19.

[45] Mondlicht greift durch bleiche Gardinen,

legt Flecke auf ein Himmelbette;

zwei Menschen sehn's mit bleichen Mienen.

Sehn die Flecke in schleichender Kette

grell ein Kind, das schläft, umkränzen;

es schläft mit offnen Augenlidern.

Die stillen Augensterne glänzen;

glänzen weiß wie blindes Eis.

Ein Weib schluchzt auf mit allen Gliedern.

Wie aus einem Abgrund gerissen

starrt ihr schwarzes Haar aus den Kissen,

haucht sie heiß:
[46]

Mir lebt dies Kind, und nicht von Dir;

ich lieg' in Dankbarkeit vor dir.

Ich lag bis heute wie unter Steinen,

wie unter einer Sticklast Schnee;

du bist gekommen, nun kann ich weinen.

Jetzt aber – geh!

Ich will vor dir kein Klagweib sein;

laß mich, solang' ich lieg', allein.


Der bleiche Mann im Vollmondlicht

neigt sein unbewegtes Gesicht.

Sein Blick weilt wie in weiten Fernen

auf den blinden Augensternen.

Und er spricht:


Das Kind, das du geboren hast,

sei deiner Seele keine Last:

sieh, wie sein Schlaf das Helle trinkt!

Es scheint ein Licht durch unsre Welt zu wehen,

das alles andere, gröbere Licht beschwingt;

in ihm wird dieses Kind aufgehen.

Es wird die irdische Qual nicht sehen.

Wir werden's leiten wie auf Wolkenauen.

Es wird das innere Weltlicht schauen.


Er küßt sie, geht – sein Schatten streift das Kind;

zwei Menschen sehn, daß sie auf Erden sind.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 45-47.
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