29.

[217] Und der Wald schweigt wie von Andacht gepackt;

der erste Schnee liegt tief und schwer.

Aus Höfen und Scheunen vom Talgrund her

tönt gedämpft der Dreschertakt.

Fern, groß, im weißen Sonnenglast,

steht eine Bäurin und worfelt Korn;

zuweilen blitzt ihr Sieb auf wie voll Zorn,

dann flattern Spatzen. Der Mann macht Rast:


Dieses Schauspiel ergreift mich immer,

als sei's der Mutter Menschheit Bild.

Da steht das riesige Frauenzimmer,

ihre Worfel schüttelnd, wild, schaffenswild,[218]

die Körner hütend mit harten Tatzen,

vor Eifer glühend, vor Freude rot:

tanzt auch manch leichtes zu den Spatzen,

die schweren geben Menschenbrot.

Und jetzt auf einmal fühl'ich's mit Beben:

deines Schooßes Frucht ist der Allmacht von Nöten!

Und käme auch dieses Kind blind ins Leben

und du hast nicht wieder die Kraft, es zu töten,

dann will ich glauben, du hast die höhere Kraft,

die Licht aus tiefstem Dunkel schafft!


Er will sie küssen – ihm stockt das Herz:

sie steht wie weit hinweggetragen.

Ihrem Blick entquillt ein Licht in sein Herz:

das stillt alle Wonne, allen Schmerz:

ein Licht goldner Ruhe – er hört sie sagen:


Bei deinen Worten hat dein Kind

die Augen in mir aufgeschlagen –

es wird nicht blind.

Es sah mich an wie aus tiefem Bronnen.

Seine Augen waren zwei blaue Sonnen.

Es wird wie Du durchs Leben gehen.

Ich hab's gesehen.


Traumhaft flüstert sie: Dein Kind und meins.

Traumhaft schauern zwei Herzen in eins.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 217-219.
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