[Beständig verfärben sich jetzt die Seiltänzer]

[360] Beständig verfärben sich jetzt die Seiltänzer.

Nur einige Luftturner schwenken Prachtfackeln.

Wo sind die geschwänzten Ringsumsichscherwenzer?

Da fängt schon ein Flammengerüst an zu wackeln.


Die Masse um mich ist apathisch geworden.

Die Weiber allein wollen Lustlieder lallen.

Sie sind nun schon längst in die Hände von Horden

Von Schiffern, Soldaten und andern gefallen.


Die Springkinder machen dort hoch Purzelbäume,

Und blendende, lebende Schwebekulissen,

Mit Männern auf Reken, bewegen die Träume

Der Dusler, die jetzt noch den Schlummer vermissen.


Gar mancher liegt gänzlich lethargisch am Damme

Und läßt sich wahrscheinlich sobald gar nicht wecken,

Im Halbschlaf platscht einer im Brackwasserschlamme,

Und immer noch sieht man sich andere ausstrecken.


Was mag mit dem Papias, im Laufe der Dinge,

Geschehn sein? Oh seht, er ist gänzlich verwandelt!

Es ist jetzt, als ob er nun langsam verginge.

Was hat ihn gepackt, daß er einsam verhandelt?


Er selbst ist ein Strauch, dem die Seele entfahren.

Er sieht dabei geisterhaft aus: unaussprechlich

Erscheinen oft Dinge, die Augen gewahren:

Er dünkt sich dämonisch und ist nur gebrechlich.


Jetzt braucht mir vor niemandem ringsum zu bangen:

Apathisch sind alle, nur ich werde stärker.

Die Wenigsten starren empor zu den Stangen:

Dort scheint es, die Seele entsprüht ihrem Kerker.
[361]

»Die saftige Dattel!« schnalzt Papias ganz nahe,

Und schmeckt durch und durch eine Frucht auf der Zunge:

»Du stehsts, wie ich Gott in uns allen bejahe,

Denn spuck ich, befreit er sich flugs aus der Lunge.


Verdau ich, so pfaucht er aus meinen Geweiden.

Als Dattel belebt ihn mein schmeckender Gaumen.

Du glücklicher Fruchtgott, jetzt kannst Du ausscheiden,

Ich leck Dich noch auf, von dem klebrigen Daumen!«


Nun schluckt er und spuckt er und thut sehr zufrieden

Und glaubt die Weltseele am Schlund zu bekunden,

Nun ist er schon wieder, und diesmal entschieden

Vollständig, vom Schauplatz des Daseins verschwunden.


Die Menge verliert sich. Ich bleibe alleine

Und horche gespannt auf das Wuchten der Wogen.

Da nahen mir Weiber im Fackelnachtscheine,

Die habe ich unbewußt an mich gezogen.


Ich sehe und zahle. Es sind ihrer sieben.

Sie scheinen zu Christum bekehrte Jungfrauen,

Sonst waren sie, aufgezählt, niemals geblieben,

Nun suche ich sprechend ihr volles Vertrauen:


»Ihr seid wohl die einzigen Schwestern und Bräute

Der Kirche, die Jesus für würdig gehalten,

Die Macht der Magie zu entziehen, die heute

Die Christengemeinde auf einmal gespalten.


Gesteht Eure Zweifel und beichtet die Leiden,

Ich selbst habe heute aus Hochmuth gesündigt

Und kann Magiereinstuß von Brunst unterscheiden,

Zum Priesteramt hat mich der Heiland ermündigt!«
[362]

»So sei denn gegrüßt, und gelobt sei der Heiland!«

Erwidern die Weiber einstimmig: »Oh sage,

Wann kommt Jesus wieder und wann wird sein Freiland

Der Seele erscheinen, wann schwingt er die Waage!«


»Ihr Weiber denkt nicht an die Zukunft der Dinge,

Erleuchtet Euch,« Sprech ich: »Euch selbst zu erkennen!

Thut alles, daß Jesus Euch völlig durchdringe

Und trachtet schon da, Leib und Seele zu trennen.


Ihr Schwestern in Christo, oh, könnt Ihrs ertragen

Und seid Ihr für Gott, für das Weltheil erkoren?

Ich habe Euch furchtbare Dinge zu sagen,

Ihr seid vielleicht blos für die Marter geboren.


Der Heiland braucht Geister, um endlich hienieden

Der christlichen Kirche den Sieg zu erfechten:

Oh seht, erst als Märtyrer könnt Ihr in Frieden,

Wie Erzengel, freisprechen, ächten und rechten.


Die Seele muß ganz aus dem Glauben enttauchen,

Dann hat sie noch Kraft, um für Jesum zu streiten,

Ihr müßt, aus dem Marterbett, jenseits auftauchen,

Doch hier schon den Weg der Bekehrung beschreiten.


Ihr Schwestern in Jesu, unsagbare Leiden

Erwarten Euch alle: ich seh Euch zum Tode

Geführt, unter furchtbaren Qualen verscheiden:

Oh Gott, oh Gott, schone das Blut vom Synode!«


»Heil Weihnachten, Weihnachten, seelige Wonne,

Für Jesum zu sterben!« Beginnen die Frauen

Im Chore zu singen: »Oh Wonne der Nonne,

Oh Sonne der Todten, oh Bronnen der Lauen,
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Oh Jesus, wir wollen für Dich alles dulden!

Oh Gott, der von uns alle Sünden genommen,

Oh sag, wieviel Todte wir alle Dir schulden,

Wir loben Dich, Gott, der im Herzen erglommen!«


Nun singe auch ich: »Heil Weihnachten, Weihnachten!

Oh Gott, wie der Leib Deines Sohnes im Schooße

Des Weibes behutsam bewahrt war, so trachten

Wir alle das Lamm sanft vor jedem Verstoße,


Vor Bangen und Sünden in uns zu behüten.

Das Blut Deines Herzens, das tief uns durchtränkte,

Die Blüthen der Unschuld, die in uns erglühten,

Die Wahrheit, oh Herr, die Dein Wesen verschenkte,


Die wird uns kein Henkersknecht jemals entreißen.

Noch starker wird einst unser Glauben im Kerker.

Wir werden Dich, selbst im Verließ, noch verheißen,

Wir werden Dich preisen: aus Thür und aus Erker


Wird, Heiland, Dein Name zum Menschen hindringen.

Und ganz eingemauert, bekehren wir Steine:

Die werden uns Antwort der Heiligen bringen,

Dann singen die Todten und wir im Vereine!«

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 360-364.
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