Astraler Gesang

[573] Der Zeichendeuter:


Ein neuer Mond ist in den Menschen aufgegangen!

Er blinkt in uns, vom Grunde nächtlicher Pupillen,

Und kühlt der Daseinsflammen nordisches Verlangen.


Der Mond der SeelenSee beschwichtigt jeden Willen!

Er ist ein Stern. In ihm bespiegeln sich die Sterne.

Und blos das Licht der Herzen kann den Schmerz der Welten stillen.


In seiner Ewigkeit versinkt der Sphären Ferne.

Der Sonnen Todessturz muß sein Bewußtsein schüren:

Denn Sterne streben sterbend zum Erkenntnißkerne.


Es scheint das All für unsern Mond den Tod zu kühren.

Er ist der Stern, um den sich alle Sonnen drehen:

Wir werden frei die Milchstraße zum Ursprung führen!


Sein Wesen ist ein helles DurchdieSeelenwehen.

Er ist! Die Sonnen, seiner Tiefe Wiederscheine,

Erhalten Macht und Größe blos von ihm zum Lehen.


Den Mond der Stille heben Seelen, im Vereine,

So heilig in die Nacht der unerkannten Sphären,

Daß Sonnen leuchten: Monde, wie bewußte Steine,


Die Welterkennmißsterne rings um sich verklären.


Chor der Gegenwartsgeister:


An unserer Gegenwart entzünden sich die Sonnen.

In ihnen dunkelt Nacht, doch wir sind ihr Ersunkeln.

Ihr Sonnen strahlt empor: die Mondsicht hat begonnen.


[574] Lied der Sternenkinder:


Der Mond geht auf! Er blickt und schimmert aus Karfunkeln.

Wir tragen seine Sichel, die uns still beleuchtet,

Empor aus Seelen, die sich wieder stumm verdunkeln.


Eine dahinwehende Seele:


Oh, wie das junge Licht mir zart und friedlich deucht.


Ein plötzlich ausleuchtender Komet:


Der Mond, der meinen bleichen Schein so hold entsponnen,

Steigt hoch empor. Er klimmt zu seinem Wahngebilde.

Schon faßt er mich. Ich bin! Nun strahlen alle Sonnen.


Das Heer der Sterne:


Des ersten Meeres Ernst besteht: die Sterne sind blos Schemen!

Es giebt der neue Mond den WerdensWirbeln ihren Kern.

Die Silberwiege, der wir unsere Kindlichkeit entnehmen,

Gewahrt uns Seelenstille, Ernst und Schmerzensgluth zum Stern.


Die sinkende Sonne:


Es träumt und schaut ein Kind aus seiner stillen Silberwiege

In Schauermöglichkeiten, die mich feierlich betäuben.

Des Kindes Wesenshöhe sagt mir, daß ich bin und stiege,

Doch weiß ich, daß sich meine Strahlen vor mir selber sträuben.


[575] Vision der Sonnen:


Die Erde strebt mit ihrer Sonne fort zum Sonnentode,

Doch schwingt sie ihren Leib um unsere Seele, die noch schläft.

Es scheint uns, daß sie alle Hoffnungen zusammenrode:

Wie herrlich wäre es, Ihr Sterne, wenn Ihr einst Euch träft!


Die Erde schweift, mit ihren beiden Monden, mit dem Todten,

Der ewig sich erfüllt und mit dem Lebenden, der glimmt,

Der durch die Sterbensschmerzen klimmt, die eben bleich verlohten,

In unsere Kernesferne, wo der Stern zum Sterben stimmt.


Die Sterne zur Linken:


Die Erde stirbt! Der Todesmond nimmt zu! Wir sind verloren!

Ein blasser Wanderkatarakt umwandet den Planeten.

Zehntausend Seelen sind erkoren. Sie schaun aus Silberthoren

Aus Gletscherriesen, die noch ungeboren sich verspäten.


Die Sterne zur Rechten:


Der Todesmond nimmt ab! Die Erde brennt! Wir sind gerettet!

Der Todesmond verschrumpft zu einem Boote für die Todten.

Die Wanderwabe wächst. Die Zacken werden überglättet.

Das Boot versinkt. Wo sind die Todten? Lauter Mondesboten!


Das Heer der Sterne:


Der junge Mond! Der junge Mond! Zur Wiege wird der Nachen.

Die Silberwiege schützen still die ewigen Nordlichtschleier.

Geschöpfe brachten ihn zur Welt. Nun werden sie erwachen.

Zur Wahrheit ward ein alter Wahn. Das Leid ist eine Feier.


[576] Die versinkende Sonne:


Die Erde trägt mit ihren beiden Monden unser Sterben

Und auch die Hoffnung aller Sonnen durch die Dunkelheiten.

Ein Sonntag wird erscheinen: alle Sonnen hehr beerben

Und in dem Nichts, das uns begreift, die Seeligkeit erweiten.


Chor der Sonnen:


Das Nord und Südlicht unserer Erde sind der Seelen Schwingen,

Doch mehr als Feuerflügel, um sich selber zu entwehen,

Verhüllungen, die fordern, in Geschöpfen zu vollbringen,

Was keine Himmel hoffen, da auch sie zu Grunde gehen.


Das Heer der Sterne:


Das Wunder, das Wunder! Die Welt verwandelt sich in Wahrheit:

Verwunden sind die Dunkelheiten, die ein Wort gebunden.

Es tagt! Ein Herz bricht auf! Uns alle überwältigt Klarheit.

Das Wunder, das Wunder! Die Dunkelheit durchgluthen Wunden.


Seelen, die sich verkörpern:


Ein Mund, ein Mund! Die Stummheit kann sich selbst aus Schmerz verwunden.

Ein Mensch, ein Mensch! Die tiefste Dunkelheit wird sich verlieben.

Ein Mann, ein Mann! Ich glaube nicht: ich trage, spende Kunden!

Der Mond, der Mond! Wir sind in uns voll Ewigkeit verblieben.


[577] Der jüngste Geist:


Die Seelen streben wie Gewitter nach dem festen Norden.

Der Streit ist schrecklich, daß wir fast die Athemtraft verlieren.

Es friert. Bejahe Dich: Du bist zur pursten Gluth geworden.

Nun sprich Dich aus: Das Wort! Es wird zur Ewigkeit erfrieren.


Mein stummgewordener Völkerstamm, geheiligt durch die Kalte,

Die gleich die Silben auf den Lippen abstarrte, jetzt schreie:

»Begeisterung!« Das ist der Blitz, der selbst für Sterne gelte!

Kristallklar wallt die Wahrheit in das Freie.


Der Chor der Sonnen:


Die Erde tragt mit ihren beiden Monden, mit dem stummen

Und mit dem mündigen, die Tragik in den Chor der Sonnen.

Du kennst sie nicht! Sie will sich ganz mit heiliger Gluth vermummen.

Denn sie vernahm in sich das Wort, das unsere Welt begonnen.


Die versinkende Sonne:


Vom Baume, wo die Sonnen blühen, ist die weiße Erde

Schon eine dunkle Frucht, aus der die Wunder wieder sprießen.

Ein Geisterstamm entragt ihr stolz, bis in sein eigenes: »Werde!«

Um sich, von uns getrennt, blos in das Wollen zu ergießen.


Der Prophet:


Vom holden Sonnenbaum, mit seinen lodernden Geboten,

Verlangt es den erblaßten Geist nach reifen Kreisgesetzen.

Die zeigt der Leib. Doch, überschaut, bekleidet er die Todten.

Und dieser Zwist gebiert im Geist geschlechtliches Entsetzen.
[578]

Drum Geist, entrößle das Geschick und unser Sterben!

Es müssen Wunder stumm um Deine kalte Flamme bluten.

Dein jüngster Glaube soll um aller Wesen Demuth werben.

Die Einsicht kann die Sonne mit Umarmungen umgluthen.


Die plötzlich stehenbleibende Sonne:


Des Geistes Hilfe dringt wie warmes Blut in alle Seelen.

Wie nahe mir die Menschen sind! Sie lieben mich in Pflanzen,

In stillen Thieren, denen sie den Weg zu mir befehlen.

Ich brauche kein Gebet! Die Wesen kennen mich im Ganzen.


Chor der Propheten:


Wir sollen zu dem Bäume mit den Sonnen wiederkehren!

Er wird im Frühjahr alle Seelen in die Heimath führen.

Es hat ein Kind nach allen Demuthsweisen Urbegehren,

Schon wirft der Geist sich durch des Fleisches finstere Schauderthüren!


Es überwältigt unser Herr die klügelnden Geschöpfe:

Es wirft sein Wort uns in den Flammenwahn der Leidenschaften!

Den, der da hört, durchdröhnt der Herr, beschwört die widerspenstigen Köpfe

Und bleibt am Marterpfahle, daß er Sonnen trage, haften.


Die plötzlich zurückkehrende Sonne:


Ihr Wälder, Felder, Wehmuthsweisen, Wanderer und Waisen,

Ihr heiligt und beruft mich, durch das Wunder Eures Wesens.

Der Sonntag meiner Auferstehung muß im Blute kreisen:

Ich bin der Segen des unendlich einfachen Genesens.


[579] Ein Schwarm berauschender Gefühle:


Das Wunder! Das Wunder! Propheten wollen uns beleben.

Der Adel der Gedanken bannt den Schlaf der Patriarchen.

Durch unsern Traumestaumel können Todte sich erheben:

Der Geist entsteigt der Welt, wenn rings Kadaver schnarchen.


Der Hellseher:


Ihr freveltet gegen die Welt, jetzt schützt den Geist vor Sünde!

Die Sonne ist der hohe Schooß des goldenen Gotteskornes.

Bestimmt, daß Eure Seele in die See der Milde münde!

Der Baum ist todt! Doch lebt die Gluth der Wunde eines Dornes.


Die sinkende Sonne:


Entrage, Flammenstamm! Umarme alle Wandersonnen!

Vertilge allen Raum: bedinge uns in einem Funken!

Der Norden wahrt das Wort, denn dort hat unser Wort begonnen.

In meinem großen Wollen waltet Gott, in Sich versunken!


Erkeime, Geist. Erstrahle als das Flammenschwert der Erde!

Vernichte alle Finsternissen ihres Pilgerweges!

Ihr Freischeine, ich weiß, daß ich durch Euch vollendet werde!

Das Urlicht bannt uns fest: Der Raum umspannt es: ich zerleg es.


Der Hellseher:


Oh Seelen horcht, aus Sonnenschößen strömt das große Wollen.

Ihr sollt die stolze Adelsart in Lichtgefilde tragen.

Der hohe Norden muß vor sich das Mittagsland entrollen:

In aller Nacht wird ja der Thaten Wahrgewahrung tagen.
[580]

Doch Menschen hört, Ihr seid zu der Begeisterung geboren:

Zu Euch kann jeder Volkstrost, jedes Schicksal Euch geleiten.

Erkämpft den Tag! Führt sein Gespenst hervor aus Nordlichtthoren,

Ob elend, trank, wer sähe das: der Geist wird einwärtsschreiten!


Die sinkende Sonne:


Aus meiner Seele strahle, strahle ich, daß ich einst sterbe.

Aus meiner Erde steigen Geister auf, die mich umarmen.

Ich spende, sterbe, daß die Welt die Ewigkeit erwerbe,

Er wird das stille Wort sich seiner Wanderer erbarmen!


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 573-581.
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