Die Seele

[509] Der Geist ist Freiheit, volles Daseinswollen.

Die Seele sein Bestand unter Gesetzen,

Die unerfaßt ihre Gewalt entrollen.


Es ist das Leid des Geistes Erdentsetzen:

Der Schmerz erblaut, wo sich die Freiheitskinder

An Schranken ihrer Lieblichkeit verletzen.


Der Mensch, der Freiheit herrlichster Entbinder,

Und seine Seele, selber eine Brücke,

Betritt den Weg zum Zweifelüberwinder.


Wer ist der Mensch? Hier zeigt sich eine Lücke.

Es giebt nur Wesen. Mehr und minder freie.

Was ist die Welt? Ein Raum verwandter Stücke?


Der Geist, der sie benennt, bekräftigt dreie.

Sich selbst und das, woran er zerrt und haftet:

Als Drittes Gott, der Wunsch, daß er gedeihe.


Ihr alle, die Ihr Euch als Wesen schafftet,

Um sterblich Euer Dasein zu umsäumen,

Vergeßt nicht, daß Ihr Euch, Euch selbst entrafftet.


Man lebt, um sich aus sich emporzubäumen

Und nichts Zertrümmerbares zu verschonen:

Die Wahrheit ist in Euern Wahrheitsträumen.


Wird einst ein Freierer auf Erden wohnen?

In Euch, nicht in der Zeit ist er enthalten!

Ihr selbst bergt Gottes Insichselberthronen.
[510]

Ihr fliegt durch Euer geistbeherrschtes Walten.

Der Erzengel zertritt die Fleischgesetze.

Ihr lebt in Schranken und müßt dennoch schalten!


Der Geist verheißt die Blutbeschwörungssätze:

Ihr sollt nicht an den Zwangsinstinkten hängen,

Denn seht, Gesetze selbst sind Sinnesnetze.


Drum seid! Ihr lebt allein in Euern Sangen!

Es ist die Gottheit blos das Selbstsichwollen,

Drum kommt zu Euch in Euern Lebensgängen!


Die Sonnen, die nach Normen abwärtsrollen,

Sind sterblich und somit des Himmels Lügen:

Das Licht ist Trug und blos der Schein des Vollen.


Es ist das Gegentheil vom Grundgenügen.

Es stürzt aus sich, um Scheinheit anzuzünden,

Denn nur der Tod wird stumme Wunder fügen.


Des Todes Majestät kann Werke gründen!

Er ist das Innenthum der holden Dinge,

In ihm erscheint der Trumpf von allen Bünden.


Oh Tod, wenn ich vor Deinen Quellen singe,

So ahne ich die weihereichen Lichter,

Durch deren Huld ich mich zum Grunde schwinge.


Die Sonne ist ja Schein! Und ich, der Dichter,

Bin aller Dinge Tod! mein Grunderbeden!

Herr Zebaoth, unendlicher Vernichter,


Zermalme mich! Es soll die Freiheit leben!


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 509-511.
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