[Orpheus sieht sich um. Der Unhold ist verschwunden]

[89] Orpheus sieht sich um. Der Unhold ist verschwunden.

Er bemerkt nun, daß er selber laut gesprochen,

Aller Lebensekel scheint ihm überwunden,

Freude ist sogar in ihm hervorgebrochen!


Doch umgeben ihn noch immer Nebelmauern

Und die sangen an, ihn stumm nun zu fixieren,

Allerhand Gestalten sieht er weithin kauern,

Und die meisten weinen, alle aber frieren!


Wie fängt da das Herz des Dichters an zu pochen!

Gleich beginnt er, großes Mitleid zu verspüren,

Und da kommen schon die Schemen angekrochen,

Um, ganz nahe, sein Gemüth noch mehr zu rühren!
[89]

Hurtig schließt der Spuk um Orpheus eine Rette,

Und das ist ein Zug von Greisen und von Vetteln,

Plötzlich grinsen zwischen ihnen auch Skelette,

Die mit ausgestreckten Armen jammernd betteln.


Die Gerippe klappern nun mit ihren Knochen,

Schmerzensschreie mischen sich ins Nachtgewimmer,

Denn es werden Beine irgendwo gebrochen,

Und noch immer wird der Stimmenwirbel schlimmer!


Gar entsetzlich ist zumal das Zähneklappern,

Auch der Dichter zittert jetzt vor Fiebergrauen

Und er stammelt: »Fangt doch endlich an zu plappern,

Da sich hinter Euren Kiefern Worte stauen!«


Da beginnt der Haufe sich erst freizulachen,

Und dann quiekt ein Stimmchen, gerade noch verständlicht

»Orpheus, endlich sollte doch Dein Geist erwachen,

Deine Eitelkeit und deine Brunst sind schändlich!


Ringe nicht nach Mitleid, spar es Dir zum Troste,

Denn wir stiegen aus den Gräbern, Dich zu warnen;

Die Mänaden, die Dein herber Trotz erboste,

Rüsten sich, um Dich bestimmt noch zu umgarnen!


Bleibe lieber gleich im bleichen Schattenreiche,

Menschen wirst Du nichts als Zank und Arger bringen,

Prügeln sie sich schließlich noch um Deine Leiche,

Heißt das wirklich nicht ihr wildes Herz bezwingen!


Weshalb sehnst Du Dich zurück zum Erdenjammer?

Furcht und Elend peinigen die falsche Menge,

Nur aus Hunger schwingt der Mensch den Eisenhammer,

Schmerzlich tönen aller Arbeit Sonnenklänge!
[90]

Dumm und nutzlos sind dort oben Eure Kämpfe,

Seid bedacht, daß das Erworbene nicht zerstiebe,

Trachtet, daß die Weisheit Eure Schmerzen dämpfe –

Doch das leisten schon, zum größten Theil, die Diebe.


Um ein Mittelmaaß von Menschen zu erhalten,

Muß ich sagen, daß ich Angst und Sorgen schätze,

Auch läßt sich der Bürger gern im Zügel halten,

Sind Verbrechen der Prätext für die Gesetze!


Um Euch vor Betrug und Spottlust zu beschützen,

Wollt Ihr Eure Seelen zäumen und verriegeln,

Doch begänne die Kultur sich abzunützen,

Würdet Ihr nicht stündlich sie dadurch besiegeln!


Wahrlich, für das Glück und etwas Zucht der Rotten

Sind die kleinlichen Alltäglichkeiten trefflich,

Doch ein guter Sonntag mit Gesang und Zoten

Bleibt für jeden Höllenspötter unnachäfflich.


Wisse, Elend und das Eigenfesselnschmieden

Sind für Euch das Einzige, nicht blos das Beste;

Denn durch Hunger und Robotten wird vermieden,

Daß der Feiertag die ganze Welt verpeste.


Orpheus, auch Du selber solltest nicht vergessen,

Daß Du nur ein Wüstenwandler bist und nimmer,

Sündhaft, nur dem Geist zu leben, Dich vermessen;

Höre unter Deinen Schritten das Gewimmer!


Das was Dein Verstand nicht wagt bei Tag zu denken,

Kannst Du wenigstens im Traume klar empfinden,

Darum lasse Dich durch unsere Einsicht lenken

Und versuche Dein Gewissen Nachts zu finden!
[91]

Weise ist, wer auf das Wünschen ganz verzichtet

Und Respekt vor allem hat, auch vor dem Bösen!

Glaub mir, was in Dir, verkindlicht und gedichtet,

Schmerzt und leidet, wird sich bald in Prosa lösen!


Orpheus, folg und hilf uns wiederzuerstehen,

Schaff in unserm Sinne oben eine Wendung;

Und wenn unsere Ersten zu Euch übergehen,

Glauben wir dann alle hier an Deine Sendung.


Bettler sind wir nicht, die auf die Kniee fallen,

Doch bevor wir ganz in Nacht und Nichts vergrauen,

Bitten wir, laß unsere Worte laut erschallen,

Daß wir, ihnen nach, uns noch am Licht erschauen.«

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 3, München; Leipzig 1910, S. 89-92.
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