9.

[177] Die Sonnenblumen beugen sich im Regen;

zuweilen rauscht's vom Dach wie Geisterklopfen.

Der wilde Wein hängt schlaff dem Sand entgegen,

die roten Blätter scheinen Blut zu tropfen.

Der Mann steht trommelnd an der Fensterscheibe.

Plötzlich sagt er zu dem Weibe:


Ich will dir einen Traum erzählen.

Wir standen feierlich in einem Saal,

als sollten wir vor Zeugen uns vermählen.

Ich hielt und bot dir einen vollen Pokal,

um durch den Trunk den Trauschwur zu besiegeln.

Mit einem Mal[178]

seh ich tief unten in dem dunkeln Wein,

wie hoch von oben her, vollkommen rein

ein lächelndes Gesicht sich spiegeln:

die Tote lebt. Sie schwebt. Sie lächelt wieder.

Sie nimmt ein Fläschchen Gift aus ihrem Mieder.

Sie träufelt es in unser Kelchglas nieder.

Und ich: ich lächle mit – und laß dich trinken –

und trinke selbst – mir weiten sich die Glieder –

und fühle fern mich in die Welt versinken.


Und ich – beginnt das Weib zu überlegen

und starrt abwesend in den rauschenden Regen –


ich stand heute Nacht allein im Traum;

ich war ein leuchtender Schneeglöckchenbaum.

Aber fern kam furchtbar ein Funkeln an,

als wollt's mich zerstören: ein sturmgesträubter Tann,

ein Wald wilder Lichter, braungolden, grün, blau,

wie ein riesenhaft sich spreizender Pfau,

und mir geht's bis ins Mark, so eilt das Ungeheuer.

Da wird aus mir ein einziges Blütenfeuer;

von weißen Flammen stiebt die ganze Au

und flammt frei hoch mit mir, hoch, immer freier –

und unten prasselt der verbrennende Pfau!


Und wieder rauscht's vom Dach wie Geisterklopfen.

Zwei Menschen hören's tropfen und tropfen.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 177-179.
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