Erster Auftritt

[9] Herr Orgon, Philipp.


HERR ORGON anfangs allein. Ich sehe niemand im ganzen Hause!


Er sieht nach der Uhr.


es ist doch schon spät genug! Linker Hand, sagte man, soll er wohnen! Heh!


Er klopfet an.


PHILIPP inwendig. Gleich, wer pochet denn so früh?


Er geht heraus.


Was wollen Sie, mein Herr? Herr Timant schläft noch, und Sie können nicht zu ihm kommen. Ich will Sie melden; woher kommen Sie? Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wo gehen Sie hin? Sind Sie fremde oder einheimisch? Was bedienen Sie? Darf man Ihnen auch trauen? Geschwind, wer sind Sie?

HERR ORGON. Du kennest mich nicht, Philipp? Was sollen alle deine Fragen? Ich sehe, mein Sohn ist fleißiger bewacht, als manche Festung. Du fragest mich aus, wie man die Leute am Stadtthore ausfraget. Ich sollte dir wohl auch einen falschen Namen sagen.

PHILIPP. O gnädiger Herr! sind Sie es, oder sind Sie es nicht? Ja, wahrhaftig, ich glaube, Sie sinds. O ich bitte um Verzeihung; wir haben einander schon lange nicht gesehen. Wie befinden Sie sich? Was für ein Glück bringt Sie hieher? Zu Hause ist doch alles gesund?

HERR ORGON. Nun, du bist heute gar voll Fragen: ich will dir ein andermal antworten. Ich habe meinen Sohn schon seit zehn Jahren nicht gesehen. Ich brenne recht vor Begierde, ihn zu umarmen; führe mich geschwind zu ihm.

PHILIPP. Ey! mit Ihrer Erlaubniß, gnädiger Herr! das kann nicht seyn.

HERR ORGON. Das kann nicht seyn! Und warum?[9]

PHILIPP. Ey! mein Herr schläft.

HERR ORGON. Nun, ich glaube, die Nachricht von meiner Ankunft kann ihm nicht so gleichgültig seyn. Wecke ihn auf; ich will es verantworten.

PHILIPP. Ja, gnädiger Herr, ich thäte es gern, aber das ist unmöglich.

HERR ORGON. Hast du dir vorgenommen, mir heute nichts als abgeschmacktes Zeug vorzusagen? Warum ist es unmöglich?

PHILIPP. Weil die Thüre meines gnädigen Herrn mit nicht mehr, als vier Vorlegeschlössern, von innen her versperret ist; und weil er, wenn ich Lärmen machte, mir leicht mit einer von denen sechs Pistolen, die allemal geladen vor seinem Bette liegen, einen schlimmen guten Morgen geben könnte. Ja, der junge gnädige Herr ist gar böse, wenn er anfängt. Sie kennen ihn noch nicht recht! Gestern Abends, als er auf der Straße gieng, hätte er fast ein groß Unglück angestellet. Der Nachtwächter wollte eben in sein Horn blasen, und die Leute, die sich frühzeitig zu Bette begeben, aufwecken, um ihnen eine geruhige Nacht zu wünschen. Der gnädige Herr aber sah ihn für einen Straßenräuber, und sein Horn für eine Flinte an. Er sprang auf die Seite, zog den Degen; und wenn ich ihn nicht zurück gehalten hätte, so wäre jetzo ein Nachtwächter weniger in der Stadt.

HERR ORGON. Ich bleibe dabey, du bist heute unrecht aufgestanden, und weißt nicht, was du sagest. Mein Sohn kann ja unmöglich so närrische Streiche vornehmen.

PHILIPP. Ob es möglich ist, weiß ich nicht: daß es gewiß ist, weiß ich. Sie werden es schon sehen. Es wird nicht mehr über eine halbe Stunde anstehen, so wird er herauskommen.

HERR ORGON. Aber warum sollte mein Sohn so seltsam thun? Hat er etwa gefährliche Feinde?

PHILIPP. Nein, sein Hauptfeind ist er selbst. Er trau et sich und dem ganzen menschlichen Geschlechte nichts Gutes zu: das nennt er Vorsichtigkeit und Klugheit. Ich bin der einzige, dem er die Gnade erzeiget, sich bisweilen gegen ihn herauszulassen, weil ich nicht lesen und nicht schreiben kann, und mich, wenn ich bey ihm seyn muß, noch dummer stelle, als ich bin.

HERR ORGON. Du träumest! Mein Sohn war ja sonst nicht so. Ich habe zwar schon in seiner Kindheit etwas Mistrauisches an[10] ihm bemerket: aber ich dachte, das wäre gut. Die Welt ist heut zu Tage so böse, so listig, daß man nicht mistrauisch genug seyn kann; und ich bin oft über mich selbst böse, weil ich allen Menschen Gutes zutraue: und das kömmt daher, weil ich sie alle lieb habe.

PHILIPP. Der gnädige Herr Sohn ist ihnen eben auch nicht feind; dienen wird er allen, wenn es ihm möglich ist, aber trauen keinem: und dieser Fehler ist desto größer, weil er bey einem jungen Menschen seltsam ist; eben so, gnädiger Herr, wie es bey einem Manne von Ihren Jahren eine seltsame Tugend ist, den Leuten zu viel zu trauen. Sie beschämen alle Comödienschreiber. Sie klagen nicht über die schlimmen Zeiten; Sie haben mir noch nichts von der schönen Zeit erzählet, in der Sie noch jung waren. Sie können unmöglich so alt seyn, als Sie aussehen; oder wenn gleich Ihr Körper alt ist, so ist doch Ihre Seele noch in den besten Jahren.

HERR ORGON. Ich sehe, Philipp ist ein Redner, und gar ein Philosoph geworden, seitdem ich ihn nicht gesehen habe.

PHILIPP. O! was lernet man nicht in der Stadt! Auf dem Lande war ich ein Dummkopf: aber jetzo, ob ich schon weder lesen noch schreiben kann, glaube ich doch für einen Bedienten Verstand genug zu haben, und ich vertauschte mich mit keinem andern.

HERR ORGON. Ich glaube es. Sage mir aber, was ich von deiner Erzählung wegen meines Sohnes denken soll! Du hast mir ganz bange gemacht. Ich habe ihn freylich seit zehn Jahren nicht gesehen; er hatte sonst die gewöhnlichen Fehler der Jugend nicht an sich.

PHILIPP. Die hat er auch noch nicht! Er ist nur zu altklug, zu vorsichtig. Gleich anfangs, wie er in die Stadt kam, kam er in schlimme Gesellschaft, wo man übel mit ihm umgieng: seit dem glaubet er, jedermann sey so betrügerisch. Er hält oft mitten im Reden inne, um nachzudenken, ob man nicht aus seinen Worten etwan eine gefährliche Folge ziehen könnte. Wenn zwo Personen auf der Straße miteinander reden, so glaubet er, sie reden von ihm. Wenn man ihm freundlich begegnet, so glaubet er, man habe ihn zum Besten, oder man wolle ihn betriegen. Thut man gleichgültig, so glaubet er, man suche Händel an ihm. Neulich war er in der Comödie; und da man über den Arlekin lachte, so glaubte er, man lache über ihn, und gieng voll Zorn hinaus. Herr Geronte, der hier im Hause wohnet –[11]

HERR ORGON. Herr Geronte wohnet hier im Hause? Seit wann denn?

PHILIPP. Erst seit kurzer Zeit. Den Saal, in dem wir jetzo sind, hat er gemeinschaftlich mit meinem Herrn. Er ist ein guter alter Herr, der alles hübsch deutsch heraussaget, was ihm vor den Mund kömmt. Der hielt ihm jüngst eine Predigt über sein Mistrauen, und sagte ihm alles aufrichtig heraus. Wie er weg war, sagte mein Herr: Wie kann sich doch der Mann verstellen! Er muß etwas Wichtiges darunter suchen.

HERR ORGON. Auf die Art, wie du mir meinen Sohn beschreibst, so wird er nicht wissen, was er von meiner unvermutheten Ankunft denken soll.

PHILIPP. Das weis ich so wenig, als Er? und die Wahrheit zu sagen, ohne so argwöhnisch zu seyn, bin ich vielleicht eben so neugierig.

HERR ORGON. Ich kann dir es wohl sagen; ich denke, meinen Sohn zu verheurathen.

PHILIPP erschrickt. O was sagen Sie da! Er wird über diese Nachricht gewiß ganz närrisch werden.

HERR ORGON. Nu, warum mußt du so ungezogen von deinem Herrn reden? Hat er denn so einen Widerwillen dagegen?

PHILIPP. Das eben nicht, aber –

HERR ORGON. Sollte er etwan sonst wo verliebt seyn? Ich dächte doch, Fräulein Climene wäre schön genug.

PHILIPP. Wie, Fräulein Climene, die Tochter des Herrn Geronte, die ist es, die Sie Ihrem Herrn Sohne geben wollen?

HERR ORGON. Ja, Geronte ist mein alter Freund. Es wäre mir sehr lieb, wenn ich mich genauer mit ihm verbinden könnte.

PHILIPP. O das heißt ein Glück, gnädiger Herr! Diese ist eben die Person, die mein Herr liebet.

HERR ORGON. Das ist mir lieb. Für diese Nachricht sollst du ein gutes Trinkgeld bekommen: aber liebet sie ihn auch wieder?

PHILIPP. Das weiß ich eben nicht zu sagen: ich will mich aber darnach erkundigen. Sie hat ein Mägdchen, das Lisette heißt, ein schlaues listiges Ding. Daß er sie lieb hat, weiß ich daraus, daß[12] er recht thyrannisch mit ihr umgeht, und sie entsetzlich plaget. Neulich ließ sie in Gesellschaft ihren Fächer fallen. Das ist nicht umsonst geschehen, sagte mein Herr; sie muß jemandem dadurch ein Zeichen haben geben wollen.

HERR ORGON. Das ist mir lieb, daß er sie liebet, und ich freue mich schon zum Voraus auf die Freude, die ich ihm werde machen können. Sage ihm aber ja nichts davon, ich befehle es dir recht ernsthaft. Wir wollen schon sehen, wie wir ihn von seiner Krankheit heilen; denn so muß ich sein Mistrauen nennen – Wer kömmt da?

PHILIPP. Das ist eben Lisette, von der ich Ihnen sagte.


Quelle:
Johann Friedrich von Cronegk: Der Misstrauische. Berlin 1969, S. 9-13.
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