Einundzwanzigstes Kapitel:

Lehrt, daß man auf nichts in der Welt rechnen darf

[96] Glühend vor Liebe und der allerlebhaftesten Ungeduld glaubte der Prinz, sein Unglück hätte ein Ende, als er sich dem endgültigen Besitz der liebenswürdigen Neadarne so nahe sah. Außer den natürlichen Begierden, die den beseelen, der sich neben seiner Geliebten befindet, empfand er jene Wut, zu genießen, jene rastlose Hitze, die man nach Erlangung eines Guts zu empfinden pflegt, dessen Besitz man endlich versichert ist, nach Widerwärtigkeiten, die einem die Besorgnis einflößen, es nie zu erreichen. Mitten unter den lebhaftesten Entzückungen verursachte das Andenken[96] an jene erste Nacht, die so betrübt für ihn gewesen war, die Besorgnis in ihm, die zweite möchte ebenso widrig für ihn ausfallen. Die Drohungen der Kukumer fielen ihm wieder ein, und je weniger er wußte, auf was für eine Art sie sich rächen würde, desto mehr fürchtete er sie. Es gab Augenblicke, wo er auf die Barbacela fluchte; doch immer mit Mäßigung.

Man sehe nur, wozu mir ihr Schutz frommt! sagte er. Sie gibt mir einen Schaumlöffel und sagt, er sei das Mittel, die Unglücksfälle zu vermeiden, die mir das Schicksal zubereitet habe; und gerade er ist die Quelle von allem, was mich zu Boden drückt. Ohne ihn hätte ich die Kukumer nicht erzürnt; und statt mir jetzt zu helfen, läßt mich Barbacela im Stich. Eine vortreffliche Art, jemand zu beschützen! Wenn ich ihrer Hilfe nicht mehr bedarf, kommt sie – darauf will ich wetten – und bringt mir Glückwünsche.

Mit diesen Betrachtungen beschäftigte sich Tanzai, während man die Prinzessin entkleidete. Er dachte so viel an die Feen, daß er sich auch der ›Fee mit dem Kessel‹ erinnerte.

Sogleich lief er in sein Kabinett, um zu sehen, ob sie ihm betreffs des Gesundheitswassers Wort gehalten habe. Man kann sich vorstellen, daß er sie pries, als er dreißig Flaschen dieses Getränks daselbst fand. Sein erster Gedanke war, eine Flasche sofort auszutrinken. Doch nein, sagte er gleich darauf, bei Neadarne bedarf ich weiter nichts als ihrer Reize. Inzwischen müßte die Kraft dieses Wassers, wenn sie sich mit der Macht meiner Liebe vereinigte, ganz erstaunliche Dinge bewirken. Ist es auch ein kleiner Betrug, wie viele Frauenzimmer würden sich nicht einen ähnlichen gefallen lassen! Zudem wird Neadarne, der ich dies Geheimnis nicht zu entdecken brauche, nur um so mehr von sich halten, und ohne die Meinung in Anschlag zu bringen,[97] die ihr das von mir einflößen wird, ist es immer gut, einem Frauenzimmer, das man liebt, eine gute Meinung von ihren Reizen zu verschaffen. Die Liebe gewinnt auf die eine oder andere Art dabei, und Neadarne wird trotzdem, so viele Verachtung sie auch gegen jene Freuden hegt, die sie für unanständig hält, morgen früh – davon bin ich fest überzeugt – ganz anders denken. Da ihm diese Gründe gewichtig genug schienen, leerte er die Flasche aus, die er geöffnet hatte, und begab sich wieder in das Zimmer der Prinzessin, gerade als ihre Weiber herausgingen. Neadarne harrte seiner voll sanfter Sehnsucht, und Tanzai, voller Drang, glücklich zu werden, ließ nicht lange auf sich warten. Neadarne, jetzt schon gewöhnt, den Prinzen in ihren Armen zu sehen, ließ diesmal mehr ihre Zärtlichkeit als ihre Sittsamkeit sprechen. Von den feurigsten Trieben bestürmt, überlieferte sie all ihre Reize dem Geliebten, der, in noch größerer Aufregung als sie, weniger als das erste Mal bei der platonischen Betrachtung ihrer Annehmlichkeiten verweilte.

Die zärtlichen Liebkosungen, die ihnen die Liebe einflößte, raubten ihnen das Vermögen, zu sprechen; kaum konnten ihre Seufzer einen Ausgang finden. Mitten in diesen Freuden suchte Tanzai größere. Endlich bemächtigte sich ihrer beider eine sanfte Wut, ihre Seele schwebte in jenem glücklichen Aufruhr, an dessen Vermehrung sie noch Behagen findet, und sie überließen sich ihrer Trunkenheit.

Die schmerzlichen Schreie der Neadarne und der Widerstand, den er fand, schmeichelte ihm mehr, als er ihn in Erstaunen setzte. So inständig sie ihn auch bat, so reichliche und heiße Tränen sie auch vergoß, so war er dennoch auf nichts als auf Vollendung seines Triumphs bedacht. Er wäre unerbittlich gewesen, wäre nicht Neadarne in eine so heftige Ohnmacht gefallen, daß er ganz in Angst geriet.

So verstört er auch war, so dachte er doch an nichts weiter, als daran, ihr zu helfen. Endlich kam sie nach vieler Mühe[98] wieder zu sich. Die Erzählung, die sie dem Prinzen von den Schmerzen machte, die sie empfunden hatte, und von der außerordentlichen Bewegung, die, wie sie versicherte, bei ihr vorgegangen wäre, nötigten ihn, mit den Augen zu untersuchen, was das zu bedeuten habe. Wie groß aber war sein Erstaunen, keine Spur mehr jener besonderen Schönheit, woran ihm jetzt am meisten gelegen war, bei Neadarne zu finden. Dies ist für jenen Zaubersitz eine so seltsame Veränderung, daß man sich nicht wundern darf, wenn der Prinz darüber in unmäßiges Erstaunen geriet.

Als ihn die Prinzessin so betroffen sah, fragte sie ihn nach der Ursache. Statt ihr zu antworten, nahm Tanzai ihre Hand und führte sie an die betreffende Stelle.

O Himmel! rief sie, rächt die vermaledeite Fee sich auch an mir? Teurer Prinz, unter was für einem Unglücksstern muß unsere Verbindung geschlossen sein! Doch wie mag sich dieses Unglück zugetragen haben?

Teure Neadarne, versetzte der Prinz, es war hierbei so wenig zu tun, daß ich die Macht der Feen hier nicht eben bewundere. Wie unglücklich ich bin, fuhr er fort. Werden sich denn unserem Glücke ewig Hindernisse entgegensetzen? Nun bin ich also auf immer Eures Besitzes beraubt! Warum das? sagte Neadarne. Da Ihr für Euer Übel ein Hilfsmittel gefunden habt, sollte es keines für das meinige geben?

Nun ja, versetzte Tanzai, diese Hoffnung bleibt mir noch; sind aber wohl meine jetzigen Leiden dadurch behoben, daß Ihr nur von fern einen Strahl von Glück zeigt? Habe ich mich nur deshalb so oft dem Punkt, glücklich zu sein, nahe gefunden, um die Unmöglichkeit, es zu werden, desto lebhafter zu empfinden? – Ach, mein Prinz, entgegnete Neadarne, denkt Ihr denn, daß mir dieses Mißgeschick nicht nahegeht? Macht meine Zärtlichkeit es mir nicht schmerzlicher als Euch? Glaubt Ihr denn nicht, daß es mir sehr weh tun muß, im Augenblick, da meine Liebe Euch[99] nichts mehr verweigert, da die Eurige Euch keine andere Glückseligkeit ersehnt, als die uns jetzt fehlt, die grausamsten unübersteiglichsten Hindernisse sich unseren Freuden entgegensetzen zu sehen?

Der übrige Teil der Nacht verging teils in Reden, teils in unnützen Versuchen. Neadarne begriff nicht, wie das, was der Prinz ihr jetzt unter die Augen stellte, ehemals hatte verschwinden können; und der Prinz, der sich an das erinnerte, was Neadarne ihn sonst hatte sehen lassen, tat in der Verzweiflung, daß davon nichts mehr übrig war, alles Mögliche, um die Fee Kukumer Lügen zu strafen. Das Gesundheitswasser, das er mit dem Gedanken getrunken hatte, es besser zu gebrauchen, brachte erstaunliche Wirkungen hervor; und ohne Neadarnes Beistand, deren Mitleid ihm, so gut es nur immer möglich war, zu Hilfe kam, würde es ihm unstreitig übel bekommen sein, daß er soviel zu sich genommen hatte, um so mehr, da es ihm nicht einfiel, daß es in dieser grausamen Situation noch Mittel gäbe, ihm zu helfen.

Das merkwürdigste war, daß Tanzai, der über sein Unglück ganz unmäßig betrübt gewesen war, Neadarnes Unglück mit ziemlicher Geduld ertrug. Er betete sie an; fand aber Trostgründe, die er das erste Mal nicht gehabt hatte. Er hatte beschlossen, ihr nicht untreu zu werden, wenn sie auch sein ganzes Leben hindurch ihm unnütz sein sollte; allein er war sehr zufrieden, daß es in seiner Macht stand, ihr untreu zu werden, und daß die Prinzessin seine Beständigkeit nicht der Unmöglichkeit zuschreiben konnte, anders zu handeln. Eine Gesinnung, die von viel Delikatesse zeugte, ich weiß aber nicht, ob es ihm nicht in der Folge schwer geworden ist, sie auszuüben.

Neadarne befand sich ihrerseits in einer Verzweiflung, die trotz des Zwanges durchbrach, den sie sich antat. Was hilft dem Prinzen meine Treue? sagte sie bei sich. Was für Dank[100] kann er mir dafür wissen, daß ich keinen anderen als ihn liebe? Wer steht mir dafür, daß nicht so viel widrige Ereignisse ihn dahin bringen, mich zu verlassen, und daß er mich den Zorn der abscheulichen Kukumer entgelten läßt. Ach, wie entsetzlich ist mein Schicksal! Als ich seine Zärtlichkeit befriedigen konnte, war ich besorgt, seine Liebe möchte erlöschen, und jetzt zittere ich, daß er, durch so viele Hindernisse abgeschreckt, mir sein Herz auf immer entzieht!

Sie waren noch beide mit diesen Vorstellungen beschäftigt, als der Tag anbrach. Der Prinz, der nicht wollte, daß dies neue Unglück dem Volke kund würde, fand es geraten, zu seinem Vater zu gehen und sich mit ihm wegen der Mittel zu besprechen, die die Entzauberung der Prinzessin bewerkstelligen könnten. –

Quelle:
Claude Prosper Jolyot Crébillon: Der Schaumlöffel. Leipzig 1980, S. 96-101.
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