –! Laß doch, Adam, laß doch –!« wehrte Hedwig mit merkwürdig hastiger, eindringlicher, im Ton ganz veränderter Stimme ab –

Adam rollte den Sessel in ihre Nähe. Dabei bemerkte er, daß Emmy's Hut auf dem Plüschsitze lag. Das war doch recht fatal. Aber schon hatte er den Hut, ohne daß er es eigentlich gewollt hätte, ergriffen und auf den Tisch gelegt. Hedwig war mechanisch seinen Bewegungen gefolgt.

»Was hast Du da –?« fragte sie mit rauher, zerrissener Stimme.

In diesem Augenblick schlug Emmy die Portière auseinander und trat ein. Adam sah sich halb unwillig, halb erfreut nach ihr um.

»Ah! Auch das noch –?« schrie Hedwig auf und schlug die Hände vor die Augen. Sie schwankte. Adam und Emmy stürzten hinzu, hielten sie auf und legten sie langsam, behutsam in den Sessel.

Das arme Weib schluchzte einmal tief auf, dann sank es zusammen.[430]

»Schnell Eau de Cologne her –!« rief Emmy und rieb der Ohnmächtigen Schläfen und Stirn ein, als Adam das Wasser gebracht hatte.

Nach einer Weile kam Hedwig wieder zu sich und schlug die Augen auf. Mit jähem Schrecken erkannte sie ihre Umgebung, erkannte sie Emmy neben sich – sie wollte sich emporraffen, sie hastete mit den Händen an den Lehnen hin und her – »gehen Sie –! lassen Sie mich –!« stöhnte sie – »rühren Sie mich nicht an –«

»Na! hab' Dich nur nicht so –!« fuhr es Adam barsch heraus, dem die ganze Scene schon sehr unbequem geworden war. Er drehte sich ein Wenig ab und setzte das Glas Portwein, das er in der Hand gehalten, unwillig auf den Tisch.

Emmy war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten. Sie sah Adam traurig-fragend an, sie wußte nicht, ob sie bleiben oder gehen, ob sie die beiden allein lassen sollte, oder – oder –? – sie war ganz rathlos. Das arme, gefolterte Weib da vor ihr im Sessel that ihr sehr leid, sie erkannte es aus der Engler'schen Weinkneipe wieder, sie fühlte sich zu ihm hingezogen, sie sagte sich, daß Adam Beziehungen, jedenfalls sehr intime Beziehungen zu ihm hätte – und wie ein Gefühl von Haß ... von Haß – wie ein heißes, wüthendes Erpichtsein auf Rache und Vergeltung an dem Herzlosen schoß es ihr brennend auf in der Brust.

Wieder versuchte Hedwig aufzustehen, sie stützte sich krampfhaft auf die niedrigen Seitenwände des Fauteuils, aber sie war zu schwach, sie sank wieder zurück.[431]

»Beruhigen Sie sich doch, liebes Fräulein –« bat Emmy leise, zaghaft – »mein armer Vater –« stöhnte Hedwig –

Adam stand daneben, es war ihm sehr unbehaglich zu Muthe, er mußte es wohl doch glauben, daß Irmer nicht mehr lebte, aber er konnte das hülflose Wesen da doch jetzt unmöglich ersuchen, ihm nähere Auskunft zu geben – und er schrak auch davor zurück, jetzt Einzelheiten zu erfahren, er fühlte, daß sie ihn quälen, aufregen würden ... und er hatte nicht den Muth, er war zu feige, um sich die Kraft zuzutrauen, die engeren Umstände von Irmers Tode einigermaßen ruhig hinzunehmen. Aber Etwas mußte doch geschehen, die Situation stockte peinlich, er mußte doch auch ein Wort zu finden wissen, auszusprechen wissen, er mußte doch Hedwig zeigen, daß er mit ihr litte, daß ihr Schmerz auch der seine wäre, daß sie auf sein vollstes Verständniß zu rechnen hätte ... Und da erinnerte er sich, daß er ihr gestern die tausend Mark geschickt, sie hatte sie wohl noch nicht erhalten, aber es mußte doch beruhigend auf sie wirken, wenn sie die Thatsache erführe, damit war doch wenigstens eine Sorge ihr von der Seele genommen. Und doch zögerte er, es nahm sich so auffällig aus, jetzt mit dem Gelde zu kommen, aber die Frage glitt ihm schon wider Willen über die Lippen: »Hast Du das Geld bekommen, Hedwig –?«

Die Gefragte schlug langsam die Augen zu ihm auf, starrte ihn erst eine Weile verständnißlos an,[432] dann fragte sie mechanisch, mit dumpfer, verschleierter Stimme, als wüßte sie nicht, was sie sich unter seiner Frage denken sollte: »– Geld –? – was für Geld –?«

»Nun, die tausend Mark, von denen Du mir schriebst – ich habe sie gestern an Dich abgehen lassen –« erwiderte Adam, einen gewissen Ton des Stolzes und der Befriedigung in der Stimme. Auch Emmy mußte er damit imponiren.

Hedwig starrte immer noch zu ihm in die Höhe, sie wußte nicht, was er meinte, sie verstand ihn nicht – »tausend Mark –?« wiederholte sie ebenso mechanisch, sie schüttelte ein Wenig den Kopf – was wollte er nur von ihr –?

»Na ja!« fuhr Adam ärgerlich auf – »Du hast mir doch des Langen und Breiten davon geschrieben – erinnerst Du Dich denn nur gar nicht –?«

»Tausend Mark –?« Hedwig schüttelte wieder den Kopf. Plötzlich fragte sie, aber eigentlich nur ganz gleichgültig: »– wo hast Du denn das Geld her –?« Sie schien durchaus keine Antwort darauf zu erwarten.

Adam zuckte zusammen. Zuerst verblüffte ihn diese Frage. Er war nicht gefaßt gewesen auf sie. Nun schoß ihm ein teuflischer Gedanke durch den Kopf. Wär's nicht am Besten, jetzt sofort – und auch vor Emmy sogleich! – zwei Fliegen mit der bewußten einen Klappe zu schlagen? Mit der Wahrheit herauszurücken? Den Zusammenhang aufzudecken?[433] Diesem Weibe, das da hülflos und gebrochen, entstellt, baar aller Reize der Jugend und der Kraft, vor ihm im Sessel lag – diesem Weibe, das er nicht liebte, mit dem er kaum Mitleid empfand, das er jetzt fast so etwas – so etwas wie – verabscheute – war's nicht am Besten, diesem Weibe ruhig zu gestehen, wie ... woher er die tausend Mark sich verschafft –? Wer sie ihm gegeben hatte –? Ah! Oder war es doch eine Grausamkeit, eine brutale Grausamkeit, der Wahrheit jetzt, unter diesen Verhältnissen, in dieser Stunde, die Ehre zu geben –? Nein! Er brachte es doch nicht über's Herz. Nein! doch nicht! Aber – einmal mußte es ja doch sein Einmal ja doch! Und wenn nicht heute, so morgen! Dieses verfluchte Aufschieben! Immer und ewig diese überflüssige Rücksicht! Die brutale Rücksichtslosigkeit gegen Andere und gegen das eigene feige, zimperliche und noch dazu erzegoistische Schonungsgefühl ist das einzige Fortschritts- und Entwicklungsprincip im Leben. So? Wirklich? Also – also drückte Adam alle zarteren Gedanken die ihm aufstiegen, gewaltsam nieder und fragte noch einmal mit affektirter Ruhe, im Grunde aber nur, um innerlich mit dem letzten Reste seiner Rücksicht und Scheu, auf welche seine Natur ursprünglich allein gestimmt war, fertig zu werden –:

»Woher ich das Geld habe –? Hm!« – jetzt erfolgte eine letzte, kurze Pause, dann stieß er tonlos, stockend, doch zugleich mit sehr forcirter Bestimmtheit heraus: »Nun! von meiner – Braut –«[434]

Aber wie um eine unmittelbare Antwort Hedwigs zu verhindern oder doch in irgend einer Weise abzuschwächen, erläuterte er hastig: »– das heißt – das heißt – vorher – ehe – das kam natürlich so – –«

»Von wem –?« fragte Emmy unwillkürlich und sah Adam erschrocken an. Der war froh, daß er durch Emmys Zwischenfrage wenigstens äußerlich einen anderen Partner, zu dem er sprechen konnte, bekommen hatte – war froh, daß die Auseinandersetzung nicht unmittelbar zwischen ihm und Hedwig stattzufinden brauchte. Eine gewisse Rücksicht, zu der er sich Hedwig gegenüber immerhin unwillkürlich hätte bequemen müssen, durfte er nun fallen lassen. Und das war ihm sehr lieb. Denn der barsche, ungeschlachte, rauh beinig-rücksichtslose Ton, den er anschlagen wollte, verdeckte viel besser sein inneres Widerstreben, seine innere Zaghaftigkeit, die er trotz aller Anstrengung nicht loszuwerden vermochte.

»Von meiner Braut, wenn Sie nichts dagegen haben, mein Fräulein –!« wiederholte also Adam laut, trotzig. Er sah dabei Emmy herausfordernd an und stellte sich, als bemerkte und fühlte er den Blick trostlosen Entsetzens nicht, mit dem Hedwig ihn anstarrte.

Ein schwüles, beklemmendes Schweigen war eingetreten. Adam wollte schon die Gelegenheit benutzen, sich von dem unmittelbaren Kriegsschauplatze unauffällig ein Wenig in den Hintergrund ... vielleicht in's Nebenzimmer ... zu schwindeln –[435] als Hedwig plötzlich mit einem jähen, krampfhaften Sprunge in die Höhe fuhr, auf Adam losstürzte und aufkreischte: »– was hast Du da gesagt –? Sag's noch 'nmal! Mein Gott! Bin ich denn verrückt –? Bin ich denn wahnsinnig –?« Und dann ein heiserer, erschütternder Nothschrei, der bewies, daß sie den Zusammenhang so ziemlich errieth –: »Adam –!«

Der wich einen Schritt zurück, »Hedwig –!« stotterte er, Emmy sprang hinzu, faßte die Taumelnde und versuchte, sie wieder auf den Sessel hinabzuziehen.

Aber es war, als ob plötzlich eine fremde Kraft über das arme, unglückliche, in seinem tiefsten Elende aufschreiende Weib gekommen wäre: es schleuderte Emmy bei Seite, klammerte sich mit seinen dünnen, mageren Fingern am linken Arme Adams fest und kreischte ihm entgegen: »Ah! Ich weiß – ich weiß – Canaille! Ich verstehe Dich, Du Schuft! Loskaufen hast Du Dich wollen – hast mir mein Sündengeld hinschmeißen wollen, weil Dir eine andere besser gefällt – weil Du mich satt hattest – weil – weil – – o Gott! – Und Alles habe ich Dir gegeben – habe Dir geglaubt – und nun behandelst Du mich wie – wie – – nun giebst Du mir 'n Fußtritt – was hab' ich Dir gethan, daß Du mich so wegwirfst – so zertrittst –? – Meinen Vater hast Du ermordet, meinen armen, alten, unglücklichen Vater – nichts war Dir heilig – nichts – nichts – Alles hast Du mit Füßen[436] getreten – meine – meine Ehre – meine – ach! Aber ich war ja schon so Eine, nicht wahr –? schon so Eine, wie die da, wie die Dirne da, die man mit Geld abfindet, wenn man sie los sein will – allmächtiger Gott! nur 'n Wahnsinniger kann Deine Verruchtheit begreifen – und ich schleppe mich her zu Dir – von der Leiche meines Vaters weg – an Allem verzweifelte ich – ich hatte Dich nur noch – nur noch Dich – ja –! – und – und nun verleugnest Du mich – und jagst mich hinaus – nun sagst Du Dich von mir los – Alles verläßt mich – Alles – Alles – – Canaille! – Auch mich hast Du auf'm Gewissen – hier! das letzte Wort meines todten Vaters an Dich – todt ist er – ja! – todt – todt – todt – todt – hörst Du – – ich möchte mich zerreißen, um das Furchtbare nur zu begreifen – und ich – o Gott! – ich kann's nicht fassen – kann's nicht – kann's nicht – ach! ich muß wohl schon wahnsinnig sein, daß ich nicht ersticke an meiner Verzweiflung – –«

Adam hatte einen Augenblick geglaubt, unter der Anklage des verzweifelten und verrathenen Weibes zusammenbrechen zu müssen. Er wußte, daß er die schweren Vorwürfe, die ihm da entgegengeschleudert wurden, verdiente. Sie waren alle so gerecht. Ja! er hatte das Weib überredet, ihm zu Willen zu sein. Er hatte wohl auch allerlei Verpflichtungen übernommen, hatte verschiedene Versprechungen gemacht – aber das Alles doch eigentlich nur, ohne sich desselben besonders bewußt zu werden, beinahe nur aus einer[437] communen Laune, aus einer durch besondere Umstände geschaffenen Stimmung heraus, vielleicht in frivolem Leichtsinn, aber doch ganz den Gesetzen und Methoden seiner Natur gemäß, die derartige Weibergeschichten mit einer ihr organischen Oberflächlichkeit, Nebensächlichkeit, Gleichgültigkeit behandelte; die sich »moralisch« dadurch nicht im Geringsten tiefer verpflichtet fühlte; die das Alles nur als unvermeidliches Lebensaccidenz auffaßte. Er konnte nicht anders, es war ihm ganz selbstverständlich, daß er hier die Treue brach, um dort von Neuem Treue zu versprechen, er besaß im Grunde gar kein Talent zur hausbackenen Treue, das spielte sich alles viel zu weit draußen auf der Peripherie seiner Persönlichkeit ab, als daß er es vermocht hätte, sich für irgend eine begangene Untreue besonders verantwortlich zu fühlen. Er gab sich eben so, wie es gerade seiner Stimmung entsprach. Reagirte ein Anderer darauf, so mochte der das hübsch selber verantworten. Er war viel zu wenig bornirt, um sich in eine Leidenschaft festbeißen zu können. Hedwig war also gar nicht berechtigt zu ihrer Anklage. Und dieses Bewußtsein löste ein starkes Gefühl des Aergers und der Entrüstung in Adam aus, er riß mit einem brutalen Rucke ihre eingekrallten Finger von seinem Arme los, schleuderte den Arm von sich, packte ein zerknittertes Papier, das Hedwig ihm immer noch mit der anderen Hand starr entgegenhielt, und warf es auf den Tisch, trat einige Schritte zurück und machte ein sehr wüthendes Gesicht. Was wollte denn das Weib von ihm –? Lächerlich, sich auch[438] nur einen Augenblick von seinen blödsinnigen Vorwürfen verblüffen zu lassen! Glaubte es etwa, ihn auf diese Weise wieder zu gewinnen? Da konnte sich die Dame doch gewaltig schneiden! Oh! Sie hatte ja längst alle Reize für ihn verloren.

Und doch konnte sich Adam nicht ganz dem Eindrucke ihrer in furchtbarster Seelenangst herausgeschrieenen Anklagen entziehen. Er hatte ihr nun ein mal sein Wort gebrochen, so gut wie sein Wort gebrochen, sie zieh ihn mit Recht der Absicht, sich mit dem Golde von ihr loszukaufen, sie hatte ihn, darin durchschaut, obwohl er doch eigentlich schon vorher entschlossen gewesen war, Irmers die tausend Mark auf irgend eine Weise zu verschaffen, ehe ihm, zumeist wohl nur in dem Bestreben, einen Namen für die Sache zu finden, der Gedanke gekommen war, sein Thun im Sinne eines Rückkaufes seiner Freiheit aufzufassen. Es war schließlich im tiefsten Grunde blutige Selbstironie gewesen – und dafür sollte er sich jetzt abkanzeln lassen, als wäre er ein Hallunke ersten Ranges? Und dennoch kam er von einem unklaren Schuldgefühl nicht los. Die Wuth, die er in sich aufkochen spürte, brach nicht aus, seine Entrüstung zersplitterte sich, sein Aerger verzettelte sich, schließlich knirschte er nur ein paar banale Redensarten, wie »verrückte Faselei –« »– thut mir leid, aber es ist nun einmal so –« – »wer kann wider seine Natur?« – heraus, zuckte die Achseln, lächelte spöttisch, steckte mit forcirter Gleichgültigkeit den zerknitterten Brief Irmers in seine Rocktasche und wandte sich ab – – – –[439]

Hedwig war wieder in den Sessel zurückgetaumelt, ihre Finger waren ineinandergekrampft, sie schluchzte leise. Emmy stand neben ihr, sie hielt den Kopf ein Wenig gebeugt, ihr Gesicht war ungleich geröthet, sie sah aus, als wäre sie in tiefe, starre Gedanken versunken, ihre Augen lagen in Thränen.

Adam sah sich noch einmal nach den Beiden um, es schien, als wollte er Etwas zu ihnen sagen, aber er zuckte wieder nur in willkommener Resignation die Achseln, knurrte verächtlich »– hysterische Weiber –« vor sich hin und ging auffallend langsam ins Nebenzimmer.

Pötzlich fuhr Hedwig wieder auf. »– ich muß fort – ich ersticke hier – fort zu meinem Vater – der wartet auf mich – der will mich mitnehmen – –« heiserte sie zischelnd vor sich hin, jetzt stand sie, sie schwankte haltlos hin und her, Emmy wollte sie umfassen. »Bleiben Sie noch, liebes Fräulein –« bat sie leise, da fuhr Hedwig herum, sie starrte Emmy mit großen, verglasten Augen an, nun lachte sie gellend auf, warf ihre mageren Arme mit krampfiger Wuth um Emmys Hals, riß die an sich heran, stürzte rücklings mit ihr in den Sessel und lallte ihr mit erstickter, gebrochen gellender Stimme zu: »– Du –! Du –! Weißt Du: ich bin nämlich auch so Eine, wie Du – auch so Eine, weißt Du – Dein Liebster hat's mir gezeigt – ei! – ei! – hat's mir gezeigt, wie man's macht – siehst Du: nun mußt Du mich mitnehmen – ja? willst Du –? Nun bringst Du mir schöne Herren –[440] ja! – ja! – ei! – ich kann's auch – Dein Liebster hat mirs gezeigt – ja! – das war schön – – und ich soll Dir auch 'n Gruß bestellen von meinem todten Väterchen – der hat gesagt: ich sollt's nur so machen, wie Du – da käm' ich anständig durch die Welt, weißt Du – ja! ja! ja! ja! – und hätte alle Tage gut zu essen, weißt Du, hat mein todtes Väterchen gesagt – und das wäre 'n Wonne, hat er gesagt – wenn der Mond scheint – und die weißen Gardinen werden roth, blutroth – und die Katzen schreien – und die Musik spielt – spielt – und wir tanzen dazu, mein Liebster und ich – wir tanzen – tanzen – tanzen – immer toller und toller und toller – bis – bis – und dann geht die Sonne auf – und der Tag – und der Tag – –«

Emmy war es endlich gelungen, sich aus der Haft der Arme, die sie einschnürend umklammert hatten, loszumachen. Sie war brandroth im Gesicht, sie athmete gepreßt, sie wollte Adam rufen, denn sie hatte ja eine Wahnsinnige vor sich, aber kein Laut löste sich aus der Kehle, es war alles wie zugequollen in ihr, wie verschüttet, Hedwig kicherte leise vor sich hin, nun trällerte sie: »tam – tam – taramtam – tam – tam – taramtam – –« plötzlich sprang sie auf, ihre Augen brannten, die ganze Gestalt war krampfhaft gespreizt –: »ich bin wahnsinnig –« schrie sie – »ich muß fort –« sie packte ihren Hut, den ihr Emmy vorhin abgenommen hatte, und stürzte zur Thür hinaus – –[441]

Adam hatte gehört, wie die Thür zugeschlagen wurde. Er war aus seinem herumtastenden Brüten auf gefahren und erschien jetzt unter der auseinandergeteilten Portière.

»Sie ist fort –?« fragte er »– allein –?«

Emmy antwortete nicht. Sie stand, noch immer aufs Tiefste erschüttert, neben dem Fauteuil und starrte vor sich nieder. Sie hatte die Hände übereinander auf die Fauteuillehne gelegt und nickte wie in tiefem Traume vor sich hin. »Warum bist Du nicht mitgegangen –?« fragte Adam von Neuem, unwillkürlich besorgt um Hedwig, zugleich unwillig über Emmys überflüßiges Versteinertsein.

Die drehte ihm langsam ihr Gesicht zu. Sie sah ihn fragend, verwundert an, als müßte sie sich erst auf die Bedeutung seiner Worte besinnen. Nun hatte sie wohl begriffen – »ich gehe 'gleich – Du wirst mich 'gleich los sein – –« sagte sie leise und sah sich im Zimmer um, als suchte sie etwas, ihr Jaquet oder ihren Hut.

»So hab' ichs nicht gemeint – das weißt Du –« erwiderte Adam ärgerlich – »aber es könnte ihr 'was passiren – und da wäre es besser, sie hätte Jemanden in ihrer Nähe, der – –«

»Ihr ist schon genug passirt –« sagte Emmy laut, bestimmt und sah Adam mit großen, herausfordernden Augen an –

»Meinst Du –?« fragte der sarkastisch – »Du mußt's ja wissen – ja! Ihr Weiber! – Eine wie die Andere –« Nun fing die auch noch an –[442] sogar die – na! da hörte denn doch Verschiedenes auf –

Jetzt stand Emmy vor Adam. Sie machte ein sehr feierliches Gesicht, es sah aus, als wollte sie Abschied für immer von ihm nehmen, ihm ein letztes Lebewohl sagen.

Adam wurde es unbehaglich. »Hab' Dich nur nicht so –!« wehrte er eifrig ab – »bitte, Emmy, keine neuen Sentimentalitäten – keine neuen Scenen –! Ich habe schon an der einen genug – verschone mich – ja? Uebrigens – wie spät haben wir's denn? Zehn durch. Ich habe meiner Braut versprochen, gegen Elf am Bahnhofe zu sein – sie verreist – und da kann ich doch nicht gut – also – wenn Du noch einen Augenblick warten willst, komm' ich 'gleich mit –«

»Wie heißt denn Deine Braut –?« fragte Emmy leise, befangen, sie konnte die Frage doch nicht unterdrücken.

»Lydia natürlich –! Wie sonst –? Lydia Lange! Jene Dame – Du wirst Dich erinnern – der wir 'mal begegneten, weißt Du – es ist ja noch gar nicht so lange her – im Park, an dem Tage, wo Du – jetzt wirst Du Dich sicher daran erinnern – wo Du die Bekanntschaft des Herrn von Bodenburg machtest, die so wichtig für Dich werden sollte – also die Dame ist's – nun weißt Du's – was macht denn übrigens der kleine Pistolenschäker –? Gehts ihm gut? Natürlich! Diesem Gesindel gehts immer gut. Hast Du Deinen Trovatore gestern nicht[443] gesehen? Warst nicht mit ihm zusammen –?« fragte Adam mit bissigem Lachen.

Emmy wandte sich ab und erwiderte kein Wort. Sie hatte erst einen Augenblick Lust, sich nach dem Verlaufe der Duellgeschichte zu erkundigen. Aber sie unterdrückte die Frage. Sie hätte nach tieferer Theilnahme ausgesehen, und obwohl sie diese Theilnahme immer noch für Adam empfand, jetzt vielleicht unwillkürlich stärker als je – denn ein mit ihr rivalisirendes Moment war ja aus seinem Leben gestrichen – sie wollte sie doch nicht zeigen, in diesem Augenblick erst recht nicht, um keinen Preis der Welt. Uebrigens ging ja auch schon daraus, daß Adam kein Wort von dem Duell wieder erwähnt hatte, hervor, daß die Geschichte in irgend einer Weise erledigt sein mußte. Und es erbitterte sie, daß sie in den letzten Tagen so oft so überflüssig um Einen gebangt hatte, der es nicht verdiente – um einen Blasirten, einen Unzuverlässigen, einen Herzlosen – –

Nun gingen die Beiden unten auf der Straße neben einander her. Eine längere Weile schwiegen sie. Hatten sie sich nichts mehr zu sagen? Oder scheuten sie sich, auf ein Thema zurückzukommen, das ebenso unerquicklich war, wie undankbar? Und doch lastete nicht minder peinlich auf Jedem der Druck, den das Schweigen des Anderen ihm auferlegte. Vielleicht aus diesem Grunde, vielleicht auch, weil es ihn doch drängte, Emmy noch dies und das zu sagen, begann Adam endlich, leise, langsam, sprungweise,[444] zugleich absichtlich einen Accent der Bitte und Abbitte in der Stimme, als redete er, wie von einem tiefen Traume besessen, nur zu sich –: »Sei mir nicht böse, Emmy! Siehst Du: das mußte ja Alles so kommen. Das hat ja Alles seine tiefen, tiefen Gründe. Kennst Du mich? Weißt Du, wer ich bin –? Nein! Ich kenne mich zwar selber ebenso wenig. Oft bin ich ganz erstaunt über mich. Ich weißt nicht, wer ich bin. Ich ahne mich nur. Ja! Aber ich ahne mich eben wenigstens doch. Nicht immer, doch manchmal mit brennender Schärfe und Annäherung. Dann ist Alles so voll in mir, so weit, so groß, so gewaltig, dann bin ich nicht mehr, dann hat mich etwas Unerklärliches, Geheimnißvolles in sich aufgenommen, mein Leben strömt in stolzem Drange, ein sanftes, unendlich wohlthuendes Fieber durchprickelt mir Leib und Seele, Alles in mir ist Dank, Inbrunst, Hingenommenheit, Fülle, Begeisterung, Größe ... Aber diesem unendlich Süßen, dem ich dann gehöre, das mich dann ganz aufgezehrt hat –: ihm einen Namen geben – diesem verklärten Sein, da Sehnsucht und Erfüllung zugleich in mir ist, eine Formel, ein Schema, eine Rubrik für den Tagescurs auf den Leib schreiben – nein! das kann ich nicht. Wenn ich mit Euch, Ihr anderen Menschen, Ihr Außenmenschen, mit einem sogenannten ›Bekannten‹, einem ›Kameraden‹, mit irgend einem Weibe zusammen bin – mein Gott! dann bin ich Gesellschaftsthier, meinem tieferen Ich entfremdet, dann rede und denke und scherze und[445] lache und ärgere ich mich und raisonnire, schimpfe, schwadronire, debattire, diskutire, spreche ich ganz wie Ihr, nach dem berühmten Muster socialer Individuen, im Jargon des Alltags, der Straße, der Kneipe, des Gesellschaftszimmers ... Was wollt Ihr! Mich kennt Ihr nicht. Das heißt: jenes Wesen eben, in welchem ich zuweilen sein darf. Aber nun sieh: gerade das Bewußtsein, daß ich zuweilen ein Anderer sein darf, das giebt meinem ganzen Leben doch eine große Zwiespältigkeit, eine ewige Unruhe, das macht mich so oft mürrisch, melancholisch, unzuverlässig, unberechenbar, ungeduldig, ungenießbar, das wirft mich aus einer Stimmung in die andere. Ich stürze mich in Genüsse, die für mich keine Genüsse sind, aber ich muß sie immer wieder aufsuchen, weil ich mich loswerden will, weil ich mich betäuben will – ich suche sie auf, diese faden Genüsse, obwohl ich mich vor ihnen ekele, obwohl ich sie verachte ... Ich habe eben überhaupt kein Organ für alle diese gerühmten plebejischen Freuden. Aber ich mache mit ... und ich bin zuweilen nicht der schlechteste und zurückhaltendste Cumpan – das wirst Du aus Erfahrung wissen ... Mein Pech ist nur, daß Ihr Alle mit mir wie mit einer gewöhnlichen Werkeltagsmünze rechnet – und ich bin, Gott sei's geklagt! oft zu feige oder oft auch zu gleichgültig, um gegen diese Unverschämheit, zu der ich Euch übrigens ein gewisses Recht gar nicht abspreche, zu protestiren. Ich lache Euch oft im Stillen aus, verachte Euch bodenlos, mache aber doch ganz[446] gemüthlich mit, gehe auf Euch und Euere abgestandenen Lebensspäße und Interimsmätzchen ein – um nachher mich selber desto mehr auszulachen ... Ja! Ja! Diese einsamen Stunden der Sammlung, der Rückschau, der Reue, des Beisichseins! Da erlebt man 'was! Manchmal allerdings auch Nichts. Und dann geht man wieder hinaus, die Menschen kommen zu Einem oder man sucht sie auf, man plaudert mit ihnen, man langweilt sich mit ihnen, man rempelt sie an, man klappert mit ihnen zusammen, die Zungen balgen sich, zuweilen wohl auch die gesammten ehrenwerthen Leiblichkeiten – und so gehts fort, einen Tag wie alle Tage ... Man wird älter, enger, die Ausschweifungen, die doch nur die Folgen von großen, elementaren Jugendleidenschaften der Seele waren, rächen sich, die Nerven rebelliren, man merkt: es geht mit dem ganzen Kerl bergab ... Na! Und man läßt's halt gehen ... Was bleibt Einem auch übrig! Nur manchmal, erst seltener, dann häufiger, tauchen so allerhand verflucht faule, weil arg philiströse Gefühle und Wünsche auf, die großen Stunden werden immer seltener, man schmilzt sich unwillkürlich immer natürlicher und zwangloser der Masse ein, in so vielen Punkten geht das Sonderbewußtsein ganz flöten, man sehnt sich nach einem engeren Kreise, einer festeren Scholle, einer gesicherteren Stätte, allwo man in Frieden leben, vielleicht auch noch 'n Bissel schaffen und wirken und nachher in Frieden sterben darf, nachdem man noch Dies und Das von der Welt und ihren[447] Reizen genossen hat und einigermaßen soweit zufrieden, ist, um nicht allzuviel von einem problematischen anderen Leben noch erwarten zu müssen ... Das ist so ein Resultat, zu dem man kommt, eine der schönen und holden Erfahrungen, die man an sich macht. Eine andere Erfahrung, die bei solchen verwickelten und zerdröselten ›Persönlichkeiten‹, wie Unsereiner nun einmal eine ist, auftritt – und noch dazu mit jener ersten oft in intimster, örtlicher und zeitlicher Nachbarschaft, ist die, daß man die individuelle Differenz mit der Gesellschaft, der Menge, der Masse festhält, ja erweitert, steigert ... Man sagt sich von einer Anschauung nach der anderen, an welcher die Gesellschaft ihrer lumpichten Fortexistenz halber festhalten zu müssen glaubt, los – kritisirt Alles und man verwirft Alles, Formen, Ideen, Einrichtungen, Anschauungen, Gewohnheiten ... Ist man sich in Diesem und Jenem noch nicht klar darüber, ob man Ja! oder Nein! dazu sagen soll – weiß der Teufel! – man hat doch eine instinktive Abneigung dagegen ... Oft begnügt man sich mit dieser instinktiven Abneigung, man verwirft, weil man einmal im Zuge ist, zu verwerfen – und kommt so zu einer Paralyse des Seelenlebens, die entsetzlich ist und auf die Dauer unerträglich. Mit der Zeit wird man aber auch hierin stumpfer und gleichgültiger. Man wird überhaupt müde und lethargisch. – Das ist schon kein ›Pessimismus‹ mehr, das ist regelrechte Décadence und Auflösung des ganzen Menschen. Vielleicht befinde ich mich[448] schon in diesem verheißungsvollen Stadium des inneren Lebens. Und so bin ich denn, eben in Folge dieser köstlichen ›Reife‹ meiner Natur, im Stande, ›vernünftig‹ zu werden – ich komme auf einem zweiten Wege zu demselbem Resultate – das heißt: ich versuche mir die Mittel zu schaffen, jenes ›vernünftige‹ Leben führen zu können – in meinem Falle: ich verheirathe mich reich. Das ist der bequemste Modus. Nicht wahr –? Das wirst Du zugeben müssen, Emmy. Und dann könnte ja auch die Möglichkeit eintreten, daß sich jene bewußten, theoretischen Erkenntnisse und radikalen Anschauungen bei mir so festsetzten, daß sie unwillkürlich zur reflektorischen Auslösung von ihnen entsprechenden Handlungen führten – und zu solchen ›abnormen‹ Handlungen, die Einen sofort in den allerdirektesten Bruch mit der Gesellschaft bringen würden, kann sich nur der versteigen, der es aus äußeren, also aus materiellen Gründen nicht nöthig hat, nach der Sanktionirung seiner Handlungen von Seiten der Gesellschaft zu fragen. Sonst – müßte er auf diese Sanktionirung sehen, müßte er mit diesem Moment rechnen – du lieber Himmel! – wenn er seinem Jammer nicht selbst ein redliches Ende setze – er würde in der That sehr bald zerrieben und zermalmt, zerrissen, zerquetscht werden ... Also heirathe ich meine Lydia – nicht wahr? – nun begreifst Du ... Ob ich das Weib ›liebe‹ – ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleichter auch nicht. Es ist ja Alles Stimmung bei mir, Emmy, Alles ... Und Hedwig –? Ja wohl! Sie[449] dauert mich, sie thut mir leid, sogar sehr leid – aber was will ich machen –? Im Grunde ist sie selbst schuld an ihrem Unglück. Ich habe ihren Vater und sie sattsam über meine Anschauungen, Gewohnheiten, über die Art meines Handelns aufgeklärt. Es ist ja wahr, daß ich sie sozusagen ›in Versuchung geführt‹ habe. Warum hat sie mir aber nicht widerstanden? Sie konnte nicht, sie mußte aus Gründen, die bei ihr gültig waren und sie zwangen, unterliegen. Sie ist eben auch nicht verantwortlich zu machen, nur muß sie eben als Object, in dem und an dem sich Etwas ereignete, auch die Folgen dieser Ereignisse tragen. Das müssen wir eben Alle. Was kann ein Getreideacker dafür, daß ein Gewitter über ihn niedergeht? Er muß die Folgen hinnehmen, muß sich zerstampfen lassen, muß seine Aehren opfern ... So springt die Natur mit uns Allen um – und uns bleibt bloß die statistische Recapitulation, die sauersüße Resignation – nichts weiter. – C'est tout. Das ist Alles, aber auch andrerseits – gerade genug. Siehst Du, Emmy, Du bist doch vielleicht das einzige Weib von allen Weibern, mit denen ich in der letzten Zeit verkehrt habe, dem ich tiefer zugethan gewesen. An Dir hänge ich vielleicht sogar jetzt noch am Meisten. Ich habe neulich eine schlaflose Nacht Deinetwegen gehabt. So 'was ist immer verdächtig. Und wenn ich nun also hingehe und mich mit einer anderen ... einer anderen Dame verbinde, die – verzeih'! – die keine ›so Eine‹ ist – wenn ich ins andere Lager desertire –[450] – nun, so thue ich das eben und eigne mir damit eine ganze Reihe von Vortheilen zu – aber warum ich es thue, siehst Du – das weiß ich eigentlich trotz aller kritischen Analysen im Grunde doch nicht ... ich bin mir ja schon viel zu gleichgültig. Das Leben reizt mich nicht mehr. Es ist mir ganz klar: schließlich bin ich dasselbe, was Du bist, nur ins Männliche übersetzt, seelisch ganz dasselbe ... Ich bin psychisch ebenso vielseitig und ebenso ... einseitig, wie Du, eben so wenig bornirt, wie Du – nur bin ich verhältnißmäßig freier, als Du, uneingeschränkter in meinen Gedanken und Handlungen. Mich respectirt die Gesellschaft, mich erkennt sie an – Dich nicht. Ich darf mir Alles oder doch sehr Vieles gestatten, Du nicht. Mir erlaubt sie, eines Tages ihr selber gegenüber womöglich eine Herrscherrolle zu spielen ... Aber – und das ist die sehr ernste und traurige Kehrseite der Medaille – aber ich bin, eben weil ich so wenig Schranken zu respectiren hatte, tausend Mal ärger zerfetzt und zerfasert als Du ... Du bist noch wärmerer, beständigerer Gefühle fähig – ich kaum ... Bei mir flackerts, flammts wohl noch jäh, leidenschaftlich, auf – aber es verfliegt auch wieder – und es verfliegt halt ebenso schnell, wie es gekommen war. Ich weiß, daß Du mich liebgehabt hast, Emmy – vielleicht hast Du mich auch noch 'n Bissel lieb, trotzdem mir Hedwig so schwere und harte Anklagen in's Gesicht geschleudert hat ... Du hast für die Arme unwillkürlich Partei genommen – ich begreife das Alles[451] sehr gut. Und doch – ich weiß es – ich ersehe es aus Deinem ganzen Betragen mir gegenüber – Du wirst mir wohl den psychologischen Blick dafür zutrauen – und doch, sage ich, schmerzt es Dich auch Deinetwegen – und vielleicht am Meisten Deinetwegen – daß ich Lydia heirathen will. Aber zwischen uns liegt die Sache doch anders und einfacher, dächt' ich. Wir können ja unser Verhältniß nach wie vor aufrecht erhalten. Ich weiß zwar nicht, ob wir hierbleiben werden nach unserer Verheirathung, Lydia und ich. Aber wäre das der Fall –: was hindert uns beide, Emmy, unseren Verkehr ruhig fortzusetzen –? Nichts. Du bist doch nun einmal ›so Eine‹ – verzeih'! ich wollte Dich nicht kränken – aber die äußere Thatsache bleibt doch bestehen. Und ich bin froh genug, daß ich Dich damals dem Freiberger Seidenfritzen, der sich übrigens nie wieder gemeldet hat, abgejagt habe. Also bitte – wenn Du mich nur ein Wenig gern hast, wirst Du schon einwilligen. Und dann, wenn die Tage gekommen sind – na! Du weißt schon: dann erinnerst Du mich an die Zeit, da ich jung und frei war ... da ich Dich liebte ... und mich manchmal in meinem Elend unsäglich reich und stolz gefühlt habe ... Aber nun muß ich wirklich machen, daß ich zum Bahnhof komme ... Sonst provocire ich 'gleich den ersten Sturm – und dazu – ist's später auch noch Zeit ... Also Adieu, Emmy! Ich schreibe Dir –«

Adam stürmte hinweg, Emmy blieb unwillkürlich stehen, verblüfft über die jähe Verabschiedung. Dann[452] ging sie mechanisch weiter. Ihm ist's ja doch nicht Ernst, meinte sie im Stillen und wurde sehr traurig. Sie dachte noch an dies und das, was sie von Adams langer Erklärung behalten hatte. Manches glaubte sie zu verstehen, aber auch so Vieles nicht. Er war ein merkwürdiger Mensch, so ganz anders, als die Anderen, mit denen sie sonst verkehren mußte. Er behandelte sie eigentlich recht wegwerfend, man konnte nie klug aus ihm werden, er war heute so und morgen so. Manchmal mußte sie ihn bewundern, wenn sie ihn auch nicht verstand, sie fühlte, daß etwas Neues und Großes aus ihm spräche, sie fühlte, wie er innerlich hoch über ihr stand. Oefter stieß sie das gerade wieder von ihm ab, sie sehnte sich nach Ihresgleichen, sie war dann froh, auch einmal mit einem einfacheren, oberflächlicheren Menschen verkehren zu dürfen – und doch trieb es sie immer wieder zu ihm hin, seine Räthselhaftigkeit, seine Unberechenbarkeit, seine Blasirtheit reizten sie, sie fühlte sich oft nicht wohl in seiner Nähe – und doch war sie leidenschaftlich gern mit ihm zusammen, er hatte eine merkwürdige Macht über sie, eine Gewalt, der sie sich manchmal zu entziehen suchte und wohl auch mit schwerer Mühe einmal entzog – und der sie doch immer wieder verfiel. Emmy sah sehr beklommen der Zukunft entgegen. –

Adam hatte seine Uhr befragt, es war wirklich höchste Zeit. Er trabte nach dem nächsten Droschkenhalteplatz, warf sich in das erste beste klapprige Ungethüm und rasselte davon. –[453]

Am Portal der Vorhalle stand ein Weib, das Rosen feil hielt. Adam riß eine gelbe Rose aus seinem Korbe, warf der runzligen, abschreckend häßlichen Hexe einen Fünfziger in die dreckige, verkrümmte, wie von einem Erdhufe überwachsene Hand und stürzte nach dem Perron.

Es hatte schon zum zweiten Male geläutet. Die Wagenthüren waren schon zugeschlagen, hie und da den Zug entlang gab es hastig-laut plaudernde, unter lebhaftem Gestenspiel sich ausgebende – oder leicht stockend, beklommen sprechende Gruppen, auf- und niederrennende Schaffner, in der Ferne, gerade unter der großen Uhr, die rothe Mütze des dienstthuenden Beamten, an den Wagenfenstern da und dort ein Gesicht, gleichgültig oder ernst, weil es vielleicht einen Abschied, einen schmerzlichen Abschied, gilt ... Adam spähte herum, jetzt entdeckte er seine Braut, die sich aus dem Fenster eines Wagens zweiter Klasse lehnte und ihm zuwinkte. Der Wagen stand ziemlich weit vorn, nahe an der Lokomotive.

Ein helles Freudenlächeln huschte über Lydias Gesicht, als sie Adam im letzten Augenblick doch noch vor sich sah. Sie hatte schon alle Hoffnung aufgegeben. Sie war ganz traurig geworden, sein Wegbleiben hatte sie verstimmt, am liebsten wäre sie wieder ausgestiegen. Nun war er doch noch gekommen. Das war so gut von ihm. Sie sah ihn zärtlich an, als er vor ihr stand, vor Aufregung kein Wort über die Lippen bringen konnte und ihr nur stumm die Rose reichte.[454]

»Du siehst recht blaß aus, Adam –« bemerkte Lydia besorgt und führte die Rose mit den kleinen, glattbehandschuhten Fingern der rechten Hand an ihre zarte, weiße Nase. Sie sah fragend auf ihren Verlobten nieder.

»So –? Mir war heute früh auch nicht ganz wohl –« antwortete Adam hastig – »und wie geht es Dir, Lydia –?« fuhr er dann fort, nachdem er einmal tief Athem geholt –

»Ich danke –«

»Und wie lange willst Du mich allein lassen –?«

»Ich komme bald zurück – vielleicht eher, als es Dir lieb ist – –«

»Lydia –!«

»Meine Adresse schreibe ich Dir – also Friedrichroda – ich muß erst sehen, ob ich Privatlogis nehme, oder –«

»Und schreib' mir, bitte, recht bald und recht viel – ja? Zu schade, daß Du jetzt gerade – – bleib' nicht zu lange, Lydia –?« bat Adam leise –

Es war ihm plötzlich sehr weich ums Herz geworden. Nun seine Braut in der Fülle und Reife ihrer Kraft und Schönheit vor ihm stand, loderte die Leidenschaft zu dieser Frau wieder in ihm auf. Ja! Er liebte sie doch – und sie allein. –

Es läutete zum dritten Male. Die Lokomotive pfiff, langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

Die Hände der beiden hatten zum letzten Male[455] in einander gelegen, fest, zärtlich. Dabei hatten sie sich voll in die Augen gesehen. Sie gehörten nun zusammen und sie mußten sich schon treu sein. – –

Das weiße Taschentuch Lydias statterte immer noch, Adam schwenkte den Hut. Der weiße, hin- und herzitternde Punkt verschwamm nun und verblaßte mehr und mehr, jetzt war er ganz und gar von der Entfernung aufgeschluckt. Der Perron war leer geworden. Adam blieb noch einen Augenblick stehen, blickte vor sich hin, freute sich, daß Lydia diskret die Geldgeschichte auch nicht mit der kleinsten Andeutung wieder berührt hatte, dann wandte er sich um, ging langsam durch die Vorhalle dem Ausgang zu und stieg langsam die Steintreppe hinunter, die vom Bahnhofsportal auf die Straße führte. Er befand sich in einem seelisch sehr merkwürdigen Zustande. Lydias Abreise stimmte ihn beinahe sentimental, that ihm beinahe weh. Er wunderte sich darüber und schüttelte den Kopf. –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 426-456.
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