III

[394] Er hatte nämlich bis zuletzt einen solchen Ausgang nicht erwartet. Er benahm sich bis zum letzten Augenblick herausfordernd, ohne sogar die Möglichkeit anzunehmen, daß die beiden armen und schutzlosen Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser Uberzeugung trugen sehr seine Eitelkeit und sein übertriebenes Selbstvertrauen bei, das am besten Selbstverliebtheit zu nennen wäre. Pjotr Petrowitsch, der sich seinen Weg aus kleinen Verhältnissen selbst gebahnt hatte, besaß die krankhafte Angewohnheit, sich selbst zu bewundern, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein und betrachtete sogar zuweilen,[394] wenn er allein war, sein Gesicht mit Wohlgefallen im Spiegel. Über alles in der Welt liebte und schätzte er aber sein durch Arbeit und alle möglichen Mittel erworbenes Geld: es stellte ihn auf die gleiche Stufe mit allem, was höher war als er.

Als er Dunja mit solcher Bitterkeit daran erinnerte, daß er sich entschlossen habe, sie trotz des schlechten Rufes zu nehmen, sprach Pjotr Petrowitsch vollkommen aufrichtig und empfand sogar eine tiefe Empörung über solchen »schwarzen Undank«. Und doch war er, als er um Dunja freite, vollkommen von der Haltlosigkeit aller Klatschgeschichten überzeugt, die schon von Marfa Petrowna öffentlich widerrufen und vom ganzen Städtchen, das warm für Dunja eintrat, vergessen worden waren. Er würde auch jetzt nicht bestreiten, daß er dies alles schon damals gewußt hatte. Und doch bildete er sich auf seinen Entschluß, Dunja zu sich emporzuheben, sehr viel ein und hielt ihn für eine Heldentat. Als er dies eben Dunja sagte, äußerte er nur seinen geheimen, längst gehegten Gedanken, der ihm schon mehr als einmal Freude gemacht hatte, und konnte nicht verstehen, wie die anderen seiner Tat ihre Bewunderung versagen konnten. Als er damals Raskolnikow besuchte, war er mit den Gefühlen eines Wohltäters gekommen, welcher bereit ist, die Früchte zu ernten und äußerst angenehme Komplimente zu hören. Natürlich hielt er sich jetzt, als er die Treppe hinunterging, für im höchsten Grade beleidigt und verkannt.

Dunja hatte er einfach notwendig; auf sie zu verzichten, erschien ihm undenkbar. Schon längst, seit mehreren Jahren spielte er mit dem Gedanken, sich zu verheiraten, sparte aber noch immer Geld und wartete. Er dachte im geheimen mit Wonne an ein wohlgesittetes und armes (unbedingt armes), sehr junges, sehr hübsches, edles und gebildetes, sehr eingeschüchtertes Mädchen, das viel Ungemach erfahren habe und sich vor ihm in Demut beuge, an eines, das ihn ihr ganzes Leben lang als ihren Retter ansehen, ihn[395] anbeten, sich ihm unterwerfen und ihn bewundern würde, nur ihn allein. Wieviel Szenen, wieviel süßeste Episoden schuf er in seiner Phantasie über dieses verführerische und aufregende Thema, wenn er in der Stille von seinen Geschäften ausruhte! Und nun sollte der Traum so vieler Jahre bald in Erfüllung gehen: die Schönheit und die Bildung Awdotja Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs äußerste. Hier lag sogar noch mehr vor, als er sich ausmalte: es war ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes junges Mädchen, das an Erziehung und Intelligenz viel höher stand als er (er fühlte das), und dieses Wesen würde ihm ihr ganzes Leben lang für seine Tat dankbar sein und sich demütig vor ihm beugen, er aber würde grenzenlos und unbeschränkt über sie herrschen! ... Zufällig hatte er kurz vorher nach vielen Überlegungen und langem Warten sich entschlossen, seine Karriere zu ändern und in einen größeren Wirkungskreis zu treten, zugleich aber allmählich in die höheren Gesellschaftskreise zu gelangen, an die er schon lange mit Wollust dachte ... Mit einem Worte, er hatte sich entschlossen, die Annehmlichkeiten Petersburgs zu kosten. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel erreichen kann. Der Zauber einer schönen, tugendhaften und gebildeten Frau würde seinen Weg außerordentlich verschönen, andere Leute an ihn heranziehen und ihm eine Glorie schaffen ... und dieses stürzte jetzt zusammen! Dieser plötzliche häßliche Bruch wirkte auf ihn wie ein Donnerschlag. Was war das doch für ein häßlicher Scherz, was für ein Unsinn! Er hatte doch nur ein bißchen wichtig getan, er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich ganz auszusprechen, er hatte bloß gescherzt, hatte sich hinreißen lassen, und alles nahm plötzlich ein so ernstes Ende! Schließlich hatte er doch Dunja sogar auf seine Art geliebt, hatte schon über sie in seinen Träumen geherrscht, und plötzlich! ... Nein! Morgen, morgen schon muß er alles wiederherstellen, reparieren, in Ordnung bringen, vor allen Dingen aber diesen anmaßenden grünen[396] Jungen, der an allem die Schuld hat, vernichten. Mit schmerzvollem Unbehagen erinnerte er sich plötzlich unwillkürlich Rasumichins ... aber in dieser Beziehung beruhigte er sich bald wieder: Es fehlte noch, daß man auch diesen Kerl auf eine Stufe mit ihm stellte! Wen er aber ernsthaft fürchtete, das war Swidrigailow ... Mit einem Wort: es standen ihm noch viele Scherereien bevor. –

»Nein, ich hin mehr als alle schuld!« sagte Dunjetschka, indem sie ihre Mutter umarmte und küßte. »Ich ließ mich von seinem Gelde verlocken, aber ich schwöre, Bruder, ich ahnte gar nicht, daß er ein so unwürdiger Mensch ist. Hätte ich ihn vorher durchschaut, so hätte ich mich um keinen Preis verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!«

»Gott hat uns errettet! Gott hat uns errettet!« murmelte Pulcheria Alexandrowna, doch irgendwie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz erfaßt, was sich eben zugetragen hatte.

Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Nur Dunjetschka erbleichte noch ab und zu und runzelte die Brauen, wenn sie sich des Vorgefallenen erinnerte. Pulcheria Alexandrowna hätte sich niemals gedacht, daß auch sie sich freuen würde: der Bruch mit Luschin war ihr noch heute früh als ein schreckliches Unglück erschienen, Rasumichin aber war entzückt. Er wagte noch nicht, es ganz zu äußern, zitterte aber am ganzen Leibe wie im Fieber, als wäre ihm eine fünf Zentner schwere Last vom Herzen gefallen. Nun hatte er das Recht, ihnen sein ganzes Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... Und überhaupt jetzt! ... Übrigens jagte er jetzt noch ängstlicher alle Zukunftsgedanken von sich und fürchtete sich vor seiner Phantasie. Nur Raskolnikow allein saß noch immer auf dem gleichen Fleck, fast düster und sogar zerstreut. Er, der auf die Entfernung Luschins mehr als alle bestanden hatte, schien sich jetzt weniger als alle für das Vorgefallene zu interessieren. Dunja mußte unwillkürlich denken, daß er ihr noch immer sehr zürne, und Pulcheria Alexandrowna beobachtete ihn ängstlich.[397]

»Was hat dir denn Swidrigailow gesagt?« fragte Dunja, an ihn herantretend.

»Ach, ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.

Raskolnikow hob den Kopf.

»Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert zugleich den Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sprechen.«

»Sie sprechen! Um nichts in der Welt!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Und wie wagt er nur, ihr Geld anzubieten!«

Raskolnikow teilte darauf (ziemlich trocken) sein ganzes Gespräch mit Swidrigailow mit, verschwieg aber das von den Besuchen der verstorbenen Marfa Petrowna, um nicht auf ein abseits liegendes Thema abzuschweifen und da er einen Widerwillen empfand, über irgend etwas außer dem Notwendigsten zu sprechen.

»Was hast du ihm darauf geantwortet?« fragte Dunja.

»Zuerst sagte ich ihm, daß ich dir nichts mitteilen würde. Darauf erklärte er, daß er selbst mit allen Mitteln versuchen würde, eine Zusammenkunft herbeizuführen. Er behauptete, daß seine Leidenschaft zu dir eine Dummheit gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt sehr verworren.«

»Wie erklärst du es dir selbst, Rodja? Wie kam er dir vor?«

»Offen gestanden, verstehe ich ihn nicht recht. Er bietet dir zehntausend Rubel an, sagt aber dabei, daß er nicht reich sei. Er sagt, daß er eine Reise unternehmen möchte, und vergißt schon nach zehn Minuten, daß er das gesagt hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten wolle und daß man ihm schon eine Partie anbiete ... Sicherlich hat er seine Absichten und wahrscheinlich recht schlimme. Andererseits wäre es doch sonderbar, anzunehmen, daß er die Sache so dumm anfassen würde, wenn er schlimme Absichten dir gegenüber hätte ... Ich habe mich natürlich in deinem[398] Namen ein für allemal geweigert, das Geld anzunehmen. Überhaupt kam er mir sehr merkwürdig vor und ... sogar ... mit Anzeichen von Geistesstörung. Ich kann mich aber auch geirrt haben; vielleicht ist das Ganze eine Art Schwindel. Der Tod Marfa Petrownas scheint aber einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...«

»Gott schenke ihrer Seele die ewige Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Ewig, ewig werde ich für sie zu Gott beten! ... Was wäre jetzt mit uns ohne diese dreitausend Rubel, Dunja! Mein Gott, das Geld ist wie vom Himmel gefallen! Ach, Rodja, heute früh hatten wir nur noch drei Rubel und dachten beide daran, wie wir die Uhr irgendwo versetzen könnten, um nur kein Geld von ihm zu erbitten, bis es ihm selbst einfallen würde ...«

Dunja war vom Anerbieten Swidrigailows überrascht. Sie stand die ganze Zeit nachdenklich da.

»Er hat wieder etwas Schreckliches im Sinn!« sagte sie fast im Flüsterton zu sich selbst und fuhr zusammen.

Raskolnikow bemerkte diese übertriebene Furcht.

»Ich glaube, ich werde ihn noch mehr als einmal sehen«, sagte er zu Dunja.

»Wir wollen auf der Hut sein! Ich werde ihm schon auf die Spur kommen!« rief Rasumichin energisch. »Ich lasse ihn nicht aus den Augen! Rodja hat es erlaubt. Er hat mir vorhin selbst gesagt: ›Beschütze meine Schwester!‹ Und Sie, werden Sie es mir erlauben, Awdotja Romanowna?«

Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber der besorgte Ausdruck wich nicht von ihrem Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie ab und zu schüchtern an; die dreitausend Rubel hatten sie übrigens sichtlich beruhigt.

Nach einer Viertelstunde befanden sich alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar Raskolnikow beteiligte sich zwar nicht am Gespräch, hörte aber einige Zeit aufmerksam zu. Rasumichin führte das große Wort.

»Aber warum, warum sollen Sie fortreisen?« ergoß er sich berauscht in begeisterter Rede. »Und was werden Sie in[399] Ihrem kleinen Nest treiben? Die Hauptsache ist doch, daß Sie hier alle zusammen sind und einander brauchen. – Sie brauchen einander so notwendig, begreifen Sie mich doch! Nun, wenigstens eine Zeitlang ... Mich aber nehmen Sie als einen Freund, als einen Kompagnon auf, und ich versichere Ihnen, wir gründen ein ausgezeichnetes Unternehmen. Hören Sie, ich will Ihnen alles ganz genau erklären, – das ganze Projekt! Es schwebte mir schon am Morgen, als noch nichts geschehen war, vor ... Es handelt sich um folgendes: Ich habe einen Onkel (ich will Sie mit ihm bekannt machen: ein sehr vernünftiger und sehr achtbarer alter Herr!), und dieser Onkel besitzt tausend Rubel Kapital; er selbst lebt von seiner Pension und braucht sonst nichts. Schon das zweite Jahr setzt er mir zu, daß ich mir diese tausend Rubel nehme und ihm sechs Prozent Zinsen dafür zahle. Ich weiß ja, was er sich dabei denkt: er will mir einfach helfen; im vorigen Jahre brauchte ich das Geld nicht, aber in diesem Jahre wartete ich nur auf seine Ankunft und entschloß mich, das Geld zu nehmen. Dann geben Sie das zweite Tausend von Ihrem Geld her, das genügt für den Anfang, und wir gründen ein Kompagniegeschäft. Was fangen wir nun an?«

Rasumichin begann sein Projekt zu entwickeln und redete viel davon, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer Ware verstünden und daß sie darum auch gewöhnlich schlechte Verleger seien, während gute Bücher sich im allgemeinen bezahlt machten und zuweilen einen nicht unbedeutenden Nutzen abwürfen. Rasumichin dachte an die Verlegertätigkeit, da er schon seit zwei Jahren für andere Verleger gearbeitet hatte und recht gut drei europäische Sprachen beherrschte, obwohl er Raskolnikow vor sechs Tagen erklärt hatte, daß er im Deutschen »schwach« sei; doch nur um ihn zu überreden, die Hälfte der Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen; er hatte damals gelogen, und Raskolnikow wußte es.

»Warum, warum sollen wir uns die Gelegenheit entgehen lassen, wenn wir eines der wichtigsten Mittel, nämlich Geld[400] besitzen?« ereiferte sich Rasumichin. »Natürlich, man muß auch viel arbeiten, und wir werden auch viel arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche Bücher werfen jetzt einen schönen Nutzen ab! Die Grundlage des Unternehmens aber ist, daß wir wissen werden, was zu übersetzen ist. Wir werden übersetzen und verlegen und studieren, alle zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe die Erfahrung. Seit zwei Jahren laufe ich von einem Verleger zum anderen und kenne ihr ganzes Geschäft: es sind keine Heiligen, die die Töpfe brennen, glauben Sie es mir! Und warum soll man auch den Bissen an seinem Munde vorbeigehen lassen? Ich selbst kenne zwei oder drei Werke, die ich geheim halte: für die Idee allein, sie zu übersetzen und herauszugeben, kann man hundert Rubel für jedes Buch bekommen; für die eine Idee würde ich nicht mal fünfhundert Rubel nehmen. Und was glauben Sie: wenn ich es jemand sage, so wird er vielleicht noch Zweifel haben, es sind doch solche Dummköpfe! Und was die eigentlichen geschäftlichen Scherereien betrifft mit der Druckerei, dem Papier und Verkauf, so überlassen Sie es mir! Ich kenne alle Schliche. Wir fangen mit Kleinem an und erreichen Großes, wir werden davon wenigstens leben können und unser Geld auf jeden Fall zurückerhalten.«

Dunjas Augen leuchteten.

»Was Sie da sagen, gefällt mir sehr, Dmitrij Pokrofjitsch!« sagte sie.

»Ich verstehe davon natürlich gar nichts,« versetzte Pulcheria Alexandrowna, »vielleicht ist es auch sehr schön, aber Gott allein weiß es. Die Sache ist neu und unbekannt. Natürlich müssen wir noch hier bleiben, wenigstens eine Zeitlang ...«

Sie blickte Rodja an.

»Was denkst du darüber, Bruder?« fragte Dunja.

»Ich denke, daß er einen sehr guten Gedanken hat«, antwortete er. »An eine Firma soll man natürlich vorher nicht denken, aber fünf oder sechs Bücher kann man wirklich mit[401] sicherem Erfolg herausgeben. Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und was die Frage betrifft, ob er das Geschäft zu leiten versteht, so kann darüber kein Zweifel sein; er versteht die Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch über alles zu einigen ...«

»Hurra!« rief Rasumichin. »Wartet nur, es gibt hier in diesem selben Hause bei denselben Wirtsleuten eine freie Wohnung. Es ist eine abgeschlossene Wohnung, die mit diesen möblierten Zimmern nicht zusammenhängt, drei Stuben mit Möbeln, der Preis ist mäßig. Für den Anfang nehmen Sie diese Wohnung. Die Uhr will ich morgen für Sie versetzen und Ihnen das Geld bringen, und das Weitere wird schon werden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie jetzt alle drei zusammen wohnen können, und auch Rodja mit Ihnen. Wo willst du denn hin, Rodja?«

»Wie, Rodja, du gehst schon weg?« fragte Pulcheria Alexandrowna sogar erschrocken.

»In einem solchen Augenblick!« rief Rasumichin aus.

Dunja sah ihren Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hatte die Mütze in der Hand und wollte fortgehen.

»Es ist, als ob ihr mich beerdigt oder euch von mir für alle Ewigkeit verabschiedet«, sagte er sonderbar.

Er schien zu lächeln, aber es war anscheinend gar kein Lächeln.

»Wer weiß, vielleicht sehen wir uns wirklich zum letztenmal«, entschlüpfte es ihm plötzlich.

Eigentlich dachte er es nur, aber die Worte kamen ihm ganz von selbst von den Lippen.

»Was ist mit dir?« rief die Mutter.

»Wo gehst du denn hin, Rodja?« fragte Dunja eigentümlich.

»So, ich muß dringend gehen«, sagte er verlegen, als schwankte er noch, was er zu sagen hätte; doch sein bleiches Gesicht drückte eine feste Entschlossenheit aus.

»Ich wollte sagen ... als ich herging ... ich wollte Ihnen sagen, Mamachen ... und auch dir, Dunja, daß es für uns[402] das beste wäre, uns für eine Zeitlang zu trennen. Ich fühle mich nicht wohl und bin unruhig ... ich werde später wiederkommen, ich werde selbst kommen, wenn ... wenn ich es kann. Ich denke an euch und liebe euch ... Laßt mich! Laßt mich allein! So habe ich schon früher beschlossen ... Ich habe es fest beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde gehe oder nicht, jedenfalls will ich allein sein. Vergeßt mich ganz. So ist es besser ... Erkundigt euch nicht nach mir. Wenn es mal nötig ist, werde ich selbst kommen ... oder euch rufen. Vielleicht wird es noch eine Auferstehung geben! ... Jetzt aber, wenn ihr mich liebt, sagt euch von mir los ... Sonst werde ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!«

»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.

Mutter und Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin ebenfalls.

»Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen die Früheren sein!« rief die arme Mutter.

Er wandte sich langsam zur Tür und verließ langsam das Zimmer. Dunja holte ihn ein.

»Bruder! Was tust du unserer Mutter an!« flüsterte sie, und ihre Augen funkelten vor Empörung.

Er sah sie starr an.

»Macht nichts, ich werde kommen, ich werde euch besuchen!« murmelte er halblaut, als wäre er sich nicht ganz bewußt, was er sagen wolle, und verließ das Zimmer.

»Gefühlloser, böser Egoist!« rief Dunja aus.

»Er ist verrückt und nicht gefühllos! Er ist geisteskrank! Sehen Sie es denn nicht? Dann sind Sie selbst gefühllos!« flüsterte Rasumichin ihr erregt ins Ohr und druckte ihre Hand fest zusammen.

»Ich komme gleich!« rief er der vor Schreck erstarrten Pulcheria Alexandrowna zu und lief aus dem Zimmer.

Raskolnikow erwartete ihn am Ende des Korridors.

»Ich habe ja gewußt, daß du gleich herauslaufen wirst«, sagte er ihm. »Kehre zu ihnen zurück und bleibe bei[403] ihnen ... Sei auch morgen mit ihnen ... und immer. Ich ... werde vielleicht kommen ... wenn es geht. Lebe wohl!«

Und er verließ ihn, ohne ihm die Hand zu reichen.

»Wo willst du denn hin? Was hast du? Was ist mit dir? Kann man denn so! ...« murmelte der ganz fassungslose Rasumichin.

Raskolnikow blieb noch einmal stehen.

»Ein für allemal: frage mich nicht und über nichts. Ich habe dir nichts zu antworten ... Komme auch nicht zu mir. Vielleicht werde ich herkommen ... Laß mich ... sie aber verlasse nicht! Verstehst du mich?«

Im Korridor war es dunkel; sie standen neben der Lampe. Eine Minute lang sahen sie einander stumm an. Rasumichin erinnerte sich später sein Leben lang dieses Augenblicks. Der brennende und unverwandte Blick Raskolnikows wurde jeden Moment gespannter und drang in seine Seele, in sein Bewußtsein ein. Plötzlich fuhr Rasumichin zusammen. Es war, als wäre zwischen ihnen etwas Seltsames vorbeigeschwebt ... Ein Gedanke, eine leise Ahnung; etwas Schreckliches und Häßliches, das von beiden Seiten plötzlich verstanden wurde ... Rasumichin wurde bleich wie ein Toter.

»Verstehst du jetzt!?« sagte plötzlich Raskolnikow mit krankhaft verzerrtem Gesicht. »Kehre zurück, gehe zu ihnen«, fügte er plötzlich hinzu. Dann drehte er sich schnell um und verließ das Haus.

Ich will nicht beschreiben, wie es an diesem Abend bei Pulcheria Alexandrowna zuging, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie beruhigte, wie er ihnen schwur, daß man Rodja nach seiner Krankheit Ruhe gönnen müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt wiederkommen, daß er jeden Tag herkommen würde, daß er sehr, sehr heruntergekommen sei und daß man ihn nicht reizen dürfe; daß er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, daß er einen guten, den besten Arzt, ein ganzes Konsilium für ihn bringen werde ... Mit einem Wort: Rasumichin wurde von diesem Abend an ihr Sohn und Bruder.

Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Verbrechen und Strafe. Potsdam 1924, S. 394-404.
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