Die Heerstraße

[513] Das ist ein Wunsch und doch ein Lied vom Wahren!

Die Freiheit ist Gebot, und wenn auch ferne

Muß einst der Mensch sie leidvoll offenbaren.


Erschaut vor Euch die Zuversicht der Sterne.

Denn Nacht ist es, wenn Völker weiterschreiten;

Wir alle sind ein Stern in unserm Kerne.


Nun seht, wie sich die Fluren stumm verbreiten,

Und jeder Windhauch bringt Euch seltene Stimmen:

Es ernten Wesen wohl auf allen Seiten.


Im eigenen Heime soll man heimwärts klimmen,

In seinem Garten sich nach Eden sehnen,

Und, einsam, über jede Flucht ergrimmen.


Doch die, vor denen sich die Wege dehnen,

Weil wir uns selbst zu Plötzlichem berufen,

Erspähen unaufhörlich ferne Lehnen.


Denn wir, die wir die Welt zum Wandern schufen,

Vermuthen einen Weg hinter den Sternen

Und sinnen furchtlos über Todesstufen.


Wie gut, daß wir uns nicht im Flug entfernen,

Wir träfen nichts als Luft und Todesfröste:

Die Pilger müssen aber segeln lernen.


Wie froh ich bin, daß ich mich frei beköste,

Daß ich mit Frömmigkeit im Meere fische

Und opferstumm im Wald die Speisen röste.
[514]

Ich lobe mich, bei jedem Mahl, zu Tische.

Der Erde bin ich nahe und dem Feuer,

Damit ich Freude ins Erfahren mische.


Wie wird der Lebenswunsch doch ungeheuer,

Bedenkst Du, daß wir schaffend uns erhalten,

Denn das Gewohnteste wird stündlich neuer.


Ein Volk, das glauben kann, wird nicht veralten!

Nach Jugend hat die Ewigkeit Verlangen.

Und heiter macht allein das freie Schalten.


Auch mag uns ob der Greise nimmer bangen,

Die sind die Warnenden in unserer Mitte,

Doch wird ein Kluger nie zu sich gelangen!


Ich mag das Volk. Es wittert seine Schritte!

Es ist ein Kind und lehrt das rasche Lernen

Und weil es liebt, verliebt es sich in Sitte.


Die Völker ernten unter stillen Sternen

Und lieben ihre Priester, die sie leise

Von ihrem Leib und Leibesspuk entfernen.


Das Weltgedicht gelingt auf diese Weise,

Denn unfrei ist es, weich sich gehen lasten,

Und tiefster Freiheit gilt die Leibesreise.


Ihr sollt in Euch den Freiheitsstaat erfassen,

Denn der seid Ihr, nicht Eure Sittlichkeiten,

Die sind der Sinne blasse Hintersassen.


Vermuthet nur die heitern, alten Seiten,

Doch gegen Kommendes bleibt unbefangen,

Es mag oft Frommes Euch entgegenschreiten.
[515]

Ein jeder wird zu etwas Sein gelangen,

Denn das Gewissen kann Vernunft erzwingen,

Und plötzlich wird ihr Aufglimmen empfangen.


Erst mögen Völker ihren Ernst ersingen!

Dann dürfen sie aus Stürmen sich entfernen:

Die Freiheit strahlt aus jäherkannten Dingen:


Es ist in uns der Stern, nicht in den Sternen.


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 513-516.
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