1.

[161] Zwei Menschen gehn durch nebelnassen Hain;

er faßt einen alten Friedhof ein.

Die feuchten Blätter hängen schwer herab,

so schwer, als möchten sie die Zweige brechen;

sie hängen um ein frisches Grab.

Ein Mann beginnt sich auszusprechen:


Nach diesen Trennungstagen,

die einen Andern aus mir machten,

will ich mein wahres Trachten

nicht länger halb im Dunkeln vor dir tragen.

Eh ich die Leiche liegen sah,

hatt ich den Traum, ihr stilles Antlitz trüge[162]

den Mut der Tat zur Schau; der Traum war Lüge.

Ich sah in ihre zerlittenen Züge:

dem Wahnsinn schien die starre Maske nah.

Ich habe vor dem Anblick nicht gebebt;

da lag ein Herz, der Einsamkeit erlegen.

Ich stand und fühlte das Gesetz: wer lebt,

hilft töten, ob er will ob nicht.

Und aus dem gramvollen Gesicht

schlug kalt die Mahnung mir entgegen:

Keinen zu brauchen, gottgleich allein

williges Herz der Welt zu sein!


Er neigt sich, um die tropfenschweren

Blätter von sich abzuwehren.

Mitwehrend spricht ein Weib in ihn hinein:


Wie du gestanden hast an ihrer Bahre,

erkenn ich aus dem Büschel grauer Haare,

der früher nicht an deiner Schläfe drohte.

Wozu nun noch verstorbnes Leid auffrischen!

Das Leben wird dir's ebenso verwischen

wie hier dies Zeichen – sieh: ich geb's der Toten.


Sie legt ihre Hand wie segnend auf das Grab;

sie drückt sich tief im feuchten Erdreich ab,

ein Tropfen schimmert in dem schwarzen Ballen.

Zwei Menschen stehn, als sei ein Schwur gefallen.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 161-163.
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