[Junger Mond Du gießt die Stille]

[63] Junger Mond Du gießt die Stille

Deines Wesens auf die See,

Denn ein letzter Wellenwille

Wiegt des Meeres weiches Weh.


Wo sich Nacht und Naß umfassen,

Träufeln Thränen auf den Kuß,

Und wo Winde Spuren lassen

Schwimmt ein Schwan im Silberfluß!


Eben taucht ein solcher blasser

Vogel aus den Wogen auf;

Doch verwirbelt gleich im Wasser

Jedes Schemen Wirkungslauf!


Ja sogar ein Schwan, der blendet,

Zeigt sich jetzt fast nirgends mehr,

Und wie Öl, das Frieden spendet,

Schwimmt nun Mondlicht auf dem Meer.


Stille, kurze Stunden senken

Schwer sich über Land und See,

Orpheus aber sucht zu denken,

Denn er scheut das Traumesweh.


Ja, das ist die Zeit der Ängste,

Wenn der Alb die Schläfer quält,

Oder das Gefühl die längste

Schlummerspanne gar nicht zählt.


Aber die Gedanken kreisen

Frei, wie das der Dichter mag,[64]

Und er findet lauter Weisen

Zu des Herzens Rhythmenschlag.


Ach, in seine Trauernetze,

Die er über Wolken sticht,

Ists, als ob ein Weib sich setze,

Und es schimmert sein Gesicht.


Euridike ist erschienen.

Weiß erstrahlt ihr Sterbekleid.

Und mit dichten Mondlichtbienen

Ist die Liebliche beschneit.


Sieh mit bleicher Trauermiene

Blickt sie auf den Wandersmann,

Und um ihre Thaugardine

Drängen Englein sich heran.


Oh, wie bluten seine Wunden

Und wie pocht sein Puls so wild!

Wie? der Traum ist schon verschwunden?

Wolken wallten vor das Bild!


Nimmer wird er sie erblicken,

Da sie weit von dannen weilt,

Und er selbst glaubt zu ersticken,

Da ihn Nebel rings ereilt.


Selbst die höchste Sternenkrone

Hüllt sich tief in Dünste ein,

Und der Wind seufzt, wie zum Hohne:

Orpheus, oh, Du bist allein!
[65]

Streckt das Meer die Nebelarme

Nach des Mondes Sichelglanz,

Wallen Nymphen mit dem Schwarme

Flügger Elfen flugs zum Tanz.


Doch die Schemen, die da schwanken,

Sind ein finsteres Spukgemisch,

Etliche von ihnen zanken

Sich bereits um einen Wisch!


Wie sie auf und nieder fliegen,

Füllt sich rings ihr Tummelplatz.

Will ein Nix ein Kebsweib kriegen,

Hascht er sichs mit einem Satz!


Jetzt erwischt des Satans Base

Rasch den drallsten Wolkengnom,

Schwubbs, da reißt die ganze Blase

Einen Papst in ihren Strom.


Alle diese Zwitterbilder,

Klepper, Hektiker aus Schaum,

Sind des Meeres tückischwilder

Ungestümer Nebeltraum.


Alles was der Mond besessen,

Seelen, Stürme, Blitz und Meer,

Kann er nimmer ganz vergessen

Und er hat danach Begehr.


Um den Durst von ihm zu laben,

Wühlt die Erde Wolken auf,

Jeder Stern verschwendet Gaben,

Hülflos oft im Weltenlauf!
[66]

Auch die Träume schwerer Nächte

Sind der Mondsucht leicht verwandt,

Und die Weiber herzen ächte

Wichte oft als Albpassant.


Flegel, die sich Träume miethen,

Kobolde und anderes Pack,

Sind verirrte Seleniten,

Meistens voll von Schabernack.


Denn es fluthen auch die Seelen

Nachts dem Monde lüstern zu,

Und Lunatiker vermählen

Sich sogar mit Hund und Kuh.


Nebel, Schrullen, Träume gleichen

Sich im tiefen Wesenskern,

Und sie mimen, necken, schleichen

Mit einander riesig gern.


Ansichten, die längst veralten,

Finden noch den letzten Halt,

In den grausen Angstgestalten,

Die ein Traum zusammenballt.


Schlüpfen sie darauf in Hüllen,

Die der Nebel ihnen leiht,

So verdüstern und erfüllen

Sie die Nacht mit Neid und Streit.


Juden, die sich überlisten,

Lumpen, Lüstlinge aus Dunst,

Diebe zwischen Silberkisten,

Wucherer in hoher Gunst,
[67]

Huren, die aus Fenstern nicken,

Alle Laster einer Stadt,

Kann man über sich erblicken,

Wenn man Orpheus Augen hat.


Jedes kleine Menschenleben

Wird im Traum ganz allgemein,

Mädchen, die bei Muttern kleben,

Streben nun zum Stelldichein.


Racker, die ein Fräulein schreckten,

Sieht jetzt, wo, ein Philosoph,

Nonnen, die den Bischof neckten,

Macht bereits ein Geck den Hof.


Traum und Träumer wechseln solche

Albscherwänzer immerfort,

Denn so abgefeimte Strolche

Bleiben nie am selben Ort.


Keine Wesen, Menschen, Thiere,

Ohne Unterschied im Rang,

Sehn jedoch im Hirnspaliere

Diesen Traumzusammenhang.


Einzig Orpheus kann begreifen,

Was sich in sich selbst verkrallt,

Und die Einsicht in ihm reifen,

Daß ein Traum aus allen wallt.


Zwischen solche Fabelfalten

Schwebst Du selbst voll Zuversicht,

Oft kannst Du Dich oben halten,

Denn dann hast Du kein Gewicht:
[68]

Aufgeregte Seelen streben,

Hilflos auf ein Meer gebracht,

Jederzeit ans Land zu schweben,

Doch sie wechseln jede Nacht.


So ein Welttraum überwindet

Dann in sich den schroffsten Spalt,

Denn in der Vision empfindet

Sich der Spuk im Hinterhalt:


Wurzeln doch in unserm Wesen

Schlundgewalten aus der See.

Was aus Muscheln sich gelesen,

Zeigt sich heute als Idee.


Wolken, Wälder, was an Thieren

Je auf Erden aufgestampft,

Wird sich nimmer ganz verlieren,

Denn es bleibt in uns verkrampft.


Durch den Hang zum Flug erwachen

Wir oft schlafend in der Luft,

Trachten wir uns loszumachen,

Hangen wir in einer Schlucht.


Jagen uns auf einmal Drachen,

Die der Kummer aufgewühlt,

Trachten Mächte zu erwachen,

Die schon manchen Tod gefühlt.


Ja, beim Seelenrundgang finden

Alle Albe jedesmal

Schläfer, die sich angstvoll winden,

Und sie steigern dann die Qual.
[69]

Jener Schlund, der in den Heerden,

Hie und da auf einmal gähnt,

Daß sie plötzlich störrisch werden,

Und man sie besessen wähnt,


Öffnet sich bei uns im Schlummer,

Öfters grundlos, wie im Schaf,

Und dann folgt zumeist ein krummer

Sturz zurück in festen Schlaf.


Das was da ist, wird zur Beute!

War der erste Weltbeschluß,

Doch die Leute leben heute

Häufig bis zum Überdruß.


Auch die Hausthiere verrecken

Gar nicht selten im Verlauf,

Doch die tiefen Todesschrecken

Tauchen noch in ihnen auf.


Selbst den Menschen halten Ketten

Oft im Traum an einem Fleck,

Und er kann sich nirgends retten,

Panisch ist auch dieser Schreck!

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 3, München; Leipzig 1910, S. 63-70.
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Das Nordlicht (Florentiner Ausgabe)
Theodor Däubler - Kritische Ausgabe / Das Nordlicht

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