Einundzwanzigster Gesang

[229] Es quälte mich der angeborne Durst,

Der nie gesättigt wird, als durch das Wasser,

Das sich die Samariterin erbat;

Zugleich fühlt' ich, ob der gerechten Rache

Mitleid empfindend, auf dem engen Pfade,

Dem Führer nach, zur Eile mich getrieben,

Da, siehe, so wie Lucas uns beschreibt,

Daß, schon erstanden aus der Grabeshöhle,

Christus den Zweien auf dem Weg' erschien,

So wurde hinter uns ein Schatten sichtbar,

Der nieder auf die Schar, die da lag, blickte;

Doch eh' er sprach, bemerkten wir ihn nicht.

Gott geb' euch Frieden, sagt' er, meine Brüder! –

Da wandten wir uns eilig und Virgil

Entgegnete mit grüßender Gebärde.

Darauf begann er: Möge dich in Frieden

Zur Schar der Seel'gen Gottes Wahrspruch führen,

Der mich verweist in ewige Verbannung. –

Wie, sagte jener, während scharf wir gingen,

Seid Schatten ihr, die droben Gott nicht zuläßt;

Wer führte bis hierher euch seine Treppe? –

Mein Lehrer drauf: Beachtest du die Male,

Die dieser trägt und die der Engel zeichnet,

So siehst du, mit den Guten soll er herrschen.

Weil aber, die da spinnt bei Nacht und Tage,

Ihm noch nicht leer gemacht den Wocken hatte,

Den Klotho jedem aufsteckt und zurechtmacht,

War seine Seele, dein' und meine Schwester,

Den Berg herauf allein zu gehn nicht fähig;

Denn, so wie wir, vermag er nicht zu schauen.

Entnommen ward ich drum dem weiten Schlunde

Der Hölle, das, wofür mein Wissen ausreicht,

Ihm auszudeuten und so werd' ich ferner.[230]

Doch sag' uns, weißt du es, warum vorhin

Der Berg so bebt' und bis zu seinem Fuße,

Dem feuchten, überall ein Ruf ertönte. –

So traf in's Nadelöhr er mein Verlangen

Durch seine Frage, daß schon durch die Hoffnung

Gemindert war das Brennen meines Durstes.

Und jener drauf: Des Berg's geweihte Weise

Gestattet nichts, was außerhalb der Ordnung

Und außer dem Gebrauch des Ortes wäre;

Von jedem Wechsel frei sind diese Räume.

Nur was der Himmel aus sich selbst empfängt,

Kann hier noch Wirkung üben; andres nimmer.

Denn oberhalb der Treppe von drei Stufen

Fällt weder Regen je, noch Schnee und Hagel,

Auch tauet es so wenig, als es reift.

Nicht dichte Wolken gibt es hier, noch lockre;

Kein Wetterleuchten sehn wir, noch die Tochter

Des Thaumas, die bei euch den Stand oft wechselt.

Kein trockner Dunst steigt weiter als zur höchsten

Von jenen Stufen, die dem Stellvertreter

Sankt Petri dient als seiner Füße Schemel.

Dort unten bebt es wohl mehr oder minder;

Doch wegen Windes, der, ich weiß nicht wie,

Sich in der Erde birgt, bebt hier es nimmer.

Hier bebt der Berg, fühlt rein sich eine Seele

Sich zu erheben, oder aufzuschwingen,

Und dann gibt das Geleit ihr jener Ruf.

Der Reinheit Prüfstein ist allein der Wille,

Der, ist die Seel' erst frei den Ort zu wechseln,

Sie plötzlich faßt und zum Entschluß ihr Kraft leiht.

Auch früher will sie wohl; doch nicht gestattet's

Die Lust, die an der Qual (wie einst am Sündigen)

Die göttliche Gerechtigkeit ihr einflößt.

Und ich, der ich fünfhundert Jahr und länger

In diesen Schmerzen lag, empfand erst eben

Nach bess'rer Stuf' in mir den freien Willen.[231]

Drum fühltest du das Beben, und es priesen

Die frommen Seelen an des Berges Abhang

Den Herrn, der bald auch sie nach oben sende. –

So redet' er zu uns, und weil, je größer

Der Durst ist, um so mehr das Trinken wohltut,

Kann ich nicht sagen, wie er mich erfreute.

Mein weiser Führer sprach: Das Netz erkenn' ich

Das hier euch festhält, nun, und wie sich's löset,

Warum es bebte und wie ihr euch mitfreu't;

Doch wer du war'st, laß mich nunmehr erfahren,

Auch laß durch deine Antwort mich begreifen,

Warum du hier so manch' Jahrhundert lagest. –

Zur Zeit, als durch des höchsten Königs Hilfe

Der gute Titus jene Wunden rächte,

Woraus das Blut, verkauft von Judas, floß,

War in dem Namen jenseits ich berühmt,

Der mehr als andre ehrt und dauert; aber

Noch fehlte Glauben mir, – so sprach der Schatten.

So lieblich tönte meine Dichterstimme,

Daß mich den Tolosaner Rom heranzog,

Wo ich der Myrte Stirnschmuck mir verdiente.

Noch nennt man jenseits meinen Namen, Statius;

Von Theben und Achill, dem großen, sang ich,

Doch mit der zweiten Last fiel ich zu Boden.

Der Same meiner Glut kam von den Funken

Der Götterflamme, welche mich erwärmet

Und die schon mehr als tausend hat entzündet:

Der Aeneide sag' ich, die mir Mutter

Gewesen ist und Amm' in meinem Dichten;

Auch nicht das Kleinste schrieb ich ohn' ihr Vorbild.

Und, um gelebt zu haben, während drüben

Virgil noch lebte, wollte gern ein Jahr

Mehr als ich muß, Verbannung ich ertragen. –

Bei diesen Worten sah Virgil mich an,

Und schweigend sagten seine Züge: Schweige! –

Doch es vermag die Willenskraft nicht alles;[232]

Denn Lachen folgt und Weinen aus der Regung,

Die sie hervorruft so naturnotwendig,

Daß sie der Wahrheitsfreund am schlechtesten zügelt.

Ich lächelte, wie wer dem andren zuwinkt,

Weshalb der Schatten schwieg und in die Augen

Mir sah, wo sich zumeist die Seele spiegelt.

Soll so viel Müh zum guten Ziel dich führen,

Sagt' er, so sprich, warum dein Antlitz eben

Das Blitzen eines Lächelns mir gezeigt hat. –

Gefangen fühlt' ich mich nach beiden Seiten;

Heißt die mich schweigen, so beschwört mich jene

Zu reden; darum seufzt' ich, und mein Meister

Verstand mich und er sprach: So fürchte denn

Nicht mehr zu reden; sprich nur und bericht' ihm

Wonach mit solchem Eifer er verlanget. –

Drauf ich: O alter Geist, vielleicht verwunderst,

Du ob des Lächelns dich, das mir entschlüpfte;

Doch größres Wunder soll dich noch ergreifen.

Mein Führer, der empor mein Auge leitet,

Ist der Virgil, von welchem Kraft du liehest,

Die Götter und die Menschen zu besingen.

Hast du geglaubt, ich lächl' aus andrem Grunde,

So sieh als Wahn es an; jedoch die Worte,

Die du von ihm gesagt, nimm für den wahren. –

Schon beugt' er sich, die Füße meines Lehrers

Wollt' er umfassen; doch: Laß ab, mein Bruder,

Sprach dieser, Schatten bist und Schatten siehst du. –

Der Liebe Fülle, die zu dir ich hege,

Sprach Statius und erhob sich, kannst du messen,

Wenn unsre Nichtigkeit ich so vergesse,

Daß Schatten so wie Körper ich behandle. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 229-233.
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