Der Baum

[495] Es spielt der Wind mit vielen tausend nassen Blattern,

Und alle winken immer wieder anderm Wind,

Und Waldeswalzer höre ich im Schatten schmettern.


Auch meine Weisen singen, weil sie windwild sind!

Und viele Lieder wimmeln, wie die winzigen Bienen,

Um jeden Trieb, der sich der Blumungsgluth besinnt.


Der Muth zu werben ist mir Sterblichstem erschienen:

Aus lauter Zweigen thaut mein Urerkünden aus,

Und seiner will Vernunft, wie Bienen, sich bedienen.


Es horcht der Wind. Denn um zu horchen harrt sein Lauf.

Im Baum erlauscht, als Traumhauch, er sein lautes Rauschen.

Drum lauscht: Es überbrausen Meere sich zu Haus!


Es will, als Baum, die Erde sich am Baum berauschen.

Und was im Traum geschieht, wird auch ein eigener Traum,

Denn Träume können uns sammt Träumlichem belauschen!


Verrunzle Dich in mir, Du Traum von meinem Baum!

In meiner Ruhe nisten schon die Sehnsuchtslieder,

Singt doch die Stille durch die Wurzeln bis zum Saum.


Die Wurzeln greifen fern in die Ergebung nieder!

Wie ist die Stille tief! So tief wie sie entschlief!

Doch in der Krone giebt der Baum den Norden wieder.


Er folgt dem Wind. Er wird was ihn als Baum berief.

Er stürzt die Liebe in die witternden Geschicke.

Er wirbt um sich und wirkt als Traum urbaumhaft tief.
[496]

Du Baum, ich weiß, wie ich als Dickicht mich bestricke.

Du bist von Liebe übervoll, ja liebestoll!

Du liebst, oh Baum, was ich als Du in mir erblicke.


Und »Du«, nur »Dus«, erlausch ich, wo ich rufen soll.

Das Dunkel aller Ruhe kennt das Du der Dinge!

Drum ist die Welt so holder Wonneworte voll.


Oh Sonne, horche wie ich in der Krone singe:

Der hohe Norden strotzt von mordendem Verstand,

Das Land aber hat Gold für Sternenschmetterlinge.


Ihr Dünkelwichte, Dinge im Vernunftgewand,

Es wickelt Euer Himmelswink Euch aus den Wicken.

Die Schlingen fallen ab: es nagt der Fragebrand.


Es schlagen Wagnißschlangen auf zu Weltgeschicken!

Der Urwald leuchtet in das holde Weltenwohl:

Es glaubt der Baum! Und lauter Witterwipfel nicken!


Der Baum umwurzelt seiner Ruhe Wesenspol.

Er schützt die Nester, schirmt das SchmerzensIch der Thiere,

Denn jedes Blatt ist großer Duldung Erdsymbol.


So wirkt, daß nimmer sich ein Wirkungswink verliere!

Die Thiere aber sind schon mehr als Wimmerwind.

Sie irren sich ja nicht. Sie schwirren um das Ihre.


Entwirrt Euch schier! Das Winzigste ist weltgesinnt!

Und horcht in Eurem Baum aufs Morgen freier Meere.

Du große Sonne, wie genau ein Tag verrinnt!


Der Baum ist hoch. Er füllt schon seine Wesensehre.

Und über ihm begeistert sich ein Sternenkind

Und lauscht der Leidenschaft der Werdensschwere.
[497]

Wie viele Rehe weinend schon gefallen sind!

Oh Sternenkind, bewahre ihre Seelenthräne

Und mache uns im Wandel harmlos und gelind!


Der Wesen Schüchternheit, die ich im Wechsel wähne,

War einst ein Blatt, ein Thier, das man zu Tod gehetzt:

Und alles Land entstammt als eine Wahnsinnsmähne.


Im Namen der Verzweifelten, Welt, sei entsetzt!

Birg, Erde, jeden Todesschrei in Lichtgebeten:

Im BaumesNamen, säume nicht! es glüht das »Jetzt!«


Der Erde Wahnwitz brennt durch Winde, die entwehten.

Er ist ein Urwald, der sich flammennackt beseelt.

Hier stirbt man nickt! Die Thiere schimmern in Kometen!


In Riesenschweifen werden sie hinausgeschweelt.

Sie können kalt in alten Nachten plötzlich tagen,

Denn kein Gewissen hat den Weg zu sich verfehlt.


Die Wanderschaften, die den Menschen warnend tragen,

Erfüllen alle Nordheiten mit Seelenbrunst,

Und Thiere wittern aus den jungen Glanznachtsagen.


Zu eigenen Wesenheiten reist die letzte Kunst.

Die Lebensechtheit kann sich nur ekstatisch fassen,

Dort überm Weltbrandwahnwitz dämmert stumme Gunst.


Gedanken fangen an, mit kalter Gluth zu hassen.

Der Traum vom Baum verschlingt sich in den blauen Raum.

Es singen Sternenkinder in den Flammengassen


Und nisten schuldlos in der Ruhehuld vom Baum.


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 495-498.
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