[Ich kenne in mir selbst ein Thal, wo alle Bäume]

[12] Ich kenne in mir selbst ein Thal, wo alle Bäume,

In Fliederbleiche, zu einander Grüße wehn,

Wo längsterlebte, starrgewordene Schreckensträume

Wie Gletscher über Wolken in die Tiefe sehn.


Ich liebe dieses Thal, um mich herauszusehnen,

In weißen Schlössern herrscht mein einziger Feind,

Im Weiher spielen seine Kinder mit den Schwänen

Und meine Spötter sind in Lauben laut vereint.


Ich nahe einem hohen, offenen Gartengitter,

Ich möchte mich versöhnen, doch da bellt ein Hund,

Dann eine Meute, rings umschwirrt mich Astgeknitter,

Ich laufe, Jemand ruft: Verfluchter Vagabund!


Das Thal ist lang, unendlich seine Duftalleen,

Ich stürze meinem eigenen Schrecken hilflos nach,

Dann bleib ich, wie ein Hirsch, den man getroffen, stehen,

Ich wittre, – ja, man beißt mich, ach, der argen Schmach!


Ich lebe noch, somit kann ich noch weiter leben,

»Ich bitte!« sprechen Wege höhnisch rings um mich,

Wohin? Um nicht am gelblich gleichen Fleck zu kleben –

Hinweg vom Wahn! Mein Ich, laß endlich mich im Stich!


Es geht, wenn mans vermag, und schließlich kann man helfen,

Ich wandere stiller fort und nahe einer See;

Ich siegte selbst, – hinweg sind alle Märchenelfen, –

Dort unten schweigt der große Freund von meinem Weh.


Das Meer ist grau, doch urgesund und brandet,

Um nicht der Fiebersterne Ruhebett zu sein,

Es ist der Strand von starkem Algenhauch umrandet;

Es schlürft mein Wesen sein Geheimniß lüstern ein!
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Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 12-13.
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