Euridike

[564] Ich weiß nicht, weshalb dieser Sänger mich preist,

Warum er mich immer noch sehnsuchtsvoll ruft?

Ich bin es doch selbst, die ihr Wesen verheißt,

Die alles was auftaucht harmonisch verstuft!


Du Orpheus, sei ewig der Strahl der Idee,

Und ich die unendliche Urmelodie,

Dein wirkliches Lied, alle Sterne, der Schnee:

Dein Leid, unser Heil, mein Weltselbst, das Nie.
[564]

Dein Ich, holder Sänger, ist immer in mir.

Oh, blick Dich nicht um, was ich war, bleibe stumm!

Doch dort, dort vor Dir, jenes furchtsame Thier,

Erbangt ja für Dich: Doch ich bin es. Warum?


Du darfst mich nicht todten! Ich steh wo Du gehst.

Ich wittre und weile, wohin Du gelangst.

Ich wandle als Schmerz, den Du heilsam verstehst:

Ich bin die Panik, aber nie feige Angst.


Ich springe in allem Vergleichbaren auf.

Ich sinke als Hast stumpf vom herbstlichen Ast,

Doch lenke ich auch Deinen leidhaften Lauf,

Bewußt nur durch Dich, Geist und Spende der Rast!


Ich ward von Gedanken in Marmor gebannt

Und harre als Stein auf den Sang, der mir naht.

Ich rufe und winke, mir selbst unbekannt,

Der Stimme, die wo mein Erschauen erbat.


Nun sind wir beisammen! Du blickst ja in mich!

Als jonische Säule erschein ich mir hold.

Dein frommes Erstaunen und Jubeln bin Ich.

Mein weibliches Nacktsein hast keusch Du gewollt.


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 564-565.
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