21.

[113] Die Tore offen! Im Schilderhaus

Wird's gleich ein »Wer da?« schreien;

Ein Schritt, ein Tritt – und ich bin hinaus,

In der Welt, im Weiten, im Freien!


Wer hält mich denn am Ärmel fest,

Was beizt mich im Auge wie Zwiebeln?

Warum fesselt mich denn dieses alte Nest

Mit seinen Türmen und Giebeln?


Gewöhnung! O allmächtiger Trieb,

Wer mag sich deiner erwehren?

Dem Sklaven wird seine Kette lieb,

Soll er sie zum ersten entbehren.


Und Mariandel, die gute, ehrliche Haut!

Wie wird sie's grämen und schmerzen,

Wenn sie morgen früh aus dem Fenster schaut,

Mich erwartend mit treuem Herzen.


Es gilt ihr nicht um meine Person,

Daran ist wenig gelegen;

Ihr ist's nur um das Geschwätz und den Hohn,

Nur der anderen Leute wegen.


So tröste dich Gott! Ich kann nicht zurück,

Es mahnt die Stunde zu eilen;

Doch find ich draußen ein ordentlich Glück,

Mit der Alten müßt ich's teilen.


Dort steigt der Mond im Osten auf,

Ein willkommener Weggeleiter;

Mit Silber bestreut er meinen Lauf,

Wie hell die Straße, wie heiter!
[114]

Ein Posthorn klingt aus fernem Tal

Und verschwimmt im blauen Äther –

Leb wohl, leb wohl viel' tausend Mal,

Du heilige Stadt meiner Väter!


Ich küsse dein Tor im Mondenlicht,

Auf den Boden fall ich nieder;

Dein Sohn entflieht – O frag ihn nicht:

Wie kommst du und wannen wieder?

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 113-115.
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Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters (Deutsche Texte)