[Ein Wildbach kam von einem fernen Gletscher]

[34] Ein Wildbach kam von einem fernen Gletscher.

Laut jubelnd, sprang er über manche Wand.

Die Menschen lauschten auf sein Schaumgeplätscher

Und sahn, wie er im Wüstensand verschwand.


»Bevor die langen Schatten sich verbreiten,«

Begann der Mann zu seinem holden Weib:

»Ist es geboten, durch den Strom zu schreiten,

Da ich im Walde nimmer gern verbleib.«
[34]

Da warf die Frau sich selber in die Fluchen,

Wo sich ein Goldbad über sie ergoß,

Denn langsam starben schon die Abendgluthen

Und selbst ihr letztes Athemroth verstoß.


Die Braut jedoch erfreute sich am Bade,

Sie tauchte unter, schnellte rasch empor,

Wie Flechten reichte ihr das Naß zur Wade,

Um ihre Schenkel flimmerte eine Flor.


Bis ganz herab zum grünen Rande,

Wo sie in kühlen Schäumen lachend stand,

Verschwand sie halb in einem Schaumgewande,

Und jeden Reiz verwandte sie gewandt.


Der Schleier, der sie brausend hell umschmiegte,

War tief von Sprudelgluth durchbebt,

Und wie sie ihren Leib mit Anmuth wiegte,

Hat sie das Funkelspiel stets neu belebt.


Sie ließ das Gold nach ihrem Wunsche fallen,

Rubine träufelten auf ihre Hand,

Dem Manne aber hat das Bild gefallen,

Er trug den Eindruck fort ins andere Land!


Dann blieb er drüben oftmals stumm und traurig

Und sagte nie, warum er schweigsam war,

Doch innerlich ward ihm so kalt und schaurig,

Es träumte ihm von goldenem Frauenhaar.


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 3, München; Leipzig 1910, S. 34-35.
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