[Orpheus fühlt sich ganz verlassen]

[98] Orpheus fühlt sich ganz verlassen,

Aber nirgend mehr allein:

Denn jetzt werden Wolkenmassen

Mit den Winden handgemein.


Schrecklich rauscht es in den Pappeln.

Streiten Störche um ein Nest?

Oder wiegen sich und zappeln

Lauter Leichen im Geäst?


Ringsum rüttelt jetzt die Briese

Träge Nebel aus dem Schlaf,

Und es zeigt sich auf der Wiese

Schon so manches Lamm und Schaf.


Die gehetzten Wolken drängen

Immer mehr zum nahen Tann,

Viele bleiben drüben hängen

Und verflüchtigen sodann.


Orpheus weiß nun noch genauer,

Wie vor ihm die Braut zerging,

Als sie beide eine Trauer

Und der gleiche Traum umfing.


Mit den Seelen und den Fluren

Träumen auch die Todten mit,

Und da folgt auch Orpheus Spuren

Euredikens leiser Schritt.


Ja, der Sänger hat die Schrecken

Unserer Unterwelt gesehn.

Um die Todte zu erwecken

Mußte er zu Geistern gehn.
[99]

Was nicht möglich zu ergrübeln,

Gab ihm unbewußten Muth:

Hinter kundenvollen Übeln,

Fand er sie in holder Hut!


Nicht allein ist sie vergangen:

Sie verschwand mit ihrer Schaar.

Erst verblaßten viele Wangen

Dann ihr Bild, zuletzt das Haar.


Um sie wiederum zu finden,

Will der Dichter noch einmal

Die Natur als Traum empfinden

Und er wittert in das Thal.


Doch die graue Dämmerstunde

Hat die Nebel fast zerstreut,

Und es wird ihm wenig Kunde,

Was die Schläfer reut und freut.


Nur im Walde hört er Klagen,

Hei, das knistert im Geäst:

Träume, die nach Beute jagen,

Sind der Schreckniß letzter Rest.


Ähnlich einem Vogelzuge,

Flattern Nebel öfters auf,

Doch der Wind würgt sie im Fluge,

Und sie lösen sich zu Hauf!


Auch der Schläfer Jagdbegehren

Hat sich vielfach jetzt entzäumt,

Und, um noch den Schreck zu mehren,

Wird von Hunden mitgeträumt.


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 3, München; Leipzig 1910, S. 98-100.
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