[Die Kuppen der Berge sind Eisgötterzelte]

[143] Die Kuppen der Berge sind Eisgötterzelte,

Und rings auf den Felsen liegt überall Schnee,

Im Thale erdrosselt der Frühling die Kälte,

Und oben verschanzt sich die Winterarmee.


Wenn westliche Winde dann wonniglich wehen,

Ergrünt um die Eisburg ein lebender Wall,

Die silbernen Panzer verschrumpfen, zergehen,

Und Waldstimmen lispeln vom Schneefestungsfall.


Bald sieht sich der Winter im Lager umzingelt,

Er reißt seine Zelte ab, groß ist die Wucht.

Es hat sich der Schnee schon wie Leinwand geringelt

Und stürzt als Lawine hinab in die Schlucht.


Es tragen die Flüsse die Lenzbotschaft weiter,

Die Schneereste schmelzen, vermischt mit dem Gischt,

Es blühen die Mandeln, der Himmel wird heiter,

Der Winter hat weithin Italien erfrischt.


Den Gießbächen jubeln die Schwalben im Thale

Voll Freude entgegen und alles erblüht,

Das Wasser entbraust jedem Bett und Kanale,

Der Frühling kam diesmal besonders verfrüht.
[143]

Die Thauwinde kräuseln die lauen Gefilde,

Da tauchen die Blüthen wie Schaumkämme auf,

Die Weiten umschlingt ihre milchigste Milde,

Stets weißer, blos weiß wird des Lichtlenzes Lauf:


Wie Inseln, umbrandet von schäumenden Wassern,

Erscheinen die Villen, in blühender Au,

Und bergen die Träume von Daseinsvergessern,

Denn oft wohnen Denker in marmornem Bau.


Es rastet die Fluch dort, um ruhig zu wirken,

Und rings bilden Myrthen und Schlehdorn den Haag,

Es treiben bereits viele Linden und Birken,

Und zwischen den Blattern liebäugelt der Tag.


Die langen Alleen beschatten Zypressen,

Ein Teich aber scheint sich durch Rosengerank

Und anderes Dickicht im Park einzupressen,

Und Lorbeer umdunkelt den Gartensfluthgang.


Dem Weiher entragt eine Inselterrasse,

Die gleicht einem Schiffe, das Wasserkraut hemmt,

Im Seerosensumpf steckt die breite Rumpfmasse,

Von Blüthen ist selbst das Verdeck überschwemmt!


Dort oben, am Steinboot, im Frühlaub verborgen,

Enttaucht eine Statue, der Flora geweiht,

Doch sieht man kein Mädchen für Lenzopfer sorgen,

Man nennt das den Ort, wo die Kirsche gedeiht.


Es stellte der umbrische, edle Gestalter

Des Bildes die Reine ins friedliche Grün,

Jetzt singen die Vögel und tanzen die Falter

Davor und umher, wenn die Sträuche erblühn.
[144]

Es braucht ihr kein Mensch seine Huld zu bezeugen,

Und bleibt auch das Standbild im Dickicht versteckt,

So werden die Bäume sich weiter verneigen,

Und jährlich wird Frühlingsglück wieder erweckt!

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 143-145.
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