Achtzehntes Kapitel:

Das am wenigsten Ergötzliche in diesem Buche

[80] Während der Prinz jene erstaunlichen Wunder verrichtete, war man in Scheschian nicht ruhiger, als man es im Palaste der Kukumer gewesen war. Saugrenutios Sache machte viel Aufsehen. Die Priesterschaft und die Stände waren zusammenberufen worden. Der König, dem die Verdrießlichkeiten seines Sohnes sehr zu Herzen gingen und der der Meinung war, sie würden nicht eher ihr Ende erreichen, als bis Saugrenutio den Schaumlöffel geleckt habe, ließ nichts unversucht, ihm diese Kränkung zuzufügen. Er hatte sogar den Patriarchen gewonnen, der, sowohl um dem Cephaes zu gefallen als um den Oberpriester zu ärgern, mit dem er nicht gut stand, dem König versprochen hatte, für alle seine Absichten einzutreten.

Saugrenutio war es nicht unbekannt, daß er von Seiten des Adels keine Unterstützung erhoffen durfte. Dieser Stand, der dem König aus politischen Gründen verbunden war, hätte gewißlich nie seinen eigenen Zielen in einer Situation zuwidergehandelt, da er ohne persönlichen Gewinn die königliche Majestät verletzen würde. Die Priesterschaft, die ihre Würden einzig durch Unterwerfung unter den Patriarchen erwarten durfte, würde sich gleichfalls enthalten, diesem den Beistand zu verweigern, wo allein Willfährigkeit Gewinn bringen konnte. Das unwissende und abergläubige Volk, das gewohnt war, die Aussprüche des Patriarchen für Aussprüche der Götter selbst zu halten, würde sich gefürchtet[80] haben, seinen Zorn auf sich zu laden, wenn es Saugrenutios Partei bei einem Vorfall ergriffen hätte, bei dem nach seiner Meinung die Religion nicht eben stark berührt war. Was blieb also dem Oberpriester übrig, um das ihm drohende Schicksal zu vermeiden? Er, der vom Adel wegen seines hochmütigen und anmaßenden Charakters gehaßt war, der von der Priesterschaft, weil sie ihm seine Stellung neidete, verabscheut und vom Volk verachtet wurde wegen seiner empörenden Flüche, wie sollte er Gehorsam leisten? Die Schande, den Schaumlöffel zu lecken, der Schmerz, den ihm dies verursachen mußte, der Triumph des Königs, alle diese Betrachtungen beunruhigten ihn wechselweise; und obwohl er bei dem festen Entschluß blieb, nicht zu gehorchen, sah er doch keinen Ausweg, wie er so vielen gegen ihn vereinigten Mächten widerstehen können würde. Noch wußte er nicht, was er tun sollte, als der Patriarch bei Hofe ankam. Er hatte ein schreckliches Dekret vorausgehen lassen, worin er Saugrenutio anbefohlen, den Schaumlöffel zu lecken. Der Schluß bestand in einer kurzen und brüderlichen Ermahnung, sich zu unterwerfen und nicht die göttliche und menschliche Rache gegen sich aufzubringen. Saugrenutio, den dies Dekret niederschmetterte, war schon im Begriff zu fliehen, als eine Unvorsichtigkeit der Gegenpartei ihm wieder Mut gab.

Der Patriarch, der mit den scheschianischen Priestern unzufrieden war – wozu er vielleicht Ursache hatte –, drohte, sie wie ihr Oberhaupt zu behandeln und sie ebenfalls den Schaumlöffel lecken zu lassen. Dieser Patriarch war ein heftiger Mann und unumschränkt in seinem Willen, folglich hatten jene Ursache, ihn zu fürchten, und die gemeinschaftliche Gefahr verband sie wieder mit Saugrenutio. Es ward eine heimliche Zusammenkunft bei ihm gehalten, worin man beschloß, sich um Anhänger zu bemühen. Die Aufrührer überlegten wohlweislich, daß man dem Volk, um[81] es zu gewinnen, einreden müsse, das Lecken des Schaumlöffels würde eine allgemeine Angelegenheit und niemand im ganzen Lande, selbst der König nicht, davon ausgeschlossen werden. Dies Gerücht hatte in der Tat die Wirkung, die die Urheber erwartet hatten: es wurde geglaubt, verursachte Furcht und gelangte bis zu dem König. Cephaes ward dadurch beunruhigt. Er kannte den unternehmenden Charakter des Patriarchen. Hundertmal hatte er Ursache gehabt, sich über dessen Verwegenheit zu beschweren, und hundertmal hatte er ihn auch dafür bestrafen wollen. Ihm dünkte es sehr hart, in der Nähe des Throns eine Macht dulden zu sollen, die stets imstande war, die königliche Obergewalt zu verletzen, unter deren Schatten sie doch nur bestand, und die auch nichts unterließ, das Königtum zu schwächen. Er nahm voller Entrüstung wahr, daß die Patriarchen, die ihren Posten lediglich den Königen zu verdanken hatten, ihre Pflicht gegen sie immer verletzten; allein der Aberglaube machte sie ehrwürdig. Überdies hatte er geglaubt, es sei von Belang für ihn, eine Obergewalt nicht aufzuheben, die seine Untertanen an Gehorsam gewöhnte, sie gefügiger gegen seine Wünsche und treuer in ihren Eiden machte.

Ein Volk ohne Religion legt bald den Gehorsam gegen seinen Oberherrn ab. Wenn es die Götter nicht mehr kennt, wenn es sie nicht mehr fürchtet, gelten ihm auch die menschlichen Gesetze nichts mehr. Es wird sein eigener Gesetzgeber, kennt keine anderen Vorschriften als seine Launen und erhebt nur, um wieder zu Boden zu reißen. In einem fort gegen sein eigenes Werk empört, treibt sein nach Neuerungen dürstender Geist es von Projekten zu Projekten. Ohne Besorgnis für die Zukunft vernichtet es entweder ganz das Andenken an die Götter oder erblickt deren Zorn so sehr in der Ferne, daß es kaum daran denkt, daß derselbe zu fürchten ist. Ein Volk dagegen, das nach[82] anderen Grundsätzen lebt, verhält sich ruhig gegen seine Könige, betrachtet sie als Geschenke der Gottheit und hält sich nicht für berechtigt, über sie oder über ihre Macht zu urteilen, und derselben Grenzen zu setzen. Da es aber mehr abergläubisch als religiös, weniger tugendhaft als furchtsam, mehr leichtgläubig als aufgeklärt ist, so würde es auch durch eine falschverstandene Religionsidee weit geführt; da der äußere Kult mehr Eindruck macht als die Existenz der Gottheit, ist es mehr ihren Dienern als ihr selbst unterworfen und glaubt, daß diese beleidigt werden, wenn man ihnen Gerechtigkeit widerfahren läßt; und der König, ein Opfer der Vorurteile seiner Untertanen, wagt es nicht, aus seiner Sklaverei zu brechen, aus Besorgnis, Unruhen zu erregen, wobei seine Person sowohl als seine Würde gleich starken Beschimpfungen ausgesetzt sein könnte.

Cephaes, von der Wahrheit dieser Grundsätze überzeugt, hatte die zu große Macht des Patriarchen zu begrenzen und bloß auf geistliche Angelegenheiten einzuschränken gesucht. Um der Hauptstadt je den Anlaß zur Empörung zu nehmen, hatte er den Patriarchen vom Hofe entfernt, damit sie diesen Götzen, wenn er ihnen aus den Augen gerückt wäre, weniger anbeten konnten. Hierin verstieß er gleichwohl gegen die Politik. Es ist nicht weise von einem Souverän gehandelt, einen Mann von sich zu entfernen, der gewissermaßen seine Obergewalt teilt. Der Patriarch glänzte allein an dem Ort, der ihm zum Aufenthalte angewiesen worden war; in Scheschian hingegen wäre er durch den Glanz des Throns verdunkelt worden. Wenn die Untertanen gesehen hätten, wie er gezwungen war, dem Könige seine pflichtgemäße Schuldigkeit zu bezeigen, hätten sie daraus schließen können, wie sehr er demselben untergeordnet war. Überdies wäre man in der Lage gewesen, ein aufmerksames Auge auf die Kabalen zu richten, die er anzuspinnen sich etwa einfallen lassen würde. Ein einziger[83] Blick des Beherrschers hätte genügt, sie zu zerstören. Hingegen in dieser Entfernung nutzte er die Leichtgläubigkeit des Volks aus und wußte seinen Anschlägen Kredit durch die Länge der Zeit zu verschaffen, die dazu erforderlich war, sie zu zerstören. Cephaes zweifelte nicht, daß der Patriarch sich für die üblen Streiche zu rächen suchen würde, die er demselben gespielt hatte. Indes kam es ihm ganz ungewöhnlich vor, daß er so weit gehen sollte, ihm zuzumuten, den Schaumlöffel zu lecken. Diese Ehre hatte die Fee Barbacela nur dem Oberpriester zugedacht. Allein diese Fee erschien nicht. Ihr Befehl war nur mündlich, mithin konnte er ausgelegt und ausgedehnt werden, wie man wollte. Mit einem Wort, der König hatte Angst; doch beschloß er, falls man die Religion zum Deckmantel nehmen wollte, einen Teil des Schimpfs auf den Patriarchen zurückzuwälzen und ihn zu zwingen, den Schaumlöffel als erster zu lecken. Man kann sich vorstellen, daß er den Patriarchen nicht gerade mit dem freundlichsten Gesicht empfing, als er ihn wiedersah. Der Patriarch schmollte seinerseits mit dem Könige. Saugrenutios Kunstgriff bestand also darin, daß er zwischen beiden den Samen der Uneinigkeit gestreut hatte, der für ihn nur ersprießlich sein konnte.

Quelle:
Claude Prosper Jolyot Crébillon: Der Schaumlöffel. Leipzig 1980, S. 80-84.
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