31.

[69] Der Mond bescheint ein steinernes Portal,

durch kahle Zweige eine feuchte Schwelle.

Die Zweige leuchten wie aus Stahl.

Zwei Menschen stehn in einer Grabkapelle.

Der Mond legt Schatten auf ein totes Kind;

nur seine beiden offnen Augen glänzen.

Sie glänzen wie die Blumen aus den Kränzen,

bleich und blind.

Sie glänzen bleicher als der Vollmondschein.

Ein Weib höhnt in die Nacht hinein:


Ich hatt ein Kind, und nicht von Dir,

ich steh in Freiheit neben dir;[70]

ich bin erlöst, wenn Du, wenn Du es bist!

Ich bin die Fürstin Isabella Lea,

die auf dem Weg der Liebe gen Himmel ist –

ich, Mutter Isis, Mutter Gäa,

die willig ihre eignen Kinder frißt,

der irdischen Gerechtigkeit entrückt.

Ist nun mein Gott, mein Lucifer, beglückt??


Sie wankt; sie hat die Augen zugedrückt.

Ein Mann legt ihr die Hand auf Stirn und Haare.

Er spricht – sein Blick verschlingt die dunkle Bahre:


Das Kind, das du getötet hast,

war meiner Seele nicht die Last

auf unsrer Wallfahrt zu der Freiheit,

die Einheit schafft aus aller Zweiheit.

Aber du hast mich tief verwandelt;

du hast für mich aus einem Geist gehandelt,

der nichts mehr will als klar am Ziele ruhn –

Komm! – denn ich weiß jetzt: du kannst schweigen.

Ich habe Manches in der Welt zu tun,

Lea! und Das – nun ja, das wird sich zeigen.

Im übrigen, Madam: es wohnen

noch Krüppel genug auf Fürstenthronen!


Er küßt ihr Stirn und Augen, wie zur Weihe.

Zwei Menschen wenden sich ins Freie.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 69-71.
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