I

[361] Ist es wirklich eine Fortsetzung des Traumes? – dachte Raskolnikow noch einmal.

Vorsichtig und mißtrauisch betrachtete er den unerwarteten Gast.

»Swidrigailow? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!« sagte er schließlich laut, ganz verständnislos.

Der Gast schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt.

»Ich bin aus zwei Gründen heraufgekommen; erstens wollte ich Sie persönlich kennenlernen, da ich schon längst viel Interessantes und Vorteilhaftes über Sie gehört habe, und zweitens bilde ich mir ein, daß Sie sich vielleicht nicht weigern werden, mir in meinem Unternehmen zu helfen, das direkt die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna berührt. Mich selbst, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht nicht über die Schwelle lassen, infolge eines Vorurteils, doch mit Ihrer Hilfe rechne ich.«

»Sie rechnen schlecht«, unterbrach ihn Raskolnikow.

»Die Damen sind doch erst gestern angekommen, wenn ich fragen darf?«

Raskolnikow gab keine Antwort.

»Gestern, ich weiß es. Ich bin ja selbst erst vorgestern angekommen. Nun will ich Ihnen folgendes darüber sagen, Rodion Romanowitsch; mich zu rechtfertigen, halte ich für überflüssig, gestatten Sie mir aber, eines zu bemerken: was habe ich in dieser ganzen Sache verbrochen, natürlich wenn man es ohne Vorurteile, sondern vernünftig betrachtet?«

Raskolnikow fuhr fort, ihn schweigend zu betrachten.

»Daß ich in meinem Hause ein wehrloses junges Mädchen verfolgt und ›mit meinen gemeinen Anträgen beleidigt‹[361] habe, nicht wahr? (Ich nehme es selbst vorweg!) – Denken Sie doch nur daran, daß auch ich Mensch bin, et nihil humanum ... mit einem Worte, daß auch ich imstande bin, einer Versuchung zu unterliegen und mich zu verlieben (was natürlich nicht nach unserem Wunsche geschieht), – und dann läßt sich alles auf die natürlichste Weise erklären. Dann ist es noch eine Frage: bin ich ein Scheusal oder selbst ein Opfer? Was, wenn ich ein Opfer bin? Indem ich dem Gegenstande meiner Leidenschaft den Vorschlag machte, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz zu fliehen, hatte ich vielleicht die respektvollsten Gefühle und glaubte sogar unser gemeinsames Glück zu begründen! Die Vernunft dient doch der Leidenschaft; vielleicht richtete ich mich dabei selbst noch mehr zugrunde, ich bitte Sie! ...«

»Es handelt sich aber gar nicht darum«, unterbrach ihn Raskolnikow angeekelt. »Sie sind einfach widerlich, ob Sie recht haben oder nicht, man will mit Ihnen nichts zu tun haben und jagt Sie fort, also gehen Sie doch! ...«

Swidrigailow lachte plötzlich auf.

»Aber Sie ... Sie lassen sich nicht aus dem Konzept bringen!« sagte er und lachte auf die offenste Weise. »Ich wollte schon schwindeln, aber Sie haben gleich den richtigen Punkt getroffen!«

»Sie schwindeln auch jetzt.«

»Was ist denn dabei? Was ist denn dabei?« wiederholte Swidrigailow, aufrichtig lachend. »Es ist doch, was man so nennt, bonne guerre und eine durchaus erlaubte List! ... Sie haben mich aber unterbrochen; so oder anders, ich erkläre noch einmal: es hätte nicht die geringste Unannehmlichkeit gegeben, wenn nicht der Fall im Garten. Marfa Petrowna ...«

»Man sagt, Sie haben auch Marfa Petrowna umgebracht?« unterbrach ihn Raskolnikow grob.

»Sie haben auch davon schon gehört? Wie sollte man übrigens davon nicht hören ... Nun, was Ihre Frage betrifft, so weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll,[362] obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung äußerst ruhig ist. Glauben Sie aber nicht, daß ich etwas befürchte: alles ist in vollkommener Ordnung und mit peinlicher Genauigkeit erledigt: die ärztliche Untersuchung ergab einen Herzschlag, der infolge eines sofort nach einem reichlichen Mittagessen, bei dem fast eine ganze Flasche Wein getrunken wurde, genommenen Bades eingetreten ist, und sie konnte auch gar nichts anderes ergeben ... Nein, ich habe mir eine Zeitlang, besonders unterwegs, im Eisenbahnwagen, folgendes gedacht: ob ich zu diesem ... Unglück nicht irgendwie moralisch durch eine Reizung oder sonstwie beigetragen habe? Doch ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß dies ganz bestimmt nicht der Fall sein konnte.«

Raskolnikow lachte.

»Was machen Sie sich auch Sorgen darüber!«

»Warum lachen Sie denn! Bedenken Sie doch: ich habe sie nur zweimal mit der Gerte geschlagen, und man fand später auch gar keine Spuren ... Halten Sie mich bitte nicht für einen Zyniker; ich weiß doch sehr gut, wie gemein das von mir war, und so weiter; ich weiß aber auch ganz bestimmt, daß Marfa Petrowna vielleicht sogar froh war, daß ich, sagen wir, mich so hinreißen ließ. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis auf den Rest erschöpft. Marfa Petrowna mußte schon den dritten Tag zu Hause sitzen; sie hatte nichts mehr in unserem Städtchen auszuposaunen, auch waren schon alle ihrer und dieses Briefes überdrüssig (über das Vorlesen des Briefes haben Sie wohl schon gehört?). Und plötzlich fallen ihr diese beiden Gertenschläge wie vom Himmel in den Schoß! Zu allererst läßt sie natürlich den Wagen anspannen! ... Ich spreche nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen überaus angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der scheinbaren Entrüstung. Bei allen gibt es solche Fälle; der Mensch liebt es überhaupt sehr, beleidigt zu sein; haben Sie es schon bemerkt? Doch die Frauen ganz besonders. Man kann sogar sagen, daß sie nur davon leben.«[363]

Raskolnikow hatte eine Zeitlang die Absicht, aufzustehen und fortzugehen und damit dem Gespräch ein Ende zu machen. Aber eine gewisse Neugier und sogar eine Berechnung hielten ihn für einen Augenblick zurück.

»Schlagen Sie gerne los?« fragte er zerstreut.

»Nein, nicht sehr«, antwortete Swidrigailow ruhig. »Marfa Petrowna habe ich fast nie geschlagen. Wir lebten in großer Eintracht, und sie war mit mir immer zufrieden. Die Gerte habe ich in den sieben Jahren unseres Zusammenlebens bloß zweimal gebraucht (wenn man von einem dritten Fall, der übrigens recht zweifelhaft ist, absieht). Das erstemal zwei Monate nach unserer Heirat, gleich nach unserer Ankunft auf dem Gut, und dann dieser letzte Fall. Sie glaubten wohl schon, ich sei so ein Scheusal, ein Rückschrittler und Verfechter der Leibeigenschaft? He-he ... A propos: können Sie sich vielleicht noch erinnern, Rodion Romanowitsch, wie man bei uns vor einigen Jahren, noch in der Zeit der segensreichen Pressefreiheit, einen gewissen Edelmann – ich habe seinen Namen vergessen – öffentlich und in der ganzen Presse gebrandmarkt hat, weil er irgendeine Deutsche im Eisenbahnwagen mit einer Peitsche geschlagen hat? Im gleichen Jahr hat sich auch, wenn ich nicht irre, der unerhörte Fall mit der Zeitung ›Zeit‹ abgespielt (nun, die öffentliche Vorlesung von Puschkins ›Agyptischen Nächten‹, können Sie sich daran erinnern? Die schwarzen Augen! Oh, wo bist du, goldene Zeit unserer Jugend!). Das ist also meine Ansicht: für den Herrn, der die Deutsche mit der Peitsche geschlagen hat, habe ich nicht die geringste Sympathie, denn in der Tat, warum soll man mit ihm ... Sympathie haben?! Bei dieser Gelegenheit kann ich aber nicht verschweigen, daß manche ›Deutsche‹ so aufreizend ist, daß wohl kein einziger Fortschrittler für sich selbst bürgen könnte. Von diesem Standpunkte aus hatte damals niemand die Sache betrachtet, und doch ist eben dieser Standpunkt der wahrhaft humane, es ist wirklich so!«

Nach diesen Worten begann Swidrigailow wieder zu[364] lachen. Raskolnikow war es jetzt klar, daß dieser Mensch sich etwas fest vorgenommen hatte und etwas im Schilde führte.

»Sie haben wohl einige Tage nacheinander mit niemand gesprochen?« fragte er ihn.

»Es ist beinahe so. Warum? Sie staunen wohl, daß ich so vernünftig rede?«

»Nein, ich staune nur, daß Sie allzu vernünftig reden.«

»Weil ich mich durch Ihre groben Fragen nicht gekränkt fühle? Nicht wahr? Was soll ich mich auch gekränkt fühlen? Wie Sie mich fragen, so antworte ich Ihnen auch«, fügte er auffallend treuherzig hinzu. »Ich habe doch fast für nichts besonders Interesse, bei Gott«, fuhr er nachdenklich fort. »Besonders jetzt bin ich mit nichts beschäftigt ... Es ist übrigens verzeihlich, wenn Sie annehmen, daß ich mich bei Ihnen mit einem bestimmten Ziel einzuschmeicheln suche, um so mehr, als ich etwas von Ihrer Schwester will: ich habe es Ihnen ja selbst gesagt. Aber ich sage es Ihnen aufrichtig: es ist furchtbar langweilig ... Nehmen Sie mir es nicht übel, Rodion Romanowitsch, aber Sie selbst kommen mir so furchtbar merkwürdig vor. Sie können sagen, was Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen; und gerade jetzt, das heißt nicht nur in diesem Augenblick, sondern überhaupt jetzt ... Na, na, ich rede nicht mehr davon, machen Sie nicht gleich ein finsteres Gesicht! Ich bin doch nicht so ein Bär, wie Sie glauben.«

Raskolnikow blickte ihn finster an.

»Sie sind vielleicht gar kein Bär«, sagte er. »Mir scheint sogar, daß Sie zur guten Gesellschaft gehören oder wenigstens verstehen, bei Gelegenheit auch ein anständiger Mensch zu sein.«

»Ich interessiere mich auch nicht für irgend wessen Meinung«, antwortete Swidrigailow trocken, sogar mit einem Anfluge von Hochmut. »Warum soll ich auch nicht gemein sein, wenn dieses Kleid in unserem Klima so bequem ist und ... und besonders wenn man eine natürliche Neigung dazu hat«, fügte er hinzu und lachte wieder.[365]

»Ich hörte aber, daß Sie viele Bekannte haben. Sie sind doch, was man so nennt, ›nicht ohne Verbindungen‹. Was brauchen Sie dann mich, wenn nicht zu einem bestimmten Zweck?«

»Das stimmt, daß ich Bekannte habe«, fiel ihm Swidrigailow ins Wort, ohne jedoch die Hauptfrage zu beantworten. »Einige habe ich auch schon getroffen; ich treibe mich ja schon den dritten Tag hier herum; ich erkenne die Leute wieder, und auch sie scheinen mich zu erkennen. Allerdings bin ich anständig gekleidet und gelte als vermögender Mann; uns hat auch die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht geschadet: wir haben Wälder und Flußwiesen, das Einkommen ist nicht geschmälert; aber ... ich will die Leute nicht aufsuchen; sie waren mir auch früher schon langweilig; den dritten Tag gehe ich herum und gebe mich niemand zu erkennen ... Und erst diese Stadt! Sagen Sie mir, bitte, wer hat sie erdacht? Es ist die Stadt von Kanzlisten und allen möglichen Seminaristen! Ich habe hier früher wirklich vieles nicht bemerkt, vor acht Jahren, als ich mich hier herumtrieb ... Jetzt setze ich alle meine Hoffnungen nur noch auf die Anatomie, bei Gott!«

»Auf was für eine Anatomie?«

»Was aber alle diese Klubs, die Restaurants von Dussot und die schönen Aussichtspunkte auf den Inseln, vielleicht auch den Fortschritt betrifft, so habe ich kein Interesse dafür«, fuhr er fort, wieder ohne die Frage zu beachten. »Was für ein Vergnügen ist es auch, Falschspieler zu sein!«

»Waren Sie denn auch Falschspieler?«

»Ja, natürlich! Wir waren eine ganze höchst anständige Gesellschaft, vor acht Jahren; wir vertrieben uns die Zeit; und, wissen Sie, lauter Menschen mit Manieren, Dichter waren dabei, auch Kapitalisten. Überhaupt haben bei uns, in der russischen Gesellschaft die besten Manieren gerade solche Menschen, die schon einmal Prügel bekommen haben –, wissen Sie es noch nicht? Ich bin nur auf dem Lande so verbauert. Und doch hatte mich damals ein[366] Grieche aus Njeschin wegen Schulden ins Gefängnis gesperrt. Da kam gerade Marfa Petrowna dazwischen, sie handelte mit dem Mann und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus. (Im ganzen schuldete ich siebzigtausend.) Wir gingen eine legitime Ehe ein, und sie brachte mich sofort wie einen kostbaren Schatz zu sich aufs Gut. Sie war ja um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben Jahre verließ ich das Gut nicht. Und beachten Sie, bitte: Ihr ganzes Leben hatte sie ein Dokument gegen mich, einen auf einen fremden Namen ausgestellten Wechsel über diese dreißigtausend Rubel in Händen, so daß, wenn ich nur wagte, mich gegen sie zu empören, sie mich sofort ins Loch bringen konnte! Und sie hätte es auch getan!«

»Und wenn sie den Wechsel nicht gehabt hätte, so wären Sie wohl durchgebrannt?«

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Dieses Dokument genierte mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu gehen, und Marfa Petrowna hat mir sogar selbst zweimal eine Auslandsreise angeboten, als sie sah, daß ich mich langweilte. Aber, was! Im Auslande war ich schon vorher gewesen und hatte mich da immer gelangweilt. Es war weniger Langweile, aber so ein Sonnenaufgang, der Golf von Neapel, das Meer –, wenn ich es sehe, so ist es mir so traurig zumute. Das Gemeinste ist, daß man tatsächlich Trauer empfindet! Nein, in der Heimat ist es doch besser: hier schiebt man wenigstens die Schuld den anderen zu und rechtfertigt sich selbst. Vielleicht würde ich noch an einer Nordpolexpedition teilnehmen, denn – j'ai le vin mauvais, das Trinken ist mir zuwider, aber außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Ich habe es schon versucht. Man sagt, daß Berg am Sonntag im Jussupowschen Garten mit einem großen Luftballon aufsteigen wird und Reisebegleiter gegen eine bestimmte Bezahlung sucht, ist das wahr?«

»Nun, würden Sie mitfliegen?«

»Ich? Nein ... ich frage nur so ...« murmelte Swidrigailow und schien wirklich nachdenklich zu werden.[367]

– Ist es sein Ernst? – dachte Raskolnikow.

»Nein, das Dokument hat mich niemals geniert,« fuhr Swidrigailow nachdenklich fort, »ich wollte selbst nicht das Gut verlassen. Auch hat mir Marfa Petrowna vor einem Jahr zu meinem Namenstag das Dokument zurückerstattet und mir außerdem noch eine nennenswerte Summe geschenkt. Sie hatte ja Vermögen. – ›Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadij Iwanowitsch‹ –, so drückte sie sich aus, wahrhaftig. Sie glauben wohl nicht, daß sie sich so ausdrückte? Wissen Sie: ich bin auf dem Lande ein tüchtiger Landwirt geworden, man kennt mich im ganzen Umkreis. Ich ließ mir auch Bücher kommen. Marfa Petrowna billigte es zuerst, fürchtete aber dann immer, ich könnte mich beim Studium überanstrengen.«

»Marfa Petrowna geht Ihnen wohl sehr ab?«

»Mir? Mag sein. Sogar sehr möglich. Übrigens, glauben Sie an Gespenster?«

»An was für Gespenster?«

»An ganz gewöhnliche Gespenster, was tragen Sie noch!«

»Und glauben Sie an Gespenster?«

»Vielleicht auch nicht, pour vous plaire ... Das heißt, eigentlich wohl ...«

»Erscheinen sie Ihnen?«

Swidrigailow sah ihn sonderbar an.

»Marfa Petrowna hat die Güte, mich zu besuchen«, sagte er, den Mund zu einem sonderbaren Lächeln verziehend.

»Was heißt, sie hat die Güte, Sie zu besuchen?«

»Sie ist schon dreimal dagewesen. Das erstemal sah ich sie am Tage der Beerdigung, eine Stunde nach der Beisetzung. Das war am Tage vor meiner Abreise hierher. Das zweite Mal war es vorgestern, in der Morgendämmerung, auf der Station Malaja Wischera; das dritte Mal aber vor zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin, in meinem Zimmer; ich war allein.«

»Im Wachen?«

»Vollkommen! Alle dreimal sah ich sie im Wachen. Sie[368] kommt, spricht mit mir eine Weile und geht dann durch die Tür hinaus: immer durch die Tür. Es ist sogar zu hören.«

»Warum habe ich mir nur gleich gedacht, daß Sie Erlebnisse dieser Art haben müssen!« sagte plötzlich Raskolnikow.

Schon im nächsten Augenblick staunte er, daß er das gesagt hatte. Er war sehr erregt.

»So? Sie haben es sich gedacht?« fragte Swidrigailow erstaunt. »Nein, wirklich? Hab ich denn nicht gesagt, daß es zwischen uns einen Berührungspunkt geben muß, wie?«

»Niemals haben Sie das gesagt!« antwortete Raskolnikow scharf und hitzig.

»Habe ich es nicht gesagt?«

»Nein!«

»Mir schien, ich hätte es gesagt. Vorhin, als ich eintrat und sah, daß Sie mit geschlossenen Augen lagen und sich schlafend stellten, sagte ich mir gleich: ›Es ist derselbe!‹«

»Was heißt das: derselbe? Was meinen Sie damit?« rief Raskolnikow.

»Was ich damit meine? Ich weiß wirklich nicht, was ...« murmelte Swidrigailow offenherzig und irgendwie selbst verwirrt.

Eine Minute schwiegen sie. Sie starrten einander unverwandt an.

»Das ist alles Unsinn!« rief Raskolnikow geärgert. »Was sagt denn Marfa Petrowna, wenn sie kommt?«

»Was sie sagt? Denken Sie sich nur, sie spricht nur von den nichtigsten Bagatellen. Sie werden über mich staunen: dies ärgert mich gerade. Das erste Mal kam sie (wissen Sie, ich war so müde: der Trauergottesdienst, die Totenmesse, das Totenmahl, endlich war ich allein in meinem Arbeitszimmer, steckte mir eine Zigarre an, wurde nachdenklich), sie trat durch die Tür ein und sagte: ›Arkadij Iwanowitsch, Sie haben im Tummel heute vergessen, die Uhr im Eßzimmer aufzuziehen.‹ Diese Uhr pflegte ich aber die ganzen sieben Jahre jede Woche selbst aufzuziehen, und wenn ich es vergaß, so erinnerte sie mich immer daran. Am nächsten Tag[369] bin ich schon auf der Reise hierher. Ich trete beim Morgengrauen ins Stationsgebäude – in der Nacht hatte ich ein bißchen geschlafen, bin ganz zerschlagen, die Augen fallen mir zu –, ich lasse mir Kaffee geben; plötzlich sehe ich: Marfa Petrowna setzt sich neben mich, hat ein Spiel Karten in der Hand. ›Soll ich Ihnen die Karte schlagen, Arkadij Iwanowitsch, für die Reise?‹ Sie war aber eine große Meisterin im Kartenschlagen. Jetzt kann ich es mir nicht verzeihen, daß ich mir nicht die Karten schlagen ließ. Ich erschrak und lief davon, und da kam auch das Glockenzeichen. Heute sitze ich nach einem abscheulichen Essen in einer Garküche mit schwerem Magen; ich sitze, rauche, und plötzlich sehe ich wieder Marfa Petrowna; sie kommt schön geputzt in einem neuen grünseidenen Kleid mit langer Schleppe. ›Guten Tag, Arkadij Iwanowitsch! Wie gefällt Ihnen mein Kleid? Anißjka bringt so was nicht fertig.‹ (Anißjka hieß unsere Näherin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, war in Moskau in der Lehre gewesen, ein recht hübsches Mädel.) Sie steht da und dreht und wendet sich hin und her. Ich betrachtete ihr Kleid und sah ihr sehr aufmerksam ins Gesicht. ›Was ist's für ein Vergnügen, Marfa Petrowna,‹ sage ich ihr, ›sich diese Mühe zu machen und wegen eines solchen Unsinns zu mir zu kommen!‹ – ›Ach, mein Gott, Väterchen, darf man dich denn gar nicht aufsuchen?‹ Um sie zu necken, sage ich ihr: ›Marfa Petrowna, ich will wieder heiraten.‹ – ›Das sieht Ihnen ähnlich, Arkadij Iwanowitsch; es bringt Ihnen aber wenig Ehre ein, daß Sie, gleich nachdem Sie Ihre Frau beerdigt haben, schon wieder auf die Brautschau fahren. Und wenn Sie noch wenigstens was Rechtes wählten, aber ich weiß: es wird für beide Teile nichts Gescheites sein. Sie machen sich bloß lächerlich.‹ Sie ging hinaus und raschelte mit der Schleppe. Das ist doch Unsinn, wie?«

»Vielleicht ist das alles gelogen?« bemerkte Raskolnikow.

»Ich lüge selten«, antwortete Swidrigailow nachdenklich. Er schien die Grobheit der Frage gar nicht bemerkt zu haben.[370]

»Und früher, vordem, haben Sie niemals Gespenster gesehen?«

»N-nein, nur ein einziges Mal im Leben, vor sechs Jahren. Ich hatte einen leibeigenen Diener Filjka; kaum hatte man ihn beerdigt, da rief ich in meiner Vergeßlichkeit: ›Filjka, die Pfeife!‹ Und er kam herein und ging zum Pfeifenständer. Ich sitze und denke mir: ›Das tut er, um sich an mir zu rächen‹; denn es hat zwischen uns vor seinem Tode einen heftigen Streit gegeben. ›Wie wagst du‹, sage ich ihm, ›mit einem zerrissenen Ellbogen zu mir zu kommen?! Marsch, hinaus, Taugenichts!‹ Er machte kehrt, ging hinaus und kam nie wieder. Ich habe es Marfa Petrowna nicht erzählt. Ich wollte eine Totenmesse lesen lassen, genierte mich aber.«

»Gehen Sie doch mal zu einem Arzt.«

»Das verstehe ich auch ohne Sie, daß ich nicht ganz gesund bin, obwohl ich auch nicht weiß, was mir fehlte; ich meine, ich bin fünfmal gesünder als Sie. Aber ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie glauben, daß die Gespenster erscheinen, ich habe gefragt: Glauben Sie, daß es Gespenster gibt

»Nein, das glaube ich um nichts in der Welt!« rief Raskolnikow sogar wütend.

»Was sagt man gewöhnlich?« murmelte Swidrigailow wie vor sich hin, zur Seite blickend und den Kopf etwas geneigt. »Man sagt: ›Du bist krank, und darum ist alles, was du zu sehen glaubst, ein nichtexistierender Wahn.‹ Darin fehlt aber die strenge Logik. Ich gebe zu, daß die Gespenster nur Kranken erscheinen; das beweist aber doch nur, daß die Gespenster niemand anderem als Kranken erscheinen können, doch nicht, daß es sie an sich nicht gibt.«

»Natürlich gibt es sie nicht!« widersprach Raskolnikow gereizt.

»Nicht? Sie glauben es?« fuhr Swidrigailow fort, nachdem er ihn langsam angeblickt hatte. »Nun, und wie ist es, wenn man es so betrachtet (nun, helfen Sie mir mal): Die Gespenster sind sozusagen Fetzen und Bruchstücke anderer[371] Welten, ihr Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie natürlich nicht zu sehen, denn der gesunde Mensch ist der am meisten irdische Mensch und muß also der Vollständigkeit und der Ordnung wegen nur das eine hiesige Leben leben; kaum ist er aber erkrankt, kaum ist die normale irdische Ordnung im Organismus gestört, als sich sofort die Möglichkeit einer anderen Welt zeigt, und je kränker er ist, um so mehr Berührungspunkte hat er mit den anderen Welten, so daß, wenn der Mensch ganz stirbt, er direkt in die andere Welt eingeht. Darüber habe ich schon seit langem nachgedacht. Wenn Sie an das zukünftige Leben glauben, so können Sie auch an diese meine Theorie glauben.«

»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben«, sagte Raskolnikow.

Swidrigailow saß nachdenklich da.

»Und was, wenn dort nur Spinnen oder dergleichen sind?« sagte er plötzlich.

– Er ist verrückt – dachte Raskolnikow.

»Uns erscheint die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen kann, als etwas furchtbar Großes! Aber warum muß sie unbedingt groß sein? Und denken Sie sich nur, wenn plötzlich statt alles dessen dort nur ein kleines Zimmer sein wird, so in der Art einer Badestube auf dem Lande, verräuchert, und in allen Ecken Spinnen, und das ist die ganze Ewigkeit. Wissen Sie, mir schwebt zuweilen so etwas vor.«

»Können Sie sich denn wirklich nichts Tröstlicheres und Gerechteres als dies vorstellen?!« rief Raskolnikow mit einem schmerzvollen Gefühl.

»Gerechteres? Wer kann das wissen, vielleicht ist das auch die Gerechtigkeit, und wissen Sie, ich würde es unbedingt absichtlich so einrichten«, antwortete Swidrigailow mit einem unbestimmten Lächeln.

Bei dieser häßlichen Antwort überlief es Raskolnikow plötzlich kalt. Swidrigailow hob den Kopf, sah ihn durchdringend an und lachte plötzlich auf.[372]

»Nein, bedenken Sie doch nur,« rief er aus, »vor einer halben Stunde erst hatten wir einander noch nicht gesehen, wir hielten uns für Feinde; zwischen uns stand noch eine unerledigte Angelegenheit; und nun schoben wir diese Angelegenheit zur Seite und sind in diese literarische Diskussion geraten! Nun, hatte ich nicht recht, als ich sagte, daß wir beide vom gleichen Holze sind?«

»Tun Sie mir den Gefallen,« fuhr Raskolnikow gereizt fort, »gestatten Sie mir, Sie zu bitten, sich schneller zu erklären und mir mitzuteilen, weshalb Sie mir die Ehre Ihres Besuches erwiesen haben ... und ... und ... ich habe Eile, ich habe keine Zeit, ich will fortgehen ...«

»Ich bitte sehr. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet doch den Herrn Pjotr Petrowitsch Luschin?«

»Können Sie nicht irgendwie jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren Namen überhaupt nicht nennen? Ich verstehe wirklich nicht, wie Sie es wagen, ihren Namen in meiner Gegenwart auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Swidrigailow sind!«

»Ich bin ja gekommen, um über sie zu sprechen; wie soll ich da ihren Namen nicht nennen?«

»Gut. Sprechen Sie, doch schneller!«

»Ich bin überzeugt, daß Sie sich über diesen Herrn Luschin, mit dem ich durch meine Frau verwandt bin, schon Ihre Meinung gebildet haben, wenn Sie ihn nur eine halbe Stunde lang gesehen oder etwas Sicheres und Genauers über ihn gehört haben. Für Awdotja Romanowna ist er nicht der richtige Mann. Meiner Ansicht nach bringt sich Awdotja Romanowna in diesem Falle höchst großmütig und selbstlos zum Opfer für ... für ihre Familie. Nach allem, was ich über Sie gehört habe, nahm ich an, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht zustande käme. Und jetzt, wo ich Sie persönlich kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.«

»Ihrerseits ist das alles sehr naiv, entschuldigen Sie mich, ich wollte sagen: unverschämt«, sagte Raskolnikow.[373]

»Das heißt, Sie wollen damit sagen, daß ich an meinen eigenen Nutzen denke. Seien Sie unbesorgt, Rodion Romanowitsch; wenn ich an meinen Nutzen dächte, so würde ich nicht so offen sprechen, ich bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen ein gewisses psychologisches Kuriosum mitteilen. Als ich vorhin meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, sagte ich, daß ich selbst das Opfer gewesen sei. Nun sage ich Ihnen, daß ich jetzt gar keine Liebe empfinde, nicht die geringste, so daß ich mich sogar selbst darüber wundere, denn ich habe früher doch wirklich etwas empfunden ...«

»Das kommt von Müßiggang und Ausschweifung«, unterbrach ihn Raskolnikow.

»Das stimmt, ich bin ein liederlicher und ausschweifender Mensch. Ihre Schwester hat aber so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindruck unbedingt unterliegen mußte. Aber das alles ist Unsinn, wie ich es jetzt selbst einsehe.«

»Ist es lange her, daß Sie es eingesehen haben?«

»Ich fing schon früher an, es zu merken, aber die endgültige Überzeugung gewann ich erst vorgestern, fast im Augenblick meiner Ankunft in Petersburg. Übrigens hatte ich mir noch in Moskau eingebildet, daß ich herreise, um um die Hand Awdotja Romanownas zu werben und mit Herrn Luschin in Wettbewerb zu treten.«

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den Gefallen: können Sie sich nicht kürzer fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches kommen? Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...«

»Mit dem größten Vergnügen. Nachdem ich hier angekommen war und den Entschluß gefaßt hatte, einen gewissen ... Ausflug zu unternehmen, wollte ich vorher einige notwendige Anordnungen treffen. Meine Kinder sind bei der Tante geblieben; sie sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was bin ich auch für ein Vater! Für mich selbst habe ich nur das genommen, was Marfa Petrowna mir vor einem Jahre geschenkt hat. Für mich langt es. Entschuldigen[374] Sie, gleich komme ich auf die Sache selbst. Vor dem Ausflug, der vielleicht wirklich zustande kommt, will ich auch mit dem Herrn Luschin ein Ende machen. Ich will nicht sagen, daß er mir unausstehlich wäre, doch seinetwegen war mein Streit mit Marfa Petrowna entstanden, als ich erfuhr, daß sie diese Heirat eingefädelt habe. Ich möchte jetzt durch Ihre Vermittlung mit Awdotja Romanowna zusammenkommen und ihr, vielleicht sogar in Ihrer Anwesenheit, vor allen Dingen erklären, daß sie von Herrn Luschin nicht nur nicht den geringsten Vorteil, sondern sogar einen sicheren Schaden zu erwarten hat. Dann würde ich sie um Entschuldigung wegen all der Unannehmlichkeiten, die ich ihr vor kurzem zugefügt habe, bitten und sie um Erlaubnis ersuchen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr auf diese Weise den Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern, den Bruch, gegen den auch sie selbst, wie ich überzeugt bin, nichts einzuwenden hätte, wenn sie nur die geringste Möglichkeit sähe.«

»Sie sind doch wirklich, wirklich verrückt!« rief Raskolnikow, »weniger erbost als erstaunt. Wie wagen Sie nur, so zu sprechen!«

»Ich wußte es, daß Sie schreien werden. Ich bin zwar nicht reich, habe aber diese zehntausend Rubel gerade frei und brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annimmt, so werde ich sie vielleicht auf eine noch dümmere Weise ausgeben. Das ist das eine. Zweitens: mein Gewissen ist vollkommen rein; ich biete ihr das Geld ohne irgendwelche Nebenabsicht an. Sie mögen es mir glauben oder nicht, aber mit der Zeit werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Es handelt sich doch nur darum, daß ich Ihrer verehrten Schwester tatsächlich einige Mühe und Unannehmlichkeiten bereitet habe; indem ich also eine aufrichtige Reue empfinde, möchte ich von Herzen – nicht etwa mich loskaufen, nicht die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern ganz einfach ihr einen Vorteil erweisen, und zwar aus dem Grunde, weil ich doch schließlich und[375] endlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wäre in meinem Anerbieten auch nur ein Millionstel Berechnung, so würde ich das Geld nicht so offen hergeben: auch würde ich ihr nicht bloß zehntausend Rubel anbieten, wo ich ihr doch vor fünf Wochen viel mehr angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges Mädchen heiraten, und folglich muß jeder Verdacht, daß ich gegen Awdotja Romanowna etwas vorhabe, in sich selbst zusammenstürzen. Schließlich möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, wenn sie Herrn Luschin heiratet, doch dasselbe Geld nimmt, nur von einer anderen Seite ... Seien Sie, bitte, nicht böse, Rodion Romanowitsch, beurteilen Sie die Sache ruhig und kaltblütig.«

Als Swidrigailow das sagte, war er selbst äußerst kaltblütig und ruhig.

»Ich bitte Sie, zu Ende zu sprechen«, sagte Raskolnikow. »Jedenfalls ist es unverzeihlich frech.«

»Keineswegs. Dann kann der Mensch seinem Mitmenschen in dieser Welt nur Böses allein zufügen und hat dagegen kein Recht, ihm auch ein bißchen Gutes zu erweisen, wegen leerer konventioneller Formalitäten. Das wäre unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer Schwester testamentarisch vermacht hätte –, würde sie sich denn auch dann weigern, das Geld anzunehmen?«

»Sehr möglich.«

»Nein, ganz gewiß nicht! Übrigens – wenn nicht, dann nicht; aber zehntausend Rubel sind unter Umständen keine üble Sache. Jedenfalls bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.«

»Nein, ich werde es nicht mitteilen.«

»In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine persönliche Zusammenkunft zu erzwingen, und das wurde eine Belästigung bedeuten.«

»Und wenn ich es ihr mitteile, werden Sie dann eine persönliche Zusammenkunft nicht zu erzwingen suchen?«[376]

»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Einmal sehen möchte ich sie doch gerne.«

»Hoffen Sie nicht darauf.«

»Schade. Sie kennen mich übrigens nicht. Es ist möglich, daß wir uns noch näherkommen.«

»Sie glauben, daß wir uns noch näherkommen wer den?«

»Warum auch nicht?« sagte Swidrigailow lächelnd, stand auf und nahm seinen Hut. »Ich wollte Sie gar nicht so belästigen und rechnete, als ich herging, sehr wenig darauf, obwohl mir übrigens Ihr Gesicht schon vorhin, heute früh auffiel ...«

»Wo haben Sie mich denn heute früh gesehen?« fragte Raskolnikow unruhig.

»Zufällig ... Mir scheint immer, als wäre in Ihnen etwas mit mir Verwandtes ... Beunruhigen Sie sich, bitte, nicht, ich bin nicht zudringlich; mit den Falschspielern kam ich gut aus, bin dem Fürsten Swirbej, meinem entfernten Verwandten und Würdenträger, nie zur Last gefallen; habe es verstanden, der Frau Prilukowa ins Album einige Zeilen über die Madonna Raffaels zu schreiben; habe mit Marfa Petrowna sieben Jahre ununterbrochen gelebt, ohne je das Gut zu verlassen, habe vor vielen Jahren im Asyl Wjasemskijs auf dem Heumarkte genächtigt und werde vielleicht mit Berg im Luftballon fliegen.«

»Schön. Gestatten Sie die Frage: werden Sie bald Ihre Reise unternehmen?«

»Was für eine Reise?«

»Nun, den ›Ausflug‹, von dem Sie sprachen ... Sie haben es doch selbst gesagt.«

»Den Ausflug? Ach, ja! ... in der Tat, ich habe vom Ausflug gesprochen ... Nun, das ist noch eine große Frage ... Wenn Sie aber nur wüßten, wonach Sie fragen!« fügte er hinzu und lachte laut und kurz auf. »Statt diesen Ausflug zu unternehmen, werde ich vielleicht heiraten; man bietet mir eine Partie an.«

»Hier?«[377]

»Ja.«

»Wann haben Sie schon Zeit dazu gefunden?«

»Awdotja Romanowna will ich aber doch noch einmal sehen. Ich bitte Sie ernsthaft darum. Nun, auf Wiedersehen ... Ach ja! Ich hätte es beinahe vergessen! Rodion Romanowitsch, teilen Sie, bitte, Ihrer Schwester mit, daß Marfa Petrowna sie in ihrem Testamente mit dreitausend Rubeln bedacht hat. Das ist positiv wahr. Marfa Petrowna hat diese Anordnung eine Woche vor ihrem Tode getroffen, ich war dabei. Awdotja Romanowna kann das Geld nach zwei oder drei Wochen erhalten.«

»Sprechen Sie die Wahrheit?«

»Die Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Ergebenster Diener. Ich wohne ja nicht weit von Ihnen.«

Beim Hinausgehen stieß Swidrigailow in der Tür mit Rasumichin zusammen.

Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Verbrechen und Strafe. Potsdam 1924, S. 361-378.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Verbrechen und Strafe: (Schuld und Sühne)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Mappe meines Urgroßvaters

Die Mappe meines Urgroßvaters

Der Erzähler findet das Tagebuch seines Urgroßvaters, der sich als Arzt im böhmischen Hinterland niedergelassen hatte und nach einem gescheiterten Selbstmordversuch begann, dieses Tagebuch zu schreiben. Stifter arbeitete gut zwei Jahrzehnte an dieser Erzählung, die er sein »Lieblingskind« nannte.

156 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon