Dreiunddreißigstes Kapitel:

Die Oper

[171] Es wird schwer sein, von der Oper auf der Insel des Schonkilje eine gute Beschreibung zu liefern. Kiloho-ee beschwert sich an einigen Orten über die Trockenheit des japanischen Verfassers, der seinerseits über den scheschianischen Klage[171] führt. Dies setzt voraus, daß, ohne von den anderen Übersetzern zu reden, der französische über alle drei Beschwerden vorbringt und daß das Publikum sich über den letzten beschweren und ihm schuld geben wird, daß er entweder über trockene Materien sich zu sehr ausgebreitet habe, oder über interessante zu flüchtig weggegangen sei. Kann aber wohl ein Übersetzer, ohne pflichtbrüchig zu werden, Erzählungen mitteilen, die er nicht gefunden hat? Und wenn er sie unter Umständen, wo sie erforderlich sein könnten, erfände, würden sie nicht nach dem Jahrhundert schmecken, worin er lebte, und könnte er, wenn er sich auch völlig in so entfernte Zeiten versetzte, als diejenigen sind, worin seine Helden gelebt haben, Gebräuche vollkommen darstellen, von denen man gar keine Kenntnisse mehr hat? Ist es nicht schicklicher, den Lesern diese Sachen zu entziehen, als ihnen Fabeln vorzulegen, deren Ungereimtheit sie bald wahrnehmen würden?

Die Pflicht eines treuen Übersetzers besteht bloß darin, seinem Autor buchstäblich zu folgen, es sei denn, daß er ihn nicht versteht, alsdann kann er ihn paraphrasieren, kommentieren, umarbeiten. Der Übersetzer dieses Buches bekennt ganz freimütig, daß er seinen Autor nicht verstanden, wenigstens ihm ebenso viele Albernheiten gegeben hat, als er ihm wird genommen haben; daß er weitschweifig geworden ist, wo der Chinese kurz war; präzis, wo jener es nicht war; dunkel, wo jener deutlich war; satirisch, wo jener den Moralisten machte; galant, wo jener sich als Philosoph zeigte; und wegen all dieser Fehler entschuldigt er sich beim Leser nicht, noch bittet er ihn deshalb auf irgendeine Art um Verzeihung; weil dies Buch dadurch nicht besser würde und weil es durch diese Abirrungen im anderen Sinne schätzbar geworden ist.

Alle diese teils guten, teils schlechten Gründe sind nun Ursache, daß man nie genau erfahren wird, wie die Oper beschaffen[172] war, von der hier die Rede ist. Wem soll man die Schuld geben? Ein Geschichtsschreiber bildet sich, wenn er schreibt, ein, die Nachkommenschaft werde der Gebräuche völlig kundig sein, die zu seiner Zeit herrschten, und das ist Ursache, daß man heutigen Tages nur durch Mutmaßungen, und noch dazu durch sehr gewagte, weiß, wie etwa das Privatleben der Römer beschaffen gewesen ist, und daß eine Sache von ähnlichem Belang tausend Gelehrte beschäftigt, die darüber ihren kostbaren Nachtschlaf fruchtlos aufopfern. Nach einem Beispiel wie diesem muß der Übersetzer Entschuldigung finden, und findet er sie nicht, sich nicht weiter darum kümmern. Wenn er von all den Ungereimtheiten, die in diesem Buche sind, Rede und Antwort geben sollte, würde er damit nie fertig werden.

Um nun diese langen Betrachtungen zu schließen, deren jedermann überdrüssig ist, findet er's für dienlich zu sagen, daß gemeiniglich auf der Insel des Schonkilje die Opern lächerliche Gedichte waren, die aus alten, süßlich auf gestutzten Fabeln bestanden; daß der Stil darin notwendigerweise schal und die Poesie marklos war; daß es weder auf Behandlung noch auf Interesse ankam; daß man darin bei jeder Gelegenheit Leute tanzen ließ, die am wenigsten Ursache dazu hatten, daß der Allertraurigste herbeikam, seine Leiden abzusingen, und daß mehr als ein tödlich verwundeter Held auf die Bühne rutschte, um daselbst unter einer Flötenbegleitung sein Testament zu verfertigen; daß Flüsse ihren Auftritt darin machten, und daß öfters der größte Gott vom Himmel herabstieg, um eine Sottise zu sagen oder zu tun. Übrigens war dies Schauspiel prächtig und gefiel zumal durch die Wohlanständigkeit, die darin herrschte.

Alle Schauspielerinnen aus demselben waren Nymphen, und man fand deren sowohl in Chören als in Hauptrollen, die geschickt waren, alle Arten von Personen zu spielen;[173] bald Vestalinnen, bald Priesterinnen der Venus, die von der Hut des heiligen Feuers zu den süßen Mysterien von Amathus übergingen; die beide Rollen öffentlich gleich gut spielten und von welchen man nie anders als insgeheim erfuhr, welche von beiden ihnen am sauersten ankam. Gegen jedermann entdeckten sie freilich die Geheimnisse ihrer Kunst nicht; der feurigste und liebenswürdigste Anbeter würde umsonst seine Neugier angewandt haben. Sogar Launensucht vermochte nichts über sie, ebensowenig verführerisch war der Ehrgeiz für sie; es bedurfte einer Gottheit, mächtiger als beide, sie dahin zu bringen, daß sie sich zeigten, wie sie waren.

Diese wenigen Besonderheiten, die Kiloho-ee uns von diesem Schauspiele aufgehoben, werden hoffentlich hinlänglich sein, einen Begriff davon zu geben und den Lesern zu zeigen, wie weit diese Schauspielerinnen von der Sittsamkeit und Uneigennützigkeit entfernt waren, die den einzigen Charakter der unserigen ausmachen; und wie sehr die Gedichte jener Insel und deren Musik und Ballette neben denen verlieren würden, die wir heutzutage bewundern.

Im Fall man durch diese lange Abschweifung den Faden der Geschichte verloren haben sollte, so erinnere man sich hier, daß Neadarne in die Oper gegangen war, daß Schonkilje ihr Begleiter war, daß er ihr Dinge gesagt hatte, die ihre Schamhaftigkeit beunruhigten; und daß sie dieselben geduldig anhörte, einmal aus Höflichkeit als auch wegen der Unmöglichkeit, sich anders dabei zu benehmen.

Sobald sie den Saal betreten hatten, begann die Oper. Allein keiner von beiden fand darin Zeitvertreib, obwohl Scholuchern Wunder leistete. Schonkilje war verliebt, und da er den Empfindungen der Prinzessin alles zu verdanken haben wollte, schien ihm seine Eroberung noch zweifelhaft. Neadarne ihrerseits begann, ungeachtet ihrer Liebe für Tanzai und ihrer angeborenen Tugend, unruhig zu werden.[174] Sollte sie eine abschlägige Antwort erteilen oder nicht? Sollte sie zu ihrem Gemahl zurückreisen, wie sie von ihm gekommen war? Sollte sie sich des Zaubers der Zwickelbart bedienen? Sollte es kein anderes Mittel geben, sie wiederherzustellen, als das, was man ihr vorgeschlagen? Kann sie es wohl ohne Gefahr brauchen? Der Genius ist liebenswürdig und – was die Sache noch viel schlimmer macht – gibt vor, sie zu lieben; seine Zärtlichkeit ist weit mehr zu fürchten als seine Gewalt. Was für ein Verbrechen für sie, wenn sie endlich der Notwendigkeit nachgibt, ihr Herz dareinwilligt und sich darnach fügt! Gebrechlichkeit ist das Los des Menschen; und sie befindet sich in einer kritischen Situation. Jener unglückliche Prinz, der Gegenstand ihrer feurigsten Sehnsucht, schmachtet in der Trennung von ihr: seufzt schon tief bei dem bloßen Gedanken, was ihr begegnet sein wird; argwöhnt vielleicht bereits ihr Abenteuer. Wie aber, wenn der Zauber der Zwickelbart nichts taugt; doch es muß gut sein, wie kann die Fee sie betrügen wollen, da sie ihres Beistandes bedarf? Angenommen nun, es sei gut, wird sie deshalb weniger strafbar? Hatte aber der Prinz, der Quell ihrer Unruhen, sich nicht der Kukumer blindlings überlassen? Glaubte er nicht anfänglich, daß es eine Göttin sei, die nach seinen Umarmungen lüstete? Und wiewohl er für seine Untreue bestraft worden ist, ist sie deshalb weniger begangen worden? Er hat sie bei seiner Zurückkunft mit einem Traum abgefertigt. Steht es ihm nur allein frei, zu träumen? Wird er ihr aber wohl glauben, wenn sie ihm Gleiches mit Gleichem vergilt? Was liegt endlich daran, und mit was für Recht kann er, strafbar wie er ist, ihr einen unbeabsichtigten Fehltritt vorwerfen, da der seinige mit dem freiesten Willen geschah? Warum hatte er der Kukumer beigelegen? Dies war der letzte Gedanke der Prinzessin, und die Erinnerung der ihr angetanen Beleidigung wurde Ursache, daß sie Rache beinahe für notwendig hielt.[175] So gefährlich ist es, eine Frau gereizt zu haben. Doch beim Licht besehen, kommt es auf eins hinaus, ob man sie gereizt hat oder nicht.

Schonkilje verlor, wie man hat sehen müssen, bei der kleinen Überlegung nichts, die die Prinzessin bei sich anstellte. Er hatte alle die Bewegungen beobachtet und der Blick, den sie auf ihn warf, als sie mit jener Untersuchung zu Ende war, hatte ihn belehrt, wie sie jetzt gegen ihn gestimmt war. Obwohl er gegenüber der Prinzessin so getan hatte, als wüßte er die Ursache nicht, die sie zu ihm führte, so war er dennoch von der Kukumer ganz genau davon unterrichtet worden. Diese hatte ihm keinen Umstand des ganzen Abenteuers verschwiegen, indem sie die Schöne herausstrich, deren Besitz sie ihm gesichert hatte.

Unstreitig hatte er, bloß um Neadarnens Gesinnungen kennenzulernen, sie genötigt, ihre Geschichte selbst zu erzählen. Wenig daran gewöhnt, sentimental zu lieben, hatte er anfänglich gedacht, sich trotz ihres Sträubens glücklich zu machen; indessen hatte die außerordentliche Schönheit, Tugend und Bescheidenheit der jungen Dame seinen Begierden mehr Nahrung gegeben. Die Liebe, die sie für einen anderen hegte, diente nur dazu, die seinige lebhafter zu machen. Er stellte sich ein außerordentliches Vergnügen darunter vor, Tanzai aus diesem Herzen zu vertreiben, und je schwieriger ihm der Sieg schien, desto mehr schmeichelte ihm der Triumph.

In der Tat, sagte er bei sich selbst, was für ein Vergnügen würde es für mich sein, eine Schöne zu genießen, die, voller Verzweiflung, sich in meinen Armen zu befinden, keinen Seufzer ausstoßen würde, der nicht ein Dolmetscher ihres Schmerzes wäre; die mir über das glühende Ungestüm meiner Liebe Vorwürfe machte; die, ganz einem anderen ergeben, äußerst gebeugt durch den heftigen Zwang, den sie sich würde antun müssen, Augen gegen mich emporhöbe;[176] die, so gebadet sie auch in Tränen waren, nur den Unwillen und den Abscheu ausdrücken würden, den sie gegen mich hegte! Ah, welch ein großer Unterschied ist es, wenn man den Bewerbungen seiner Liebe so zärtliche Augenblicke zu verdanken hat, wenn man der Urheber seiner Glückseligkeit ist und zugleich das Glück einer angebeteten Schönen mit befördert, wenn man ihre Entzückungen, ihre Verlegenheiten teilt, wenn man sie das Bekenntnis stammeln hört: Ich bete Euch an; sich wollüstig in ihre Arme geschlossen fühlt und ihre Seele mit der unserigen sich verirrt, wenn man sie im Rausch der süßesten Freuden sich selbst verlieren und uns noch suchen sieht, wenn man die entzückendsten Liebkosungen empfängt und in ihren schimmernden Augen das Übermaß ihrer Empfindbarkeit und ihrer Liebe liest?

Ah, Neadarne, fuhr er bei sich fort, welche andere als du würde diese Freuden in reicherem Maße gewähren? Welch eine Seligkeit, dir soviel Liebe einzuflößen, als du erweckst! Wie, ich sollte dich in meinen Armen sehen, jener strengen Tugend entledigt, die du meiner Glut noch entgegensetzest? O Schonkilje! seliger Schonkilje ... Ach! er würde vor Freuden darüber sterben. Aber anbetungswürdige Prinzessin, wendet es nicht ab, jenes Auge voll Liebreiz! Laßt mich trunken werden von der Wonne, Eures Anblicks gewürdigt zu sein. Ach! ich lese weniger Zorn in Euren Blicken, aber noch immer finde ich Gleichgültigkeit darin!

Während dieses ganzen schönen Monologs betrachtete Schonkilje unablässig die Prinzessin, und die Prinzessin mied in der Tat Schonkiljens Augen nicht. In diesem Augenblick ertönte ein so zärtliches Adagio, daß sein schon bewegtes Herz nicht widerstehen konnte. Der Genius ergriff ihre Hand und küßte sie, aber mit so lebhaftem Ausdruck, daß Neadarne, durch so viel Liebe gerührt, seine Hand etwas feurig drückte. Sie hatten sich beide in der[177] Loge zurückgelegt, und zum Unglück für Neadarne entzog ein Gazevorhang sie den Zuschauern. Schonkilje, außer sich, nahte sich ihr. Der glühendste Kuß, den er der Prinzessin raubte, zog sie nur aus ihrer Verwirrung, um sie von neuem und noch stärker in dieselbe zu versetzen. Solange diese Verwirrung dauerte, drückte Schonkilje die verliebtesten Küsse auf die Lippen der Prinzessin. Endlich wurde er so unternehmend, daß Neadarne wieder zu sich kam, nach dem Vorderteil der Loge zurückstürzte und ihre Tugend aus der gefährlichsten Lage rettete, worin sie sich je befunden hatte. Wer sollte es glauben, daß man in der Oper so viel Gefahr liefe! Schonkilje, voller Verzweiflung über einen so unerwarteten Rückfall, ließ sich wieder bei der Prinzessin sehen, und alle beide sahen so betroffen aus, daß der Hof sich nicht enthalten konnte, darüber zu lächeln.

Neadarne, die diese boshafte Äußerung bemerkte, wurde rot und kam so außer Fassung, daß, wenn die Oper nicht gleich zu Ende gewesen wäre, sie ganz zuverlässig fortgegangen wäre. Sie schämte sich so sehr über das, was vorgefallen war, daß sie Schonkiljen nicht antwortete, ja ihn nicht einmal ansehen wollte, selbst in dem Garten nicht, wohin er sie führte, um ihr das Vergnügen eines prächtigen Feuerwerks zu verschaffen. O Tugend! wie weit geht deine Macht! Wenn Wollust dich beleidigt, wenn du nur allein die Seele einnehmen darfst, so vertreibe sie entweder ganz aus derselben, oder plage sie nicht mit Gewissensbissen.

Quelle:
Claude Prosper Jolyot Crébillon: Der Schaumlöffel. Leipzig 1980, S. 171-178.
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