VI.

[243] Schatow stand an seiner verschlossenen Tür und horchte nach der Treppe hin; auf einmal sprang er zurück.

»Er kommt hierher! Wußte ich es doch!« flüsterte er wütend. »Nun werden wir ihn vielleicht vor Mitternacht nicht los.«

Es erschollen einige starke Faustschläge gegen die Tür.

»Schatow, Schatow, mach auf!« brüllte der Hauptmann. »Schatow, lieber Freund! ...


›Kam, dir meinen Mo-morgengruß zu bringen,

Dir zu me-melden, daß die liebe Sonne

Schon am Himmel str-r-rahlt, die Vöglein singen

Hell in Wald und Feld vor Lebenswonne,

Dir zu melden, daß auch ich erwachte,‹ (hol dich der Teufel!),

›Froh erwachte auf der Ba-bank von Rasen,‹ (wie auf der Prügelbank, ha-ha!),

›Dir zu melden, ...‹


daß ich etwas trinken werde. Trinkt ja auch jedes Vöglein ein Schlückchen. Aber ich weiß nicht, was ich trinken werde. Na, hol der Teufel die dumme Neu gier! Schatow, verstehst du auch wohl, wie schön es sich auf der Welt lebt?«

»Antworten Sie ihm nicht!« flüsterte mir Schatow wieder zu.

»Mach doch auf! Verstehst du auch wohl, daß es etwas Höheres gibt als Prügelei ... bei der Menschheit? Es gibt bei einem e-edlen Menschen Augenblicke ... Schatow, ich bin ein guter Mensch; ich verzeihe dir ... Schatow, hol der Teufel die Proklamationen, was?«

Schweigen.[243]

»Verstehst du auch wohl, du Esel, daß ich verliebt bin? Ich habe mir einen Frack gekauft; sieh mal, einen Liebesfrack, für fünfzehn Rubel; die Liebe eines Hauptmanns verlangt ein anständiges äußeres Auftreten ... Mach auf!« brüllte er auf einmal wild und schlug wieder rasend mit den Fäusten an die Tür.

»Scher' dich zum Teufel!« schrie Schatow plötzlich.

»Kne-knecht! Ein leibeigner Knecht bist du, und deine Schwester ist eine Magd und ... eine Diebin!«

»Du aber hast deine Schwester verkauft.«

»Du lügst! Ich leide ohne meine Schuld und kann durch eine einzige Aussage ... verstehst du wohl, wer sie ist?«

»Nun, wer?« fragte Schatow und trat neugierig an die Tür heran.

»Verstehst du es auch wohl?«

»Ich werde es schon verstehen; sage nur, wer sie ist!«

»Ich habe den Mut, es zu sagen! Ich habe immer den Mut, alles öffentlich zu sagen! ...«

»Na, du wirst wohl kaum den Mut dazu haben,« höhnte Schatow und winkte mir mit dem Kopfe, ich möchte zuhören.

»Ich habe nicht den Mut dazu?«

»Meiner Meinung nach hast du ihn nicht.«

»Ich habe nicht den Mut dazu?«

»So rede doch, wenn du nicht zu fürchten hast, daß dich ein Herr und Gebieter durchpeitschen läßt ... Du bist ein Feigling, und das will ein Hauptmann sein!«

»Ich ... ich ... sie ... sie ist ...« stammelte der Hauptmann aufgeregt mit zitternder Stimme.

»Nun?« Schatow hielt das Ohr hin.[244]

Es trat ein Stillschweigen ein, das mindestens eine halbe Minute dauerte.

»Schu-schurke!« ertönte es endlich auf der anderen Seite der Tür, und der Hauptmann retirierte, wie ein Samowar schnaufend, schnell nach unten, wobei er auf jeder Treppenstufe geräuschvoll stolperte.

»Nein, er ist schlau; auch wenn er betrunken ist, verplappert er sich nicht,« sagte Schatow und trat von der Tür zurück.

»Was bedeutet denn das alles?« fragte ich.

Schatow machte eine mißmutige Handbewegung, schloß die Tür auf und horchte wieder nach der Treppe hin; er horchte lange und stieg sogar leise ein paar Stufen hinunter. Endlich kehrte er zurück.

»Es ist nichts zu hören; er hat sie nicht geschlagen; also hat er sich ohne weiteres hingeworfen und ist eingeschlafen. Es ist Zeit, daß Sie gehen.«

»Hören Sie, Schatow, was soll ich denn jetzt aus alledem schließen?«

»Ach was! Schließen Sie daraus, was Sie wollen!« antwortete er müde und verdrossen und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Ich ging weg. Ein sonderbarer Gedanke befestigte sich immer mehr in meinem Kopfe. Mit Sorge dachte ich an den morgigen Tag ...

Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Die Teufel. Leipzig [1920], Band 1, S. 243-245.
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