[Oh Farbenstadt Venedig, dir zu Füßen]

[43] Oh Farbenstadt Venedig, dir zu Füßen

Verstreut und legt ein grüner Strom Juwelen,

Das Meer will jedes Dogenhaus begrüßen,

Es dürfen nirgends Fluthgeflechte fehlen.


Auf himmelblauem Dunkelgluthengrunde,

Verbrähmt und strickt das Meer vor jedem Schlosse

Prunkteppiche, und seiner Tiefe Funde

Umschwärmen leuchtend jede Seekarosse.


Harmonisch sind des Meeres Sonnenstoffe.

Vor Marmortreppen webt es Züngelspitzen

Und droht verfinsternd steil das Gothisch Schroffe,

So hilft es sich mit Silberwirbelwitzen.


Die reinsten Flammen sind Türkisen, Rauten,

Doch hebt das Meer oft ganze Perlenspiegel,

Narzissen schwemmt es vor die Schimmerbauten

Und rothe Nelken vor Verwitterungsziegel.


Ein wahrer Prachtdamast ruht vor den Stufen

Der Muttergotteskirche »la Salute« ,

Das Meer hat allen Prunk emporgerufen,

In diesen Teppich wirkt es Grundtribute.


Die Kirchenkuppel blickt mit mildem Auge

Zur Spenderin der Reinheit auf, zur Sonne,

Da scheint es fast, als labe sich und sauge

Ein Tempelwunsch am stillen Milchtagsbronne.


Venedig, die Empfindungsinseln stiller Stunden

In deinen Fluchen, geb ich dir in Liedern wieder,

Venedig, bunte Fernen sind in dir verbunden,

Verschwundene Numen öffnen hier die Schlummerlider.
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Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 43-44.
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