Im Mandarinenklub


Lei-Futsche, einer der jüngsten und angesehensten der Mandarinen von Shanghai, war am gleichen Tage wie der junge chinesische Kaiser geboren; in derselben Stunde, in derselben Minute, und sein Horoskop, das ihm die Sternkundigen aufstellten, stimmte eigentümlicherweise genau mit dem kaiserlichen Horoskop überein. Das wußte aber außer Lei-Futsche und seinem Freund Te-Po, dem Astrologen, niemand, und der Mandarin hütete sich wohl, mit jemand anders als mit Te-Po darüber zu reden. Die Kaiserin-Witwe, die damals statt des für immer als unmündig erklärten Kaisers regierte, hätte Lei-Futsche seines Horoskopes halber sofort gehaßt und gefürchtet, sowie sie den jungen Kaiser haßte. Eines Nachmittags lud der Mandarin den Astrologen in den Mandarinenklub von Shanghai ein, zu einer ganz außergewöhnlichen Stunde.

Te-Po erstaunte darüber. Er betrachtete auf seinen Sternkarten die Stellungen der[179] Sternhäuser und stutzte; er ersah, daß seinem Freund heute der Tod drohte. Der Skorpion trat in das Haus des Planeten Jupiter, und dieser Planet war von lauter totbringenden Sternen umstellt und keine Rettung von irgendeinem günstigen Sternbild zu hoffen. Als Te-Po noch über die Sternstellung grübelte, hörte er die Messingmusik und die Trommler vor seiner Tür, und er zog sein enzianblaues Seidenkleid über das lilaseidene Unterkleid und stieg in die gelbe Sänfte, die ihm der Mandarin geschickt hatte.

Acht Sänftenträger, Soldaten, Trommler, Ausrufer rannten mit ihm in langem Zug durch die winkeligen Shanghaistraßen. Sie kamen zuletzt durch die Budenreihe der Bilderstraße, wo die Straßenmaler hinter den weißen Reisbildern saßen; Bilder füllten, wie weiße lange Fahnen, von der Decke bis zur Erde, jede der Buden. Und Te-Po dachte bei sich: Das Leben auf dieser Welt ist wie eine Bilderbude. Jeder hängt in sein Herz eine Reihe Erinnerungsbilder auf, wie die Straßenmaler tun, und die Bilder baumeln vor den Äugen wie die Reispapierblätter im Wind, bis wir die Augen für immer schließen. Nicht einmal ein paar Bilder kann man in[180] den Tod mitnehmen, auch die Bilder bleiben zurück, wenn der Maler stirbt.

Vor dem schmalen Gasseneingang an der Mauer des Mandarinenklubs in einem der engsten Shanghaiwinkel hielt die Sänfte. Im Mandarinenklub geben sich die Aristokraten der Stadt ihre gegenseitigen Einladungen. Der Klub besteht aus einem Gartenhof voll künstlicher Felsen; offene und geschlossene Lusthäuser aus rotem lackierten Holz stehen auf den kleinen künstlichen Gebirgen, zwischen Pflanzen und künstlichen Teichspiegeln. Die geschweiften, grauen Ziegeldächer der Häuser füllen in der sorgsam ausstudierten Wirrnis des engen Gartenraumes wie Riesenkähne den Himmel. Te-Po, geleitet von den sich bückenden Dienern, trat durch die unscheinbare Straßentüre ein. Zur linken Hand befindet sich die offene Halle des Hausaltars; vergoldete Holzwände umschließen von drei Seiten ein mächtiges goldenes Buddhabild. Die vierte Seite ist nach dem Hofraum offen. Ein langer Tisch voll Opferspeisen, wie ein Bahnhofbüfett, steht dort immer zur Schau, umgeben von einer Reihe brennender Kerzen. Te-Po bemerkte, daß der Opfertisch heute besonders reich mit gebratenen Ferkeln, gebräunten[181] und dampfenden Gänsen und Hühnern angefüllt war. Der Fettgeruch vom Altar schlug ihm warm wie der Dunst einer Garküche entgegen. Te-Po verstand, daß wahrscheinlich sein Freund, der Mandarin, diese üppigen Opferspeisen in der unbewußten Vorahnung des Todes gestiftet hatte. Der Gartenraum glitzerte maigrün im blauen Nachmittag. Nicht höher als mannshoch über den Teichen stehen die roten Balustraden der hölzernen Lusthäuser. Durch das Gewirr der künstlich ausgesägten und ausgehöhlten Felsen führen winzige Steinstufen hinauf. Der ganze Hof aus Steingebirgen hat kaum einige fünfzig Schritte im Umfang. Aber die Lusthäuser auf den Anhöhen verstellen mit ihren Giebeln die hohe Umrahmungsmauer des Hofes so geschickt, daß man sich in einem meilenweiten Felsenchaos glaubt. Manchmal schiebt sich eine Mauer mit gipsernem und rotbemaltem Drachenkopf herein in die Wirrnis, und die Teiche liegen wie schwarze Abgründe eng gezwängt vor den kulissenartigen Gebirgen; im pechschwarzen Wasser glänzen die goldenen Dachrinnen, die roten Balustraden, grüne Maiblätter und hohe Schilfstände. Der Mandarin Lei-Futsche[182] empfing seinen Freund im Pavillon gegenüber der Halle des Hausaltars. Obgleich beide langjährige Freunde waren, verbeugten sie sich eine lange Weile nach chinesischer Sitte, als ob sie sich eben erst kennen gelernt hätten. Sie lächelten fortwährend, ohne daß der eine dem andern seine Sorgen verriet, und sagten einander schöne Sätze, Anfänge von Gedichten und wohlwollende Sprüche.

»Ist die blaue Luft nicht die Wohltat des Himmels an die Erde!« wisperte der Mandarin und zog die vielen Ö-Laute der chinesischen Sprache singend hinaus. Sein Freund Te-Po antwortete ihm ebenso: »Und ist die Luft nicht das Reich der Singvögel, der Drachen und Gedanken! Mögen die Singvögel heute alle Drachen aus der Luft verbannen und mit deinen Gedanken um die Wette singen!« Der Mandarin komplimentierte unter zierlichen Verbeugungen seinen Freund zu der schwarzpolierten Opiumbank, die wie ein niedriges, viereckiges Podium im Hintergrund des Pavillons stand. Auf zwei dünnen, kupferroten Seidenkissen nahmen die beiden Herren Platz und zogen ihre Beine hoch. Der Mandarin klatschte in die Hände. Ein Diener, in langem himmelblauem Hemd, das[183] bis an die Diele reichte, trat ein, stellte neben jeden Herrn zwei zugedeckte Teetassen und dazu zwei Schalen gebackener Mandelkerne. Die Herren hoben zum Gruß die Teetasse hoch, und jeder schob mit dem Porzellandeckel vorsichtig das heuartige Teekraut, das in der Tasse schwamm, zur Seite, und jeder schlürfte ein wenig von dem heißen, grünen Teesaft. Ein zweiter Diener hatte inzwischen eine kleine silberne Spirituslampe zwischen die Herren gestellt und überreichte zwei lange Opiumpfeifen aus Elfenbein. Jeder der Herren zündete eine winzige Opiumkugel, welche auf dem Pfeifenkopf lag, an der Flamme an, und jeder sog sein Opium mit ein paar langsamen Zügen auf; es war nur eine Erfrischungspfeife, keine Schlafpfeife, welche die beiden Herren rauchten. Sie gaben ihre Pfeifen dem Diener zurück, und unten aus dem Garten tauchten die Köpfe von zwei zehnjährigen Mädchen auf und das Gesicht einer blassen Frau. Die Frau war in dunkelblaue, fast schwarze Seide gekleidet, die Mädchen in hellblaue Seide, ähnlich den Dienern.

Die Diener führten wichtig und behutsam die kleinen Damen die Felsenstufen herauf. Die drei weiblichen Geschöpfe hatten künstlich[184] verkrüppelte Huffüße und trippelten mit den Füßen kurz wie Ziegen aufstoßend herein. Ihre grünseidenen Schuhe hatten einen weißen Absatz in der Mitte unter dem Fuß, so daß jedes Weiblein wie auf kleinen weißen Stelzen balancierte.

Die drei Damen hatten sich etwas verspätet und fürchteten sich jedenfalls vor der Ungnade des Mandarins. Der aber rief ihnen freundliche Sätze zu: »Hat deine Zunge heute die schönsten Flügel mitgebracht?« fragte er die dunkelblau gekleidete Frau. Diese verbeugte sich fortwährend zitternd und lächelnd, ihr Haar war fest gebürstet und gescheitelt, glatt wie schwarzer Lack. Es war Mi-Lee, die Historiensängerin, welche bei Gastmählern im Mandarinenklub alte Sagen und Heldenlieder vortrug. Ihr Gesicht wurde immer blässer, je mehr sie sich verbeugte, und war in dem dämmerigen Pavillon wie ein Silbergerät, das auch noch im Schatten leuchtet.

Dann ließ sich die blasse Mi-Lee auf einen Schemel nieder, und die beiden Mädchen saßen zu ihren Füßen bei Saiteninstrumenten, die ihnen die Diener brachten. Mi-Lee hüstelte und begann mit ihrem kleinen, weißen Taschentuch den Mädchen zu winken. Die[185] schlugen die Saiten an, als ob viele Gläser klirrten, und unter ihren Fingern sprang ein Gegirr von Tönen in die Luft, als ob ein Haufen wilder Insekten surrte und schwirrte. Die brummende und rasselnde Musik füllte den Pavillon, und die Töne tanzten wie ein pfeifender Kreisel. Das hohle Dach des Lusthauses gab wie eine Muschel das Gesumm hundertfach zurück. Eingesponnen von Musik, Opium und Teeduft, saßen die beiden Herren auf ihrer gemeinsamen Bank. Jeder von ihnen knabberte geröstete Mandelkerne zwischen den Vorderzähnen, und jeder sah belustigt aus, und keiner zeigte seine trauernden Gedanken dem andern. Mi-Lee wurde blasser von Sekunde zu Sekunde und erschien dem Astrologen zuletzt wie eins der weißen Reispapierbilder aus der Budenstraße. Die Historiensängerin neigte den Kopf, drückte die Augen zu, stützte das Kinn in die Hand, die das Taschentuch hielt, und begann mit näselnder Stimme wie eine Singorgel zu erzählen: »Der Vogel Blaufeder kam in den kaiserlichen Garten, flog auf das Porzellanhaus des Kaisers, das hinter dem Schildkrötenteich liegt.« – »Wer muß heute sterben?« fragte der junge Kaiser seinen Eunuchen, »der Vogel Blaufeder schreit[186] über den Teich, das ist ein Zeichen, daß von der Kaiserfamilie heute ein Mitglied stirbt!« – »Wer muß heute sterben?« fragte der Eunuch und gab die Frage an die Ohrmuschel des Türhüters weiter. Der Türhüter, der den jungen, gefangenen Kaiser eingeschlossen hält, fragte: »Wer muß heute sterben?« und er betrachtete den kaiserlichen Gärtner, der zwischen den roten Fuchsien im Garten unter den Fenstern saß. »Wer muß heute sterben?« fragte der Gärtner mit den Augen seine Frau, die bei der Lieblingsfrau der drei Gemahlinnen des Kaisers Dienerin war.

Die Gärtnersfrau zitterte und ließ ihr Teetäßlein fallen, daß es zu Porzellanstaub zerbrach. Das Täßlein hatte ihr ihre junge kaiserliche Herrin geschenkt. Die Gärtnersfrau schaute erschrocken zu ihrem Mann, und ihre Augäpfel verschwanden, und vieläugige Tränen schauten ihren Mann an. Ihre Tränen glitzere ten wie die Splitter von der Porzellantasse der Kaiserin, und der Gärtner riß sich an der Gartenschere, mit der er die Fuchsie beschnitt, und trocknete das Blut seines Fingers an seinem schwarzen Zopf ab, der sich über seine Schulter auf dem Achatsand des Gartens[187] ringelte. Der Türhüter sah durch das Fenster verständnisvoll den Gärtner an, der sich geschnitten hatte. Der Türhüter biß die Zähne aufeinander, daß es knirschte und der Eunuch des Kaisers sich nach ihm umsah. Der Eunuch wurde noch gelber als die Seide des Kaisers und erzitterte am ganzen Leib, da er über den Türhüter und Gärtner und über die Gärtnersfrau fort die kleine Tasse der Kaiserin in Splittern sah. Der Kaiser aber stand auf, trat an das Fenster, warf sein Taschentuch hinaus in den Gartenwind, damit das Tuch den Vogel Blaufeder verjage. Der Vogel flog nicht fort, sondern blieb und schrie bis zum Nachmittag, bis zur Stunde, da die alte Kaiserinwitwe mit ihrem Hofstaat in den Garten des jungen Kaisers trat und vor den Augen des Kaisers die erste der drei jungen Kaiserinnen, die der Kaiser am liebsten hatte, in dem Wasser des Schildkrötenteichs vom Eunuchen, dem Türhüter und Gärtner ertränken ließ.

Mi-Lee, die Historiensängerin, war alt geworden, als sie das Lied der grausamen Kaiserin vor dem Mandarinen und seinem Freund zu Ende gesungen hatte. Gestützt auf die Diener, blasser, als sie gekommen, verließ sie[188] das Lusthaus im Mandarinenklub. Lei-Futsche hatte ihr dieses Gedicht selbst aufgeschrieben und vor ein paar Tagen zugesandt. Sie wußte, daß der Tod darauf stand, wenn sie eine Legende aus dem Kaiserhaus öffentlich sang. Aber Mi-Lee kannte den Mandarinen, und ihm zuliebe, auf die Gefahr des Sterbens hin, sang sie das Lied.

Einer muß heute sterben, wußte sie, als sie fortging, entweder diejenige, die gesungen hat oder einer von denen, die zugehört haben.

Die Kulis brachten ihren Herrn, den Mandarinnen, eine Stunde später in der Sänfte nach Haus; aber als sie die Sänfte im Hofe seiner Wohnung niedersetzten, saß er tot darin und stieg nicht mehr aus.

In derselben Nacht noch wurde der Sterndeuter von den Ausrufern, Trommlern und von Holzklappern geweckt, welche mit großem Lärm den Tod des jungen Kaisers noch vor Mitternacht in den Straßen von Shanghai ausriefen.

Te-Po denkt noch heute darüber nach, ob sein Freund, der Mandarin Lei-Futsche, zum Gefolge der Kaiserseele gehörte, weil er mit dem Kaiser zu gleicher Zeit geboren wurde und mit dem Kaiser zugleich gestorben ist.

Quelle:
Max Dauthendey: Lingam. München 1923, S. 175-189.
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