[Ich habe einst Giganten langsam wandeln sehen]

[296] Ich habe einst Giganten langsam wandeln sehen

[Rand: Andrea del Castagno]

Und nun vergesse ich das Schauspiel nimmermehr,

Dann konnten sie auf einmal nicht mehr auferstehen

Und ich war froh, denn sie bedrückten mich zu sehr.


Nun dachte ich an lauter frische, grüne Dinge

Und pflückte Manches, das sich mir verschwiegen bot,

Ich wußte wohl, wie jeder Übermuth verginge,

Und dennoch floh ich jede große Lebensnoth.


Doch plötzlich sind sie wiederum vor mir entstanden

Und haben schrecklich sich der Kleinlichkeit entreckt,

Es sind das Königinnen, Fürsten wilder Banden,

Ein Tisch, den man für Weltgewissen fromm gedeckt.


Ihr Riesen dürft mich aber nimmermehr bezwingen,

Zwar seid Ihr größer als der allerhöchste Thurm,[296]

Doch will ich gegen alle Hindernisse ringen,

Es braust in mir ein Sturm, es wühlt in mir ein Wurm!


Ich höre in mir selber eine Hölle heulen,

Weg von der Erde, Ihr Titanen dieser Stadt!

Es packt der Geist die Thürme, schwingt sie stark wie Keulen,

Jetzt findet eine Schlacht, vielleicht im Jenseits, statt!


Es lacht ein Riese, lacht ein grünes Runzellachen.

Das kann der Wille. Wächst er doch durch ihn empor!

Erscheint mir Pan? Kann der durch meine Wuth erwachen?

Ich wälze Felsen und jetzt lacht ein Echochor.


Es bleibt kein Thurm. Ob ich denn nicht zum Kampfe tauge?

Der Dom allein ist übrig. Darf ich ihm nicht nahn?

Der Riese wächst. Der Mond ist sein Zyklopenauge.

Der Dom beharrt. Er wankt durch keinen Größenwahn!

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 296-297.
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