XI

[197] Erst am dritten Tag erbarmten Jepantschins sich des Fürsten und verziehen ihm vollständig. Obgleich der Fürst sich nach seiner Gewohnheit viel Schuld beimaß und in vollem Ernst eine Strafe erwartete, so war er doch von vornherein innerlich völlig davon überzeugt, daß Lisaweta Prokofjewna ihm nicht allzusehr zürnen konnte und in der Hauptsache nur auf sich selbst böse war. Daher war er am dritten Tag durch die unerwartet lange Dauer der Feindschaft in eine sehr trübe, ratlose Stimmung versetzt. Dazu hatten auch noch andere Umstände beigetragen, und einer von ihnen in besonders hohem Grad. Dieser hatte während der drei Tage für ihn infolge seines mißtrauischen Wesens immer mehr an Bedeutung gewonnen. (Der Fürst beschuldigte sich nämlich seit einiger Zeit zweier fehlerhafter Extreme: einer übermäßigen »sinnlosen, aufdringlichen« Zutraulichkeit und gleichzeitig eines »finsteren, unwürdigen« Mißtrauens.)

Kurz, am Ende des dritten Tages, hatte das Erlebnis mit der exzentrischen Dame, die aus ihrer Kutsche mit Jewgeni Pawlowitsch gesprochen hatte, in seinem Kopf ganz rätselhafte, beängstigende Dimensionen angenommen. Der Kernpunkt des Rätsels, abgesehen von anderen Seiten der Angelegenheit, bestand für den Fürsten in der betrüblichen Frage, ob auch er an dieser neuen »Ungeheuerlichkeit« schuld sei oder nur ... Aber er ließ unausgesprochen, wer dabei noch in Betracht kam. Was die Buchstaben N.F.B. anlangte, so war das nach seiner Anschauung nur unschuldiger Mutwille, rein kindlicher Mutwille, so daß es lächerlich und in gewisser Hinsicht sogar nicht ehrenhaft sei, darüber nachzudenken.

Gleich am ersten Tag nach dem häßlichen Abend, an dessen ungehörigen Vorgängen er die »Hauptschuld« trug, hatte der Fürst am Vormittag das Vergnügen, den[198] Fürsten Schtsch. und Adelaida in seiner Wohnung zu empfangen; sie waren nach ihrer Angabe »hauptsächlich« gekommen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und zwar auf einem Spaziergang zu zweien. Adelaida hatte soeben im Park einen Baum bemerkt, einen wundervollen alten Baum, mit langen, gekrümmten Ästen, ganz mit jungem, grünem Laub bedeckt, mit einer Höhlung und einem Spalt; sie hatte sich fest, ganz fest vorgenommen, diesen Baum zu malen! So sprach sie denn die ganze halbe Stunde, die ihr Besuch dauerte, fast nur hiervon. Fürst Schtsch. war wie gewöhnlich angenehm und liebenswürdig, befragte den Fürsten nach weiter zurückliegenden Dingen und erwähnte einige Umstände aus der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft, so daß von den Ereignissen des vorhergehenden Tages fast gar nicht gesprochen wurde. Endlich konnte sich Adelaida nicht mehr beherrschen und gestand lächelnd, daß sie ohne Wissen der Eltern gekommen seien; aber damit war auch das Bekenntnis zu Ende, wiewohl schon aus dieser Heimlichkeit zu ersehen war, daß die Eltern, das heißt besonders Lisaweta Prokofjewna, sich in einer gewissen Mißstimmung befanden. Aber weder von ihr, noch von Aglaja, noch selbst von Iwan Fjodorowitsch sagten Adelaida und Fürst Schtsch. bei ihrem Besuch ein Sterbenswörtchen.

Als sie wieder fortgingen, um ihren Spaziergang fortzusetzen, luden sie den Fürsten nicht ein, sich ihnen anzuschließen. Eine Aufforderung, doch zu ihnen in ihre Wohnung zu kommen, fand auch nicht einmal andeutungsweise statt; in dieser Hinsicht ließ sich Adelaida sogar eine sehr bezeichnende Wendung entschlüpfen: sie erzählte von einem Aquarell, das sie gemalt hatte, und äußerte den lebhaften Wunsch, es ihm zu zeigen.

»Wie könnten wir das nur möglichst bald machen? Warten Sie! Ich werde es Ihnen entweder heute noch durch Kolja schicken, wenn er zu uns kommen sollte, oder es[199] morgen selbst bringen, wenn ich wieder mit dem Fürsten spazierengehe«, so erledigte sie schließlich diese Schwierigkeit, erfreut, daß es ihr gelungen war, diese Aufgabe in einer so geschickten und für alle Beteiligten so bequemen Weise zu lösen.

Endlich, als sie sich schon empfahlen, fragte Fürst Schtsch., wie wenn ihm das plötzlich einfiele:

»Ach ja, wissen Sie vielleicht, lieber Ljow Nikolajewitsch, was das für eine Person war, die gestern unsern Jewgeni Pawlowitsch aus dem Wagen anrief?«

»Das war Nastasja Filippowna«, antwortete der Fürst.

»Haben Sie denn noch nicht erfahren, daß sie es war? Aber wer ihre Begleiterin war, das weiß ich nicht.«

»Ja, ja, ich habe es gehört!« sagte Fürst Schtsch. »Aber was bedeutete das, was sie ihm zurief? Ich muß gestehen, das ist mir ein reines Rätsel ... mir und den andern.«

Fürst Schtsch. sprach offenbar in völliger Verständnislosigkeit.

»Sie hat von Wechseln Jewgeni Pawlowitschs geredet«, erwiderte der Fürst schlicht, »die Rogoschin auf ihre Bitte von einem Wucherer erworben habe, und hat gesagt, Rogoschin werde mit Jewgeni Pawlowitsch Geduld haben.«

»Das habe ich gehört, das habe ich gehört, mein teurer Fürst; aber das ist ja doch unmöglich! Jewgeni Pawlowitsch hat keine Wechsel ausgestellt; das ist unmöglich! Bei einem solchen Vermögen ... Allerdings ist es ihm früher einmal aus Leichtsinn begegnet, und ich habe ihm sogar selbst aus der Klemme geholfen ... Aber bei einem solchen Vermögen einem Wucherer Wechsel auszustellen und sich deswegen zu beunruhigen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auch kann er sich nicht mit Nastasja Filippowna duzen und in solchen freundschaftlichen Beziehungen zu ihr stehen ... das ist das allergrößte Rätsel. Er schwört, er verstehe von der ganzen Geschichte gar nichts, und ich glaube ihm vollkommen. Aber ich wollte doch auch Sie, lieber Fürst, fragen, ob Sie vielleicht etwas[200] davon wissen. Ich meine: ist vielleicht durch irgendeinen wunderlichen Zufall ein Gerücht zu Ihren Ohren gelangt?«

»Nein, ich weiß nichts, und ich versichere Ihnen, daß ich an der Sache in keiner Weise beteiligt bin.«

»Ach, wie wunderlich reden Sie da, Fürst! Ich erkenne Sie heute geradezu nicht wieder! Konnte ich denn überhaupt auf den Gedanken kommen, daß Sie an einer derartigen Sache beteiligt seien ...? Na, Sie sind heute angegriffen.«

Er umarmte und küßte ihn.

»Was meinen Sie denn mit ›an einer derartigen Sache beteiligt‹? Ich sehe hier keine ›derartige‹ Sache.«

»Ohne Zweifel beabsichtigte diese Person unserm Jewgeni Pawlowitsch irgendwie bei irgend etwas dadurch hinderlich zu sein, daß sie ihm vor Zeugen Eigenschaften beilegte, die er nicht besitzt und nicht besitzen kann«, versetzte Fürst Schtsch. in ziemlich trockenem Ton.

Fürst Ljow Nikolajewitsch wurde verlegen, fuhr aber doch fort, den Fürsten Schtsch. unverwandt und fragend anzusehen; aber dieser schwieg nun.

»Könnten es nicht doch einfach Wechsel sein? Könnte es sich nicht buchstäblich so verhalten, wie gestern gesagt wurde?« murmelte Fürst Myschkin endlich in einer Art von Ungeduld.

»Aber ich bitte Sie, sagen Sie selbst: was kann es zwischen Jewgeni Pawlowitsch und ... ihr Gemeinsames geben, obendrein wenn dabei noch Rogoschin ins Spiel kommt? Ich wiederhole Ihnen: er besitzt ein kolossales Vermögen, wie mir ganz genau bekannt ist, und ein zweites Vermögen hat er von seinem Onkel zu erwarten. Nastasja Filippowna hat einfach ...«

Fürst Schtsch. verstummte plötzlich wieder, augenscheinlich, weil er dem Fürsten Myschkin nichts weiter über Nastasja Filippowna sagen mochte.

»Jedenfalls ist sie doch mit ihm bekannt?« fragte der letztere plötzlich nach einem kurzen Stillschweigen.[201]

»Es scheint allerdings, daß das einmal der Fall gewesen ist; er ist ein Windhund! Wenn es übrigens der Fall gewesen ist, so ist es schon lange her; es müßte noch in früherer Zeit gewesen sein, vor zwei, drei Jahren. Er war ja noch mit Tozki bekannt. Jetzt aber kann nichts von der Art vorliegen, und auf dem Duzfuß können sie niemals gestanden haben! Sie wissen ja selbst, daß auch sie die ganze Zeit her nicht hier gewesen ist und ihr Aufenthaltsort unbekannt war. Viele wissen auch jetzt noch nicht, daß sie wieder hier erschienen ist. Ich habe ihre Equipage vor drei Tagen zum erstenmal gesehen.«

»Eine prächtige Equipage!« bemerkte Adelaida.

»Ja, wundervoll!«

Beide brachten übrigens beim Fortgehen dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch ihre durchaus freundschaftliche, ja sozusagen geschwisterliche Gesinnung zum Ausdruck.

Aber für unseren Helden war dieser Besuch von außerordentlich hoher Bedeutung. Allerdings hatte er auch selbst, schon seit dem vorhergehenden Abend und vielleicht auch schon noch früher, gar vieles geargwöhnt; aber bis zu diesem Besuch hatte er sich nicht dazu entschließen mögen, seine Befürchtungen für begründet zu halten. Jetzt aber war alles klargeworden: Fürst Schtsch. deutete den Vorfall gewiß irrig, kam jedoch insofern der Wahrheit nahe, als er begriff, daß es sich hier um eine Intrige handelte. (»Übrigens«, dachte der Fürst, »faßt er die Sache vielleicht im stillen ganz richtig auf, will es aber nicht aussprechen und deutet sie darum absichtlich irrig.«) Am allerklarsten war, daß die beiden (besonders Fürst Schtsch.) jetzt zu ihm gekommen waren, weil sie gehofft hatten, von ihm irgendwelche Aufklärungen zu erlangen; wenn dem so war, so meinten sie offenbar, er sei an der Intrige mitbeteiligt. Wenn sich ferner all dies so verhielt und von solcher Wichtigkeit war, so mußte »sie« irgendein furchtbares Ziel im Auge haben; aber was war das für ein Ziel? Entsetzlich! »Und wie soll man sie aufhalten? Sie aufzuhalten ist keine Möglichkeit, wenn[202] sie sich etwas einmal in den Kopf gesetzt hat!« Das wußte der Fürst aus Erfahrung. »Sie ist eine Irrsinnige, eine Irrsinnige!«

Aber es kamen an diesem Morgen noch eine Menge anderer schwieriger Fragen hinzu, die alle gleichzeitig auf ihn einstürmten und sofortige Entscheidung verlangten, so daß der Fürst in recht trübe Stimmung geriet. Ein wenig Zerstreuung verschaffte ihm Wjera Lebedjewa, die mit der kleinen Ljubow auf dem Arm zu ihm kam und ihm längere Zeit etwas unter vielem Lachen erzählte. Ihr folgte ihre Schwester, die immer den Mund so weit aufriß, und beiden folgte dann Lebedjews Sohn, der Gymnasiast, welcher versicherte, der Wermutstern der Offenbarung des Johannes, der auf die Wasserquellen der Erde gefallen sei, sei nach der Deutung seines Vaters das Eisenbahnnetz, welches Europa bedecke. Der Fürst glaubte nicht recht, daß Lebedjew es so erklärt habe, und sie nahmen sich vor, ihn selbst bei der ersten passenden Gelegenheit danach zu fragen. Von Wjera Lebedjewa erfuhr der Fürst, daß Keller sich bei ihnen seit gestern einquartiert habe und, nach allen Anzeichen zu urteilen, so bald nicht wieder fortgehen werde; denn er habe hier an General Iwolgin Gesellschaft gefunden und mit ihm Freundschaft geschlossen; er habe übrigens erklärt, er bleibe einzig und allein, um seine Bildung zu vervollständigen, bei ihnen. Überhaupt gefielen Lebedjews Kinder dem Fürsten von Tag zu Tag mehr. Kolja war den ganzen Tag nicht anwesend; er hatte sich ganz früh am Morgen nach Petersburg begeben. (Auch Lebedjew war beim Morgengrauen in Geschäftsangelegenheiten weggefahren.) Aber der Fürst wartete ungeduldig auf einen Besuch Gawrila Ardalionowitschs, der unbedingt heute bei ihm vorsprechen mußte.

Dieser kam zwischen sechs und sieben Uhr nachmittags, gleich nach Tisch. Sowie der Fürst ihn erblickte, kam ihm der Gedanke, wenn jemand, so müsse er den ganzen Zusammenhang haarklein und irrtumslos kennen; es sei[203] ja auch nicht anders möglich, da er solche Gehilfen wie Warwara Ardalionowna und ihren Mann habe. Aber das Verhältnis des Fürsten zu Ganja war von ganz besonderer Art. Der Fürst hatte ihm zum Beispiel die Erledigung der Burdowskischen Angelegenheit anvertraut gehabt und ihn dringend darum gebeten; aber ungeachtet des ihm hierbei bezeigten Vertrauens und trotz manchem, was vorhergegangen war, blieben zwischen ihnen beiden doch immer noch gewisse Punkte bestehen, über die sie wie nach wechselseitigem Übereinkommen nicht miteinander sprachen. Es schien dem Fürsten manchmal, daß Ganja vielleicht seinerseits den Wunsch hege, es möge doch zwischen ihnen beiden die vollste, freundschaftlichste Aufrichtigkeit herrschen; jetzt zum Beispiel unmittelbar nach Ganjas Eintritt hatte der Fürst den Eindruck, als sei Ganja der bestimmten Überzeugung, in diesem Augenblick müsse notwendigerweise das Eis zwischen ihnen auf allen Punkten brechen. Gawrila Ardalionowitsch hatte es aber eilig; in Lebedjews Wohnung erwartete ihn seine Schwester; sie hatten beide zusammen eine schleunige geschäftliche Besorgung vor.

Aber wenn Ganja wirklich eine ganze Reihe ungeduldiger Fragen, freiwilliger Mitteilungen und freundschaftlicher Herzensergießungen erwartet haben sollte, so hatte er sich sehr geirrt. Während der ganzen zwanzig Minuten, die sein Besuch dauerte, war der Fürst in seine Gedanken versunken und unaufmerksam, und es fiel ihm gar nicht ein, die vielen Fragen oder, richtiger gesagt, die eine wichtige Frage zu stellen, auf die Ganja wartete. Da entschied sich auch Ganja dafür, mit größter Zurückhaltung zu sprechen. Er erzählte die ganzen zwanzig Minuten lang, ohne eine Pause eintreten zu lassen, dieses und jenes, lachte, führte eine leichte, nette, muntere Konversation, berührte aber den Hauptpunkt nicht.

Ganja erzählte unter anderm, Nastasja Filippowna sei erst seit vier Tagen hier in Pawlowsk, ziehe aber bereits die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sie wohne in[204] der Matroskaja-Straße in einem kleinen, plumpen Häuschen bei Darja Alexejewna, habe aber beinah die feinste Equipage in ganz Pawlowsk. Es habe sich bereits eine ganze Schar alter und junger Verehrer um sie gesammelt; ihre Equipage werde manchmal von Reitern begleitet. Nastasja Filippowna sei, wie in früheren Zeiten, sehr wählerisch und vergönne nur einer Auslese den Zutritt. Dennoch aber habe sich um sie eine ordentliche Truppe gebildet, auf deren Schutz sie sich im Notfall verlassen könne. Ein Verlobter aus der Zahl der Sommerfrischler sei bereits um ihretwillen mit seiner Braut zerfallen; ein alter General habe seinen Sohn beinah verflucht. Sie nehme auf ihren Spazierfahrten oft ein reizendes, eben erst sechzehnjähriges Mädchen mit, eine entfernte Verwandte Darja Alexejewnas; dieses Mädchen singe wunderschön, so daß abends das betreffende Häuschen die Aufmerksamkeit auf sich ziehe. Nastasja Filippowna benehme sich übrigens höchst anständig; sie kleide sich nicht luxuriös, aber außerordentlich geschmackvoll, und alle Damen seien wegen ihres Geschmacks, ihrer Schönheit und ihrer Equipage auf sie neidisch.

Hier aber ließ sich Ganja etwas mehr entschlüpfen, als er dem Fürsten eigentlich hatte mitteilen wollen. »Ihr gestriges auffälliges Benehmen«, sagte er, »war natürlich vorher überlegt und darf selbstverständlich nicht mitgerechnet werden. Um ihr etwas am Zeug zu flicken, müßte man sie schon absichtlich belauern oder verleumden, was übrigens nicht lange ausbleiben wird«, schloß Ganja und erwartete nun, daß der Fürst jetzt unbedingt fragen werde, warum er ihr gestriges Verhalten ein vorher überlegtes nenne; und warum die Verleumdung nicht lange ausbleiben werde.

Aber der Fürst stellte diese Fragen nicht.

Über Jewgeni Pawlowitsch ließ sich Ganja von selbst, ohne danach gefragt zu sein, ausführlich aus, was sehr sonderbar war, da er ohne jeden äußeren Anlaß das[205] Gespräch auf ihn brachte. Nach Gawrila Ardalionowitschs Ansicht hatte Jewgeni Pawlowitsch Nastasja Filippowna früher nicht gekannt; er kenne sie auch jetzt kaum und nur daher, daß er ihr vor vier Tagen durch irgend jemand auf dem Spaziergang vorgestellt worden sei; er sei aber schwerlich auch nur ein einziges Mal bei ihr im Haus gewesen, wie andere. Was die Wechsel anlange, so sei die Sache allerdings möglich (hierüber glaubte Ganja sogar Zuverlässiges zu wissen); Jewgeni Pawlowitsch besitze freilich ein großes Vermögen; aber manches auf seinem Gut sei tatsächlich in Unordnung. Bei diesem interessanten Punkt brach Ganja plötzlich ab. Über Nastasja Filippownas auffälliges Benehmen vom vorhergehenden Tag sagte er kein Wort außer der flüchtigen Bemerkung, die ihm vorher entschlüpft war. Endlich kam Warwara Ardalionowna, um Ganja abzuholen; sie blieb einen Augenblick da, teilte (ebenfalls ungefragt) mit, daß Jewgeni Pawlowitsch sich heute und vielleicht auch morgen in Petersburg aufhalten werde, daß ihr Mann, Iwan Petrowitsch Ptizyn, gleichfalls in Petersburg sei, und zwar fast ausschließlich in geschäftlichen Angelegenheiten Jewgeni Pawlowitschs, und daß da wirklich etwas passiert sein müsse. Beim Weggehen fügte sie hinzu, Lisaweta Prokofjewna befinde sich heute in einer gräßlichen Stimmung; aber, was das Seltsamste sei, Aglaja habe sich mit der ganzen Familie überworfen, nicht nur mit dem Vater und der Mutter, sondern sogar mit ihren beiden Schwestern, und das sei ganz und gar nicht schön von ihr. Nachdem sie, anscheinend nur so beiläufig, dem Fürsten diese letzte, für ihn so bedeutsame Mitteilung gemacht hatte, entfernten sich Bruder und Schwester. Der Geschichte mit »Pawlischtschews Sohn« hatte Ganja mit keinem Wort Erwähnung getan, vielleicht aus erheuchelter Diskretion, vielleicht »um die Gefühle des Fürsten zu schonen«; aber der Fürst sprach ihm doch noch einmal für die sorgsame Erledigung der Angelegenheit seinen Dank aus.[206]

Der Fürst war sehr froh, daß sie ihn endlich allein gelassen hatten; er stieg von der Veranda hinab, schritt quer über den Weg und ging in den Park hinein; er wollte nachdenken und über einen wichtigen Schritt ins klare kommen. Aber dieser Schritt war nicht einer von denen, die man überlegt, sondern zu denen man sich ohne Überlegung einfach entschließt: es hatte ihn auf einmal ein heftiges Verlangen ergriffen, alles, was ihn hier umgab, zu verlassen, dahin zurückzukehren, von wo er gekommen war, irgendwohin, recht weit weg, in die Einsamkeit zu fahren, und zwar sofort, ohne auch nur von jemand Abschied zu nehmen. Er sah vorher, daß, wenn er hier auch nur noch ein paar Tage bliebe, er mit Sicherheit unwiederbringlich in diese Welt werde hineingezogen werden, und daß es dann künftig sein Los sein werde, ganz in ihr aufzugehen. Aber er hatte noch nicht zehn Minuten darüber nachgedacht, als er zu der Einsicht gelangte, daß es unzulässig sei, so davonzulaufen; daß das Kleinmut sein würde; daß ihm Aufgaben gestellt seien, deren Erfüllung abzulehnen er jetzt in keiner Weise berechtigt sei; daß er sich jedenfalls nicht weigern dürfe, zu ihrer Erfüllung all seine Kräfte anzustrengen. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kehrte er nach Hause zurück, nachdem er kaum eine Viertel stunde spazierengegangen war. Er fühlte sich in diesem Augenblick tief unglücklich.

Lebedjew war immer noch nicht zu Hause, so daß gegen Abend Keller die Gelegenheit benutzte, zum Fürsten einzudringen; er war zwar nicht betrunken, aber sehr zu Herzensergießungen und Bekenntnissen geneigt. Er erklärte geradeheraus, er sei gekommen, um dem Fürsten sein ganzes Leben zu erzählen, und sei speziell zu diesem Zweck in Pawlowsk geblieben. Ihn hinauszujagen, war schlechterdings unmöglich; er wäre unter keinen Umständen gegangen. Keller setzte zu einer sehr langen, sehr abgeschmackten Erzählung an, sprang aber gleich von den ersten Worten zum Schluß hinüber, indem er[207] erklärte, er habe dermaßen »jeden Schatten von Moralität« verloren (einzig und allein infolge mangelnden Glaubens an die Existenz Gottes), daß er sogar gestohlen habe.

»Können Sie sich das vorstellen?«

»Hören Sie mal, Keller, ich würde das an Ihrer Stelle ohne besondere Not lieber nicht bekennen«, erwiderte der Fürst. »Aber vielleicht wollen Sie sich absichtlich verleumden?«

»Ihnen, einzig und allein Ihnen sage ich es, und einzig und allein, um meine sittliche Entwicklung zu fördern. Keinem andern werde ich es sagen; ich werde mein Geheimnis, wenn ich sterbe, unter meinem Totenhemd mitnehmen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, wenn Sie nur wüßten, wie schwer es in unserer Zeit ist, Geld zu bekommen! Woher soll unsereiner welches nehmen? wenn Sie mir die Frage gestatten wollen. Ich bekam immer ein und dieselbe Antwort: ›Bringen Sie uns Goldsachen und Brillanten als Pfand, dann werden wir Ihnen Geld geben‹; aber das waren gerade die Dinge, die ich nicht hatte. Können Sie sich so etwas vorstellen? Ich wurde schließlich ärgerlich und stand da und zauderte. ›Geben Sie auch für Smaragde Geld?‹ fragte ich. – ›Ja, auch für Smaragde‹, antwortete er. – ›Nun, das ist ja vorzüglich!‹ erwiderte ich, setzte meinen Hut auf und ging weg; hol euch der Teufel, ihr nichtswürdigen Schurken!«

»Hatten Sie denn Smaragde?«

»Woher hätte ich denn Smaragde haben sollen? O Fürst, was haben Sie noch für eine sonnige, unschuldige, ja sozusagen idyllische Lebensanschauung!«

Es kam schließlich so heraus, daß der Fürst ihn nicht sowohl bemitleidete als vielmehr sich für ihn schämte. Es ging ihm sogar der Gedanke durch den Kopf: »Könnte nicht aus diesem Menschen noch etwas Ordentliches werden, wenn jemand einen guten Einfluß auf ihn ausübte?« Seinen eigenen Einfluß hielt er aus gewissen Gründen für sehr ungeeignet, nicht weil er von sich selbst[208] zu gering gedacht hätte, sondern wegen seiner besonderen Art, die Dinge anzuschauen. Allmählich kamen sie beide so eifrig ins Gespräch hinein, daß sie sich gar nicht mehr voneinander trennen mochten. Keller bekannte mit einer seltenen Offenherzigkeit von sich Dinge, von denen man nicht begreifen konnte, wie er es fertigbrachte, sie zu erzählen. Jedesmal, wenn er sich zu einer solchen Erzählung anschickte, versicherte er hoch und heilig, er empfinde Reue und sei »innerlich voll Tränen«; aber trotzdem erzählte er in einer Weise, als sei er auf sein Benehmen stolz, und zugleich manchmal so komisch, daß er und der Fürst schließlich wie die Unsinnigen lachten.

»Die Hauptsache ist, daß Sie sich eine kindliche Zutraulichkeit und eine große Aufrichtigkeit bewahrt haben«, sagte der Fürst endlich. »Wissen Sie, daß Sie schon allein dadurch sehr vieles wiedergutmachen?«

»Ja, ich bin ein edler Mensch, ein edler Mensch, ein ritterlich edler Mensch!« bestätigte Keller gerührt. »Aber wissen Sie, Fürst, das bin ich immer nur, wenn ich mich so meinen Phantasien überlasse und sozusagen besondere Courage habe; in Wirklichkeit jedoch wird nie etwas daraus! Wie geht das nur zu? Mir ist das unbegreiflich.«

»Verzweifeln Sie deswegen nicht! Man kann jetzt mit Bestimmtheit sagen, daß Sie mir Ihr ganzes Inneres gezeigt haben; wenigstens scheint mir, daß es unmöglich ist, zu dem, was Sie erzählt haben, noch etwas hinzuzufügen, nicht wahr?«

»Unmöglich?!« rief Keller gewissermaßen mitleidig. »O Fürst, wie schweizerisch, wenn ich mich so ausdrücken darf, beurteilen Sie den Menschen noch!«

»Sollte es wirklich möglich sein, noch etwas hinzuzufügen?« erwiderte der Fürst mit schüchternem Erstaunen. »Also nun, bitte, sagen Sie, Keller, was Sie eigentlich von mir wollten, und warum Sie mit Ihrer Beichte zu mir gekommen sind!«[209]

»Was ich wollte? Von Ihnen wollte? Erstens ist es schon allein ein Vergnügen, Ihre Herzenseinfalt anzusehen; es ist ein Vergnügen, so mit Ihnen zu sitzen und zu plaudern; ich weiß wenigstens, daß ich einen höchst tugendhaften Menschen vor mir habe. Und zweitens ... zweitens ...«

Er stockte.

»Vielleicht wollten Sie Geld von mir leihen?« half ihm der Fürst in ganz ernstem, schlichtem, ja sogar etwas schüchternem Ton.

Keller fuhr ordentlich zusammen; erstaunt blickte er dem Fürsten rasch gerade in die Augen und schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch.

»Na, Sie bringen einen ja ganz und gar aus der Fassung! Ich bitte Sie, Fürst: einerseits diese Herzenseinfalt und Harmlosigkeit, wie sie selbst im goldenen Zeitalter unerhört wäre, und andrerseits durchschauen Sie einen gleichzeitig, wie wenn man von Glas wäre, durch und durch, mit der feinsten, psychologischen Beobachtungsgabe! Aber erlauben Sie, Fürst, das bedarf einer Erklärung, da ich ... Ich bin ganz in Verwirrung geraten! Allerdings hatte ich die Absicht, mir zu guter Letzt von Ihnen Geld zu leihen; aber nun haben Sie mich danach in einer Weise gefragt, wie wenn Sie darin nichts Tadelnswertes fänden, wie wenn das so sein müßte.«

»Ja ... bei Ihnen muß das auch so sein.«

»Und Sie sind darüber nicht entrüstet?«

»Worüber sollte ich entrüstet sein?«

»Hören Sie mal, Fürst, ich bin seit gestern abend hiergeblieben, erstens aus besonderer Hochachtung gegen den französischen Erzbischof Bourdaloue2, von welchem Lebedjew erzählte (wir haben in Lebedjews Wohnung bis drei Uhr morgens eine Flasche nach der andern entkorkt), und zweitens und hauptsächlich (ich schwöre Ihnen bei allem, was heilig ist, daß ich die reine Wahrheit rede), weil ich Ihnen eine vollständige, aufrichtige[210] Beichte ablegen und dadurch sozusagen meine eigene sittliche Entwicklung fördern wollte; mit diesem Gedanken schlief ich zwischen drei und vier Uhr, von Tränen überströmt, ein. Werden Sie nun einem höchst edeldenkenden Menschen glauben? In demselben Augenblick, als ich einschlief, sozusagen innerlich von aufrichtigen Tränen überströmt und desgleichen auch äußerlich (denn ich schluchzte zuletzt, wie ich mich recht wohl erinnere), in demselben Augenblick kam mir ein teuflischer Gedanke: ›Wie wär's? Könnte ich nicht zu guter Letzt, nach der Beichte, mir Geld von ihm leihen?‹ Auf diese Weise machte ich meine Beichte zurecht, um mich so auszudrücken, wie ein ragoût fin mit Tränen, in der Absicht, mir mit diesen Tränen den Weg zu bahnen und, wenn Sie sich dann geschmeichelt fühlten, mir von Ihnen hundertfünfzig Rubelchen auszahlen zu lassen. Meinen Sie nicht, daß das eine Gemeinheit ist?«

»Aber so ist das doch gewiß nicht wahr; sondern es ist nur ganz einfach eines zum andern hinzugekommen. Zwei Gedanken sind zusammengetroffen; das kommt sehr oft vor. Mir begegnet das fortwährend. Ich glaube übrigens, daß das nicht schön ist, und wissen Sie, Keller, ich mache mir deswegen die größten Vorwürfe. Mir war, als ob Sie mir mich selbst schilderten. Manchmal habe ich sogar gedacht«, fuhr der Fürst sehr ernst und mit aufrichtigem starkem Interesse fort, »daß alle Menschen von dieser Art sind, und wollte dann schon aufhören, mich zu schelten; denn gegen diese doppelten Gedanken anzukämpfen ist furchtbar schwer; ich weiß es aus Erfahrung. Gott weiß, woher sie kommen, und wie sie heranwachsen. Aber da nennen Sie das nun geradezu eine Gemeinheit! Jetzt werde auch ich wieder anfangen, mich vor diesen Gedanken zu fürchten. Jedenfalls steht es mir nicht zu, Sie zu verdammen. Aber man darf das doch meiner Ansicht nach nicht so geradezu eine Gemeinheit nennen; meinen Sie nicht auch? Sie haben sich einer Lust bedient, um durch Tränen Geld von mir herauszulocken; aber[211] dabei schwören Sie doch selbst, daß Ihre Beichte noch einen andern Zweck hatte, einen edlen Zweck, nicht nur jenen pekuniären. Was aber das Geld anlangt, so wollen Sie es doch gewiß haben, um es zu verzechen, nicht? Das ist aber nach einer solchen Beichte selbstverständlich eine Schwachheit. Aber wie soll man andrerseits die Neigung zum Trinken so im Handumdrehen ablegen? Das ist ja nicht möglich. Was ist da nun zu tun? Das beste ist wohl, wir stellen es Ihrem eigenen Gewissen anheim; meinen Sie nicht?«

Der Fürst blickte Keller mit dem lebhaftesten Interesse an. Das Thema von den doppelten Gedanken hatte ihn offenbar schon lange beschäftigt.

»Na, warum man Sie bei alledem einen Idioten nennt, das ist mir unverständlich!« rief Keller.

Der Fürst errötete ein wenig.

»Der Prediger Bourdaloue, der würde mit einem Menschen wie ich keine Nachsicht gehabt haben; aber Sie haben es getan und haben mich menschlich gerichtet! Um mich zu bestrafen und um zu zeigen, daß ich gerührt bin, verzichte ich jetzt auf die hundertfünfzig Rubel; geben Sie mir nur fünfundzwanzig, und damit basta! Mehr brauche ich nicht, wenigstens nicht für zwei Wochen. Vor Ablauf von zwei Wochen werde ich nicht wieder um Geld zu Ihnen kommen. Ich wollte eigentlich meiner Agaschka etwas schenken; aber sie verdient es gar nicht. O lieber Fürst, Gott segne Sie!«

Endlich kam Lebedjew herein, der soeben zurückgekehrt war, und als er in Kellers Händen den Fünfundzwanzigrubelschein erblickte, runzelte er die Stirn. Aber sowie Keller das Geld hatte, beeilte er sich wegzukommen und verschwand schleunigst. Lebedjew begann sofort auf ihn zu schimpfen.

»Sie sind ungerecht«, bemerkte der Fürst endlich. »Er bereute wirklich aufrichtig.«

»Aber was hat die Reue für einen Wert! Das ist gerade, wie ich gestern sagte: ›Ich bin ein gemeiner Mensch, ich[212] bin ein gemeiner Mensch!‹ Das sind doch bloße Worte!«

»Also bei Ihnen waren es bloße Worte? Ich dachte schon ...«

»Na, Ihnen, Ihnen allein will ich die Wahrheit sagen, weil Sie ja doch einen Menschen ganz durchschauen: die Worte und das Tun, die Lüge und die Wahrheit, das ist alles zusammen in mir enthalten und ist alles vollkommen aufrichtig. Die Wahrheit und das Tun bestehen bei mir in aufrichtiger Reue, ob Sie es nun glauben oder nicht, ich kann's beschwören; und die Worte und die Lüge bestehen in dem teuflischen, mir immer gegenwärtigen Gedanken, wie ich auch bei einer solchen Gelegenheit jemanden hinter das Licht führen und durch die Reuetränen profitieren könnte! Bei Gott, so ist es! Einem andern würde ich es nicht sagen; der würde mich auslachen oder mich verachten; aber Sie, Fürst, Sie urteilen human.«

»Nun, sehen Sie, das ist ganz genau dasselbe, was auch er mir soeben gesagt hat!« rief der Fürst. »Und beide rühmen Sie sich dessen gewissermaßen! Sie setzen mich beide dadurch in Erstaunen; nur ist er aufrichtiger als Sie; Sie aber haben die Sache zu einer Art von Gewerbe gemacht. Nun genug davon! Runzeln Sie nicht die Stirn, Lebedjew, und legen Sie nicht die Hände aufs Herz! Haben Sie mir nichts zu sagen? Sie werden doch nicht ohne Zweck zu mir gekommen sein ...«

Lebedjew begann Grimassen zu schneiden und sich hin und her zu krümmen.

»Ich habe den ganzen Tag über auf Sie gewartet, um Ihnen eine Frage vorzulegen; antworten Sie wenigstens einmal in Ihrem Leben gleich mit den ersten Worten die Wahrheit: waren Sie an der gestrigen Geschichte mit der Equipage irgendwie beteiligt?«

Lebedjew schnitt wieder Grimassen und kicherte, rieb sich die Hände, nieste sogar zuletzt, konnte sich aber immer noch nicht dazu entschließen, etwas zu sagen.

»Ich sehen Ihnen an, daß Sie daran beteiligt waren.«[213]

»Aber nur indirekt, durchaus nur indirekt! Ich sage die reine Wahrheit! Ich bin nur insofern daran beteiligt gewesen, als ich die betreffende Person rechtzeitig davon benachrichtigte, daß sich bei mir eine Gesellschaft zusammengefunden habe, und daß gewisse Leute anwesend seien.«

»Ich weiß, daß Sie Ihren Sohn dorthin geschickt hatten; er hat es mir selbst vorhin gestanden; aber was hat diese ganze Intrige zu bedeuten?« rief der Fürst ungeduldig.

»Es ist nicht meine Intrige, nicht meine Intrige«, wehrte Lebedjew mit lebhaften Gestikulationen ab. »Da stecken andere Leute dahinter, ganz andere Leute; und es ist auch eher sozusagen ein phantastischer Einfall als eine Intrige.«

»Aber um was handelt es sich denn eigentlich? Das erklären Sie mir, um des Himmels willen! Begreifen Sie denn nicht, daß die Sache mich direkt angeht? Jewgeni Pawlowitsch wird ja dadurch angeschwärzt.«

»Fürst! Durchlauchtigster Fürst!« erwiderte Lebedjew, sich wieder hin und her krümmend. »Sie erlauben mir ja nicht, die ganze Wahrheit zu sagen; ich habe Ihnen ja schon früher eine wahrheitsgemäße Mitteilung machen wollen, sogar mehrmals; aber Sie gestatteten mir nicht fortzufahren ...«

Der Fürst schwieg ein Weilchen und überlegte.

»Nun gut; sagen Sie die Wahrheit!« brachte er, offenbar nach schwerem Kampf, mühsam heraus.

»Aglaja Iwanowna ...«, begann Lebedjew sofort.

»Schweigen Sie, schweigen Sie!« rief der Fürst grimmig; er war vor Empörung, vielleicht auch vor Scham, ganz rot geworden. »Das ist unmöglich; das ist ein Unsinn! Das haben Sie alles selbst ausgedacht oder Leute, die ebenso verrückt sind wie Sie. Ich will das nie wieder von Ihnen hören!«

Spät am Abend, erst nach zehn Uhr, erschien Kolja mit einem ganzen Sack voll Nachrichten. Seine Nachrichten waren von zwiefacher Art: Petersburger und Pawlowsker.[214] Er erzählte zunächst rasch das Wichtigste aus Petersburg (namentlich von Ippolit und der Affäre vom vorhergehenden Tag), indem er sich vorbehielt, nachher noch einmal darauf zurückzukommen, und ging dann möglichst schnell zu den Pawlowsker Ereignissen über. Er war vor drei Stunden aus Petersburg zurückgekehrt und hatte sich, ohne zu dem Fürsten zu kommen, geradewegs zu Jepantschins begeben. »Da geht es schrecklich zu!« In erster Linie stehe natürlich die Geschichte mit der Kutsche; aber gewiß sei dort noch etwas anderes passiert, das ihm und dem Fürsten unbekannt sei. »Ich habe selbstverständlich nicht spioniert und wollte niemanden ausfragen; übrigens nahmen sie mich freundlich auf, so freundlich, wie ich es gar nicht erwartet hatte; aber Ihrer, Fürst, wurde mit keinem Wort Erwähnung getan!« Das Wichtigste und Interessanteste sei, daß Aglaja sich vorhin mit den Ihrigen Ganjas wegen überworfen habe. Wie das im einzelnen zugegangen sei, wisse er nicht, nur daß der Streit sich um Ganja gedreht habe (»Stellen Sie sich so etwas vor!«), und daß sie heftig aneinandergeraten seien; also müsse der Grund ein wichtiger sein. Der General sei erst spät und in mürrischer Stimmung nach Hause gekommen, mit Jewgeni Pawlowitsch zusammen, den sie sehr gut aufgenommen hätten, und Jewgeni Pawlowitsch selbst sei erstaunlich heiter und liebenswürdig gewesen. Ferner sei eine besonders auffällige Nachricht, daß Lisaweta Prokofjewna ohne alles Aufsehen Warwara Ardalionowna, die bei den jungen Mädchen gewesen sei, auf ihr Zimmer gerufen und ihr ein für allemal das Haus verboten habe, übrigens in der höflichsten Form – »ich habe es von Warja selbst gehört«. Als Warja aber aus Lisaweta Prokofjewnas Zimmer wieder herausgekommen sei und sich von den jungen Mädchen verabschiedet habe, da hätten diese gar nicht gewußt, daß ihr das Haus für alle Zeit verboten worden sei und sie ihnen für immer Lebewohl sage.

»Aber Warwara Ardalionowna war noch um sieben Uhr[215] bei mir! Wie geht das zu?« fragte der Fürst er staunt.

»Aus dem Haus gewiesen wurde sie zwischen sieben und acht Uhr oder um acht. Warja tut mir sehr leid, auch Ganja tut mir leid ... Die beiden intrigieren zweifellos fortwährend; ohne das können sie gar nicht leben. Ich habe nie dahinterkommen können, was sie eigentlich im Schilde führen; und ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich versichere Ihnen, mein lieber, guter Fürst, daß Ganja ein gutes Herz hat. Allerdings haften ihm manche schlechten Eigenschaften an; aber andrerseits besitzt er viele Charakterzüge, denen nachzuforschen wirklich der Mühe lohnt, und ich werde es mir nie verzeihen, daß ich ihn früher nicht verstanden habe ... Ich weiß nicht, ob ich jetzt nach der Geschichte mit Warja den Verkehr bei Jepantschins fortsetzen soll. Allerdings habe ich dort gleich von Anfang an eine ganz unabhängige, rein persönliche Stellung eingenommen; aber ich muß mir die Sache doch erst noch überlegen.«

»Sie bedauern Ihren Bruder unnötigerweise so sehr«, erwiderte ihm der Fürst. »Wenn es schon so weit gekommen ist, daß Lisaweta Prokofjewna eine derartige Maßregel für notwendig hält, so muß Gawrila Ardalionowitsch in ihren Augen gefährlich sein, und folglich erscheinen gewisse Hoffnungen, die er hegt, nicht unbegründet.«

»Was denn für Hoffnungen?« rief Kolja erstaunt. »Sie glauben doch nicht, daß Aglaja ... Das ist nicht möglich!«

Der Fürst schwieg.

»Sie sind ein schrecklicher Skeptiker, Fürst«, fügte Kolja ein paar Minuten darauf hinzu. »Ich habe bemerkt, daß Sie seit einiger Zeit außerordentlich skeptisch geworden sind; Sie fangen an, an nichts zu glauben und alles für möglich zu halten ... Habe ich die Bezeichnung ›ein Skeptiker‹ in diesem Fall richtig angewendet?«

»Ich glaube: ja. Genau weiß ich es allerdings selbst nicht.«[216]

»Aber nun widerrufe ich selbst die Bezeichnung als Skeptiker!« rief Kolja auf einmal. »Sie sind kein Skeptiker, sondern eifersüchtig! Sie sind auf Ganja eines gewissen stolzen Mädchens wegen höllisch eifersüchtig!«

Nach diesen Worten sprang Kolja auf und lachte so herzlich, wie er es vielleicht in seinem Leben noch nie getan hatte. Als er sah, daß der Fürst ganz rot geworden war, steigerte sich sein Lachen noch; der Gedanke, daß der Fürst Aglajas wegen eifersüchtig war, machte ihm den größten Spaß; aber er verstummte sofort, als er bemerkte, daß dieser sich wirklich gekränkt fühlte. Darauf führten sie noch eine oder anderthalb Stunden lang ein sehr ernstes, beratendes Gespräch miteinander.

Am andern Tag verbrachte der Fürst wegen eines unaufschiebbaren Geschäfts den ganzen Vormittag in Petersburg. Als er (es war schon bald fünf Uhr nachmittags) nach Pawlowsk zurückkehrte, traf er auf dem Bahnhof mit Iwan Fjodorowitsch zusammen. Dieser ergriff ihn schnell bei der Hand, blickte sich ringsum, wie wenn er etwas fürchtete, und zog den Fürsten mit sich in einen Waggon erster Klasse, um mit ihm zusammen zu fahren. Er brannte vor Verlangen, mit ihm über einen wichtigen Punkt zu sprechen. »Erstens, lieber Fürst, sei nicht böse auf mich, und wenn ich mich meinerseits nicht richtig verhalten habe, so vergiß das! Ich wäre gestern schon selbst zu dir gekommen; aber ich wußte nicht, wie Lisaweta Prokofjewna das aufnehmen würde. Bei mir zu Hause ist die reine Hölle; eine rätselhafte Sphinx hat sich da niedergelassen, und ich gehe umher, ohne etwas zu verstehen. Was aber dich anlangt, so trägst du meines Erachtens weniger Schuld als wir alle, wiewohl natürlich vieles um deinetwillen so gekommen ist. Du siehst, Fürst, es ist ein Vergnügen, ein Philanthrop zu sein, aber kein sehr großes. Du hast wohl selbst schon die Früchte davon zu schmecken bekommen. Ich habe natürlich Herzensgüte sehr gern und schätze Lisaweta Prokofjewna sehr hoch, aber ...«[217]

Der General fuhr noch lange fort, in dieser Weise zu reden; aber seine Worte waren in wunderlicher Weise unzusammenhängend. Es war klar, daß er durch etwas ihm völlig Unverständliches stark erschüttert und in arge Verwirrung versetzt worden war.

»Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß du damit nichts zu schaffen hast«, drückte er sich endlich deutlicher aus. »Aber ich bitte dich in aller Freundschaft, uns eine Zeitlang nicht zu besuchen, bis sich der Wind gedreht haben wird. Was aber Jewgeni Pawlowitsch anbetrifft«, rief er mit ungewöhnlicher Wärme, »so ist das alles sinnlose Verleumdung, Verleumdung schlimmster Art! Es ist Anschwärzung; da steckt eine Intrige dahinter, der Wunsch, alles über den Haufen zu stürzen und uns zu entzweien. Siehst du, Fürst, ich sage dir im Vertrauen: zwischen uns und Jewgeni Pawlowitsch ist noch kein deutliches Wort gesprochen worden. Wir sind in keiner Weise gebunden; aber ein solches Wort kann gesprochen werden und sogar vielleicht sehr bald! Darum wollte man ihm schaden! Aber welchen Zweck das Ganze eigentlich verfolgt, das kann ich nicht begreifen! Sie ist ein wunderbares Weib, ein exzentrisches Weib; ich fürchte mich vor ihr so sehr, daß ich kaum schlafen kann. Und was hat sie für eine Equipage! Diese Schimmel! Das ist ja großartig; das ist genau das, was man im Französischen chic nennt! Wer bezahlt das für sie? Ich habe mich wahrhaftig versündigt und vorgestern gedacht, am Ende tue es Jewgeni Pawlowitsch. Aber es stellt sich heraus, daß das unmöglich ist; wenn das aber unmöglich ist, warum will sie dann diese Sache hintertreiben? Das ist das Rätsel! Um Jewgeni Pawlowitsch für sich zu behalten? Aber ich wiederhole dir und bekreuze mich dabei, daß er mit ihr nicht bekannt ist, und daß diese Wechsel pure Erfindung sind! Und mit welcher Frechheit sie ihn über die Straße weg duzte! Das ist ja die reine Tücke! Es ist klar, daß man diese Verleumdung verächtlich zurückweisen und dem beleidigten Jewgeni Pawlowitsch mit[218] verdoppelter Achtung begegnen muß. Das habe ich auch zu Lisaweta Prokofjewna gesagt. Jetzt will ich dir meinen allergeheimsten Gedanken mitteilen: ich bin fest überzeugt, daß sie das getan hat, um sich an mir persönlich zu rächen, du erinnerst dich wohl, wegen meiner früheren Beziehungen zu ihr, wiewohl ich mir nie ihr gegenüber auch nur das geringste habe zuschulden kommen lassen. Ich erröte bei der bloßen Erinnerung. Jetzt ist sie nun wieder aufgetaucht; ich hatte schon gedacht, sie wäre für immer verschwunden. Sag mal, bitte, wo steckt denn eigentlich dieser Rogoschin? Ich dachte, sie wäre schon längst seine Frau.«

Kurz, der Mann war mit seinem Denken völlig in Unordnung geraten. Fast die ganze Stunde über, die die Fahrt dauerte, redete er allein, warf Fragen auf, die er dann selbst beantwortete, drückte dem Fürsten die Hand und überzeugte diesen wenigstens davon, daß er nicht daran dachte, ihn irgendwie im Verdacht zu haben. Das war dem Fürsten wichtig. Zuletzt erzählte er von Jewgeni Pawlowitschs Onkel, dem Chef einer Ministerialabteilung in Petersburg; »er bekleidet ein hohes Amt, ist siebzig Jahre alt, ein Lebemann, ein Gourmand und läßt sich trotz seiner Jahre noch leicht verlocken. Haha! Ich weiß, daß er von Nastasja Filippowna gehört und sich sogar um sie bemüht hat. Ich sprach vorhin bei ihm vor; aber er empfängt nicht, er ist unpäßlich. Aber er ist reich, schwerreich, besitzt großen Einfluß und ... Nun, Gott gebe ihm Gesundheit und noch ein langes Leben; aber irgendeinmal fällt doch alles Jewgeni Pawlowitsch zu ... Ja, ja ... aber doch ängstige ich mich! Ich weiß nicht, wovor; aber ich ängstige mich ... Es ist, als ob etwas in der Luft schwebte wie eine Fledermaus; es ist ein Unheil im Anzug, und ich ängstige mich, ich ängstige mich ...!«

Endlich, erst am dritten Tag, wie schon oben gesagt, erfolgte die förmliche Aussöhnung der Familie Jepantschin mit dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch.

Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Der Idiot. Die großen Romane, Bände 3–5, Frankfurt am Main 1981, Band 4, S. 197-219.
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