[Venedig, deine Marmorsäulenwälder]

[34] Venedig, deine Marmorsäulenwälder

Durchstreif ich tausendmal und gerne,

Sie sind die bleichen, steinernen Vermelder

Versunkenen Seins in Meer und Nebelferne.


Arkadien bist du unsrer Welt geworden,

Zu Menschenlust von Menschen aufgerichtet,

Schufst du Oriente frei in Welschlands Norden,

Und Hellas Geist hat über dir gedichtet.


Doch ist Arkadien nicht durch dich gefallen?

Oft ward das Leben in besiegten Ländern

Wild von Venedigs scharfen Löwenkrallen

Zerzaust, denn so gefiel es Machtverschwendern.


Die Forste breiter Berge, die verkarsten,

Verschwanden bald im Schlamm, wo sie verschimmeln,

Die Eichen, die einst Abhangfelsen barsten,

Versteinern, wo jetzt Kellerasseln wimmeln.


Arkadien hat sich früher ausgebreitet,

Es rauschten Bäche durch Illyriens Schluchten[34]

Zu Leuten, die sich dort ein Glück bereitet;

Venedigs Flotten lagen in den Buchten!


Erwürger trugen sie, roh und verwegen,

Erpresser, die des Landes Kraft entwalgten;

Es heulten ihnen Stürme zwar entgegen,

Die Felsquelladern rings verkalkten,


Doch blieb der Leu auf seinen braunen Matten;

Dann bargen sich die Krumen unter Steinen;

Und Wolken werfen nun violette Schatten

Auf Friedhöfe von Urwäldern und Hainen.

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 34-35.
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