IV.

[124] »Ein Messer, ein Messer!« sagte er in grimmigem Zorne vor sich hin, während er, ohne auf den Weg zu achten, mit großen Schritten durch den Schmutz und die Pfützen dahinging. In einzelnen Augenblicken hatte er allerdings die größte Lust, laut und wütend aufzulachen; aber aus irgendwelchem Grunde beherrschte er sich und unterdrückte das Lachen. Er kam erst auf der Brücke wieder zu sich, gerade an derselben Stelle, wo ihm vorhin Fedka begegnet war; ebenderselbe Fedka erwartete ihn dort auch jetzt, nahm, sobald er ihn erblickte, die Mütze ab, grinste fröhlich und begann sogleich flott und munter etwas zu schwatzen. Nikolai Wsewolodowitsch ging anfangs ohne anzuhalten vorbei und hörte eine Weile gar nicht nach dem Landstreicher hin, der sich ihm wieder angeschlossen hatte. Auf einmal überraschte ihn der Gedanke, daß er den Menschen vollständig vergessen hatte, und ihn vergessen hatte gerade in der Zeit, wo er selbst alle Augenblicke vor sich hingesagt hatte: »Ein Messer, ein Messer!« Er faßte den Landstreicher beim Kragen und warf ihn mit all dem Ingrimm, der sich in ihm aufgesammelt hatte, aus[124] Leibeskräften auf die Brückenbohlen nieder. Einen Augenblick lang dachte dieser daran, mit dem Gegner zu ringen; aber er sagte sich sofort, daß er demselben gegenüber, noch dazu bei einem so unerwarteten Angriff, nur eine Art Strohhalm sein würde; daher verhielt er sich ruhig, schwieg und leistete überhaupt keinen Widerstand. Kniend, auf den Boden niedergedrückt, die Ellbogen auf den Rücken zurückgezwängt, wartete der schlaue Landstreicher ruhig die weitere Entwicklung ab, ohne im geringsten an eine Gefahr zu glauben, wie es schien.

Er hatte sich nicht geirrt. Nikolai Wsewolodowitsch war allerdings schon im Begriff, sich mit der linken Hand den warmen Schal abzunehmen, um seinem Gefangenen damit die Hände zu binden; aber auf einmal ließ er Fedka aus irgendwelchem Grunde wieder los und stieß ihn von sich. Dieser sprang im Nu auf die Füße, drehte sich um, und ein kurzes, breites Schustermesser, das plötzlich irgendwoher zum Vorschein kam, blitzte in seiner Hand.

»Weg mit dem Messer! Steck es ein, steck es sofort ein!« befahl Nikolai Wsewolodowitsch mit einer ungeduldigen Handbewegung, und das Messer verschwand ebenso schnell, wie es erschienen war.

Nikolai Wsewolodowitsch setzte wieder schweigend und ohne sich umzuwenden seinen Weg fort; aber der hartnäckige Taugenichts ließ dennoch nicht von ihm ab, wenn er auch jetzt nicht schwatzte und sogar eine respektvolle Entfernung von einem ganzen Schritte hinter dem Vorangehenden innehielt. Beide überschritten auf diese Weise die Brücke und stiegen das Ufer hinauf; dann wendeten sie sich diesmal links und bogen in eine gleichfalls lange, öde Gasse ein, durch die man schneller in das Zentrum[125] der Stadt gelangte als auf dem vorher benutzten Wege durch die Bogojawlenskaja-Straße.

»Ist das wahr? Man sagt, du hättest neulich hier irgendwo im Kreise eine Kirche beraubt?«

»Das heißt, ursprünglich war ich eigentlich hingegangen, um zu beten,« antwortete der Landstreicher ruhig und höflich, als ob nichts vorgefallen wäre, und nicht nur ruhig, sondern sogar mit einer gewissen Würde.

Von der früheren freundschaftlichen Familiarität war in seiner Redeweise keine Spur mehr vorhanden. Er machte den Eindruck eines tüchtigen, ernsten Menschen, der zwar grundlos beleidigt worden ist, es aber versteht, auch eine Beleidigung zu vergessen.

»Aber als Gott mich dorthin geführt hatte,« fuhr er fort, »da dachte ich: Siehe da, das ist eine Gnade des Himmels! Das ist wegen meiner Armut geschehen, da es bei meinem Schicksal ohne Unterstützung nun einmal nicht geht. Aber Sie können es bei Gott glauben, gnädiger Herr: ich habe davon Schaden gehabt; denn Gott hat mich für meine Sünden gestraft. Für die Kirchengeräte habe ich zusammen nur zwölf Rubel bekommen. Den Kinnriemen des heiligen Nikolaus, den ich für reines Silber gehalten hatte, habe ich als Zugabe gegeben; er sei unecht, sagten sie.«

»Und den Wächter hast du ermordet?«

»Das heißt, ich habe mit dem Wächter zusammen in der Kirche aufgeräumt, und dann nachher gegen Morgen sind wir bei dem Flüßchen in Streit geraten, wer den Sack tragen solle. Da habe ich mich versündigt und ihn von allem Erdenleide befreit.«

»So ist's recht; morde nur immer, stiehl nur immer!«[126]

»Genau dasselbe, mit denselben Worten wie Sie, rät mir auch Peter Stepanowitsch, weil er, was eine Unterstützung anlangt, sehr geizig und hartherzig ist. Außerdem glaubt er nicht die Bohne an den himmlischen Schöpfer, der uns aus Erdenstaub erschaffen hat, sondern glaubt und sagt, das habe alles die Natur so eingerichtet, sogar bis zum geringsten Tiere herab. Überdies hat er auch kein Verständnis dafür, daß ich bei meinem Schicksal ohne wohltätige Unterstützung schlechterdings nicht existieren kann. Wenn man ihm das sagt, so sieht er einen an wie der Hammel das Wasser; man kann sich über ihn bloß wundern. Werden Sie es glauben: bei dem Hauptmann Lebjadkin, den Sie soeben besucht haben, als der noch in dem Filippowschen Hause wohnte, da stand bei ihm manchmal die Tür die ganze Nacht über sperrangelweit auf, und er selbst schlief sternhagelvoll betrunken, und das Geld war ihm aus allen Taschen auf die Dielen gefallen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen; denn daß ich bei der Wendung, die mein Schicksal genommen hat, ohne Unterstützung leben könnte, ist ganz unmöglich ...«

»Was meinst du damit: mit eigenen Augen? Bist du in der Nacht hingegangen?«

»Vielleicht bin ich auch hingegangen; nur weiß es niemand.«

»Und warum hast du ihn nicht ermordet?«

»Ich habe es mir auf dem Rechenbrett ausgerechnet und bin dadurch zu besonnenem Handeln gelangt. Denn obgleich ich bestimmt wußte, daß ich mir immer hundertfünfzig Rubel holen konnte, wie werde ich mich denn darauf einlassen, da ich doch ganze tausendfünfhundert bekommen[127] kann, wenn ich nur ein bißchen warte? Denn der Hauptmann Lebjadkin (das habe ich mit meinen eigenen Ohren gehört) hoffte, wenn er betrunken war, immer stark auf Sie, und es gibt hier kein Restaurant, ja keine Schenke niedrigsten Ranges, wo er das nicht in solchem Zustande erklärt hätte. Da ich also dergleichen über Sie aus dem Munde vieler hörte, so habe auch ich auf Euer Erlaucht meine ganze Hoffnung gesetzt. Ich sehe Sie, gnädiger Herr, so an, als ob Sie mein leiblicher Vater oder mein leiblicher Bruder wären, und weder Peter Stepanowitsch noch sonst eine Menschenseele wird jemals etwas darüber von mir erfahren. Werden Sie mir also die drei Rubelchen schenken, Euer Erlaucht, oder nicht? Sie sollten mir einen endgültigen Bescheid geben, gnädiger Herr, damit ich die volle Wahrheit weiß; denn ohne Unterstützung kann unsereiner nicht existieren.«

Nikolai Wsewolodowitsch lachte laut auf, zog sein Portemonnaie aus der Tasche, in welchem sich etwa fünfzig Rubel in kleinen Scheinen befanden, und warf ihm eine Banknote aus dem Päckchen hin, dann eine zweite, eine dritte, eine vierte. Fedka haschte sie im Fluge, sprang hin und her, die Banknoten fielen in den Schmutz, Fedka fischte sie heraus und rief dabei bedauernd: »Oh, oh!« Nikolai Wsewolodowitsch warf ihm schließlich das ganze Päckchen zu und ging, immer noch lachend, die Gasse nunmehr allein weiter. Der Landstreicher blieb zurück und suchte, auf den Knien im Schmutze herumrutschend, die im Winde auseinanderflatternden und in den Pfützen versinkenden Banknoten, und noch eine ganze Stunde lang konnte man in der Dunkelheit seine abgebrochenen Ausrufe: »Oh, oh!« hören.

Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Die Teufel. Leipzig [1920], Band 2, S. 124-128.
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