Vollmond

[526] Es ist der Mond der Gott des Todes aller Wesen.

Es schleppt die Erde ihn als Leiche durch den Raum.

Wir gleichen seiner Bleichheit, wenn wir kaum verwesen,

Und großes Schweigen drängt sich um den Glaubenstraum.


Wer sah noch nie Verblichene, in Silbermilde,

Zum weißen Eiland, hoch und nordergriffen, ziehn?

Du hältst sie wohl für sichtbar eigene Schwangebilde,

Von seltenen Träumen unserer Träumlichkeit verliehn!


Doch glaubt es nur, es ist der Todten Glaubensglauben:

Der ist ihr tiefstes, eigenmenschlichstes Erschaun!

Es will ein dunkler Ruf sie ihrer selbst berauben,

Daß sie so panisch rasch im Morgengrau erthaun.


Von welcher Sehnsucht sind die Todten uns enthoben?

Im Leben, schon von aller Monde Mond bewohnt,

Beginnen wir das Ungewohnteste zu loben

Und werben überraschend klar um unsern Mond.


Es zeigt der Vollmond blos die weiße Scheidungsscheibe,

Die andere Seite hält er, als der Tod, versteckt:

Doch sichelt er dahin, erblaut auf seinem Leibe

Der Erde Lebensglanz, der sich hinüberstreckt.


Dem Monde folgen auch die großen Weltenwogen:

Mit geilem Weiberlachen stürzt die Fluth daher:

Die Wellen glucksen, hopsen kindisch ungezogen

Und sind der Tod vom Monde und die Brunst im Meer.
[527]

Ein Ölbaum steht allein im Mondenscheine.

Der frühe Thau umzittert alle Zweige.

Du glaubst, daß sich die Nacht herniederneige,

Und ihre Seele fürchtet, daß sie weine.


Die Ur und Sterbensschönheit heller Haine,

In deren Wesenswidmungen ich schweige,

Durchzittern mich, wo ich mich sinnig zeige,

Und wittern, daß ich tiefes Wünschen meine.


Ich greife in das schleiernde Geäste:

Die Tollheit ist der Baumwucht nun verbunden,

Der Schreck so herb, als ob er jetzt die Nacht durchnäßte.


Die Schönheit, die uns tödtet, herzt mich innig.

Ihr Mondlichtschleier hält mich bleich umwunden:

Du meine Braut um mich, wie bin ich minnig!


Der blaue Wahnwitz in den stillen Silberstunden

Entwägt sich unerbittlich aller Wesen Glaubenslauschen.

Wir seufzen aus: Der Glaube hat sich doch entwunden –

Und Du verträgst des Urvertrauens Unterrauschen.


Die Herzerlebnisse entsilbern rings den Auen.

Die Schleierbräute wundern sich in Nordlichthainen.

Um Dich ereignet sich ein ungeheueres Schauen,

Und alle Nordgeister versuchen zu erscheinen.


Der Takt der Herzen ist der Flügelschlag der Erde.

Es tragen sie die Leidenden durch reine Himmel:

Wie leicht die Heimath ist – das Sein ohne Geberde!

Das bloße Gute im verkindlichten Gewimmel!
[528]

Der Tod ist weiß! Er liebt die Braute und die Greise.

Der Mond ist rein! Und seine Weiße ist ein Engel.

Der Todte schweigt! Der Stumme aber kennt die Reise:

Wir horchen doch und immer sterben alle Mangel.


Verwurzle Dick, wo Du auch bist, in deinem Norden.

Der Vollmond kommt, mit Schönheit Dich zu schminken.

Er naht, er kommt zu Dir, das Sonnenbild zu morden:

Im Schlund der Wonnenwelt, in Dir, mußt Du versinken.


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 526-529.
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