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[395] Eines Morgens fand Masaccio den Platz vor der Kirche del Carmine ungewöhnlich belebt. Eine Menschenmenge hatte sich dort angesammelt, und einige Mönche redeten, die einen aufreizend, wie es schien, die anderen besänftigend, auf die Leute ein. Als Masaccio sich näherte, rief man ihm zu, ein Frevel, ein abscheulicher Frevel sei begangen worden. Er hatte Mühe, aus[395] dem Gewirr durcheinanderschreiender Stimmen zu verstehen, daß es sich um ein ärgerniserregendes Bild handle.

»Kommt, Meister! kommt und seht!« rief ihm ein junger Mönch zu. »Seht, was ein Kirchenschänder getan hat.«

»Er hat, wie Euch und Euren frommen Malereien zum Hohne«, fiel ein zweiter Karmeliter ein, »schamlos eine sinnbetörende Pinselei vor Eurer Kapelle ausgestellt.«

»Ich wollte das Bild entfernen lassen«, sprach ein ehrwürdiger, alter Geistlicher mit großer Glatze und schneeweißem Bart leise zu Masaccio, »es hatten sich aber schon Leute gefunden, die es bewunderten und gegen jeden, sogar gegen uns, leidenschaftlich verteidigten – Eure Schüler«, schloß er vorwurfsvoll. »Kommt mit und seht zum Rechten.«

Sie traten ein, und ihnen nach strömte die lärmende Menge. Von weitem schon, als Masaccio die Kirche eilends durchschritt, leuchtete ihm ein Gemälde, das einige Mönche und einige seiner Schüler streitend umstanden, groß und herrlich entgegen. Ein Schrei der Freude entrang sich ihm.

»Zurück! zurück!« befahl er, flehte er die Menschen an, die ihm nachdrängten. »Dies ist ein Kunstwerk, ihr Leute!«

»Teufelswerk! verruchtes Teufelswerk!« riefen die Mönche, und hundert- und hundertstimmig klang es wider: »Teufelswerk!« – »Ins Feuer damit, ins Feuer!« – »Verdammt, der es vollbrachte! Verdammt sein Urheber!«

»Auf den Scheiterhaufen mit ihm!« Männer und Weiber wetteiferten, steigerten sich in Ausbrüchen des Fanatismus.

»Verdammt auch, der es lobt und beschützt!« erscholl es aus dem Kreise der Mönche, und zornfunkelnde Augen richteten sich auf Masaccio und seine Schüler, geballte Fäuste erhoben sich gegen sie. Vergeblich rangen sie, der Anprall der Übermacht war zu heftig, ihr Kampf war verloren ... Da kam Sukkurs!

Aus der Sakristei stürzte Filippo Lippi, und ihm folgten einige Freunde, unter ihnen Paolo Uccello und Andrea del Castagno.

»Herbei! Herbei!« rief Guidi, »herbei, wer sich einen Maler nennt!« und im Laufe eilten sie dem Bild entgegen, dessen Gefährdung den Meister mit Herzensangst erfüllte.[396]

Jetzt standen sie davor, umgaben es mit einem lebenden Walle und hielten den Volkshaufen von ihm getrennt, dem der alte Mönch ruhig und eindringlich zusprach: »Hört das Urteil auch anderer Künstler, Männer und Frauen von Florenz. Hört das Urteil der Maßgebenden an, bevor ihr das eure vollzieht.«

Einen Augenblick trat Stille ein. Gespannte Aufmerksamkeit richtete sich auf die Gruppe der Maler. Ihre Mienen verrieten die verschiedensten Empfindungen: Verblüffung, neidisches Staunen, reines Entzücken.

»Wer hat das gemalt?« fragte Uccello.

»Ich weiß es nicht, ich ahne es nur«, erwiderte Masaccio.

Lippi sprach, und seinen Mund umzog ein seltsames Lächeln: »Auch ich ahne es. Ein Wunder, Freunde! Es ist ein Wunder!«

»Ein teuflisches!« fiel Andrea del Castagno unter dem lauten Beifall der Menge ein. – »Und Ihr«, wandte er sich an Masaccio, »seid der allerletzte, der diese Schamlosigkeit in Schutz nehmen darf. Gar zu nah geht sie Euch an.«

»Schamlosigkeit?... Was nennt Ihr so?... Die Darstellung eines vollkommenen Weibes?... Masolino hat sie angestrebt in der Eva dort, die Euch zur Andacht stimmt; hier ist sie gelungen, hier hat einer erreicht, was uns allen unerreichbar war.«

»Schamlosigkeit nenne ich, daß der eine gewagt hat, in diesem Triptychon die Perle von Florenz als Männerjägerin darzustellen. Der Satan hat ihm die Hand geführt bei diesem zur Sünde reizenden Farbenbacchanal ... So malt kein christlicher Maler weibliches Fleisch ...«

»Du Schönheitsblinder, aus dir spricht der Neid«, unterbrach ihn ein junger Maler; aber er wurde nicht gehört, dem düsteren Castagno jauchten sie zu.

»Recht habt Ihr! Recht! Vernichtung dem Satanswerke! Reißt es in Stücke!«

Masaccio und die Seinen wurden verdrängt, ein erster Faustschlag traf das Bild.

Da gellte ein Schrei. Messerscharf durchschnitt er die Luft. »Halt! Schonung! Erbarmen!« Ein Mensch – der Schatten eines Menschen – stürzte aus der Kapelle hervor: »Martert mich, tötet mich, aber verschont mein Bild!«

Erschöpft sank er zu Boden, wie vom Fieber geschüttelt[397] zuckten seine Glieder, sein Atem ging schwer, die blanken Zähne klapperten. Das zerknüllte Hemd ließ den hageren Hals, die magere Brust sehen; staubbedeckt und zerrissen hingen die Kleider an ihm.

Beim Anblick dieser Jammergestalt waren die Leute zurückgewichen.

Masaccio hatte, im Zweifel, ob er recht sehe, geschwankt. Nun sprach er tief erschüttert: »Antonio!« beugte sich über ihn und sah ihm in die verglasten Augen: »Antonio, so kommst du mir zurück? Woher, du Armer?«

Überstürzt und hastig war die Antwort und glich der Rede eines Irren. »Ich habe gemalt, gemalt! mein Bild gemalt und es Euch in den Weg gestellt, daß Ihr es seht und ganz Florenz, daß jeder einzelne sich daran betöre und in Verzweiflung sterbe, so wie ich!«

»Betören soll sein Teufelswerk, zur Verzweiflung treiben ... Er rühmt sich noch! Der Satan spricht aus ihm!« riefen die Mönche und suchten die fanatische Wut der Masse, die Staunen, Neugier, Mitleid einen Augenblick gedämpft hatten, von neuem anzufachen. Es gelang. In wilder Zerstörungslust stürmten die Aufgereizten auf das Bild ein.

Nun schien es verloren ...

Aber noch einmal staute die Menge. Aus der Reihe der Geistlichen selbst war der Heidengöttin ein Beschützer erstanden; Filippo Lippi deckte sie mit seinem Leibe vor den Andringenden. »Florentiner!« flehte er sie an, »dies ist ein Kunstwerk! Schön, wie euch noch keines dargebracht wurde. Achtung vor dem Kunstwerke, Florentiner, Freunde der Kunst!«

Die Kapuze war ihm vom Haupte zurückgeglitten. Sein liebliches Kindergesicht glühte, seine sonst so lachenden blauen Augen leuchteten in ernstem, edlem Feuer, sie überredeten und baten. An den erhobenen, ausgebreiteten Armen waren die weiten Ärmel herabgesunken. Wie Mädchenarme so zart und weiß schimmerten sie, die den Kampf gegen Hunderte aufgenommen hatten. Die lichte, dünne Gestalt, die sich streckte und auf die Fußspitzen stellte und größer zu werden strebte, und die junge Stimme, die reine, helle, die da predigte und beschwor – machten Eindruck auf die beweglichen Gemüter,[398] besänftigten, gewannen. Der Novize fühlte es, sein Mut wuchs, eine zärtliche Liebe ergriff ihn für diese Aufgeregten, die ihm Gehör schenkten, sich von ihm beschwichtigen ließen.

»Meine Florentiner!« schmeichelte er. »Kinder meiner Mutter Florentia! Eure Ehre ist meine Ehre, eure Schande zerreißt mir das Herz ... Schande wär's, dieses Bild zu zerstören. Seht es an, seht seinen Urheber an und glaubt mir – o glaubt! Nicht freveln wollen sie – sie flehen um Schutz. Wurde jemals ein Heiligtum entweiht, weil ein Schutzflehender sich seiner Hut befahl?... Schont dieses Werk – es bringt euch neuen Ruhm, ruhmvolle Bürger von Florenz!«

Er schwieg, horchte gespannt in das Summen und Schwirren der Stimmen, das sich erhob, als er seine Rede beendet hatte.

»Was denn? soll es verschont werden?« fragten einige.

»Verschont, verschont«, antworteten andere. Eine lebhafte Beratung begann, und einzelne Hochrufe auf Lippi ließen sich schüchtern vernehmen, wurden aber bald laut und zahlreich.

Er schickte sich an, noch einmal das Wort zu ergreifen. Die zürnenden, entrüsteten Mönche drohten dem Novizen und geboten ihm Schweigen.

Er gehorchte, er hatte sein Ziel erreicht, die Olympierin war gerettet.

Antonio stand auf und trat an ihn heran. »Dank!« preßte er hervor, und ein lang unterdrücktes Schluchzen brach aus seiner Brust.

Der alte Mönch ergriff seinen Arm. »Kommt«, sprach er. »Ihr müßt Euch erholen, müßt ruhen.«

»Nehmt ihn in Eure Obhut, Bruder«, sprach Masaccio, »sorgt für ihn, ich folge Euch.«

»Nur noch mein Bild ansehen!« rief Antonio. »In solchem Lichte sah ich es noch nie.«

Es war eine zauberhafte Beleuchtung, in der es prangte. Aus dem hohen Fenster in der Tiefe der Kapelle drang ein Sonnenstrahl, von Millionen glitzernder Pünktchen durchzittert, schräg herein und glitt über das Gemälde hin wie ein verklärender Glorienschein.

Die sprachlos gespannte Aufmerksamkeit aller war darauf gerichtet. Die Mönche hatten die Kirche verlassen.[399]

Masaccio verwandte kein Auge mehr von dem Werke seines Jüngers. »Dein Bild?« sagte er und schüttelte den Kopf. »Dieses Bild, diese drei Bilder, drei Phasen im Leben einer Frau, Morgen, Mittag, Abend, die hast nicht du, die haben Naturkräfte gemalt – die Liebe, die Leidenschaft, der Haß ...« Langsam und schwer war die Rede seinem wortkargen Munde entquollen, allmählich kam sie in raschen, leichten Fluß: »Margherita, die darzustellen in ihrer Schönheit wir alle verzweifelten – da, auf deinem ersten Bilde, ist sie! da lebt sie! Ich sehe ihre zarte Brust sich heben, ich lese die Gedanken von ihrer klaren Stirn – noch sind sie unentweiht, noch lacht Kindesunschuld aus diesen strahlenden Augen ... Antonio – du Unglaublicher, das malt dir keiner nach – diese jugendliche Weichheit, diese blühende Kraft, diesen Schmelz der Farbe ... Sie hat ihrem Köcher einen Pfeil entnommen und legt ihn schüchtern und zagend auf die Sehne ihres goldenen Bogens ... Send ich ihn ab? fragt sie, darf ich? soll ich? Sie weiß noch nicht, daß sie muß, wie die Spinne spinnen, wie der Adler kreisen muß, daß es ihr Beruf ist, edles Wild zu jagen – Menschenwild. Hier aber, in ihrer zweiten Gestalt, da fragt sie nicht mehr – sie weiß. Die herrliche Knospe hat sich ganz erschlossen, die Verheißung ist Erfüllung geworden. Edler noch als in der Mädchenblüte erscheint die ausgebildete Pracht der Züge, der Gestalt. Dieses Bild hat die Leidenschaft gemalt, und es entflammt Leidenschaft. Halbgeleert ist schon ihr Köcher, ihre Pfeile fliegen, sie verdunkeln das Blau des Himmels ... So recht, Weib! Siegerin! – Ziele, triff! Verwunde, töte Hunderte, ehe du einen beglückst. Daß jeder hoffte, der eine zu sein, ist Seligkeit genug für den Erdensohn.«

Er hielt inne. Ein Gemurmel der Unzufriedenheit, des Grimmes, hervorgerufen durch das dritte Bild, hatte sich erhoben. Man vernahm die Worte: »Abscheulich!« – »Mißbrauch der Kunst!« – »Verhängt das!« – »Tut es ganz weg!« – »Noch besser, verwischen! vertilgen!«

»Doch erst, wenn ganz Florenz es gesehen haben wird, nicht wahr, Freunde?« rief Filippo. »Greift nur in euer Herz, meine geliebten, schadenfrohen, in Zorn und Tränen noch lachenden Florentiner, das größte Aufsehen wird nicht eures jüngsten[400] Meisters erstes, nicht sein zweites, sein drittes Bild wird es erregen!«

Masaccio hatte die Arme verschränkt. Finster und gequält haftete sein Blick auf diesem dritten, den Menschen abstoßenden, den Meister zur Bewunderung zwingenden Bilde.

»Das Werk des Hasses!« sprach er langsam mit laut tönender Stimme. »Des Hasses, der einst Liebe war; ihr Kind und ihr Widerspiel. Da ist das heilige Licht der Schönheit in diesem Weibe bis auf den letzten Schimmer ausgetilgt ... Nicht mehr schön!...« Es klang wie Trauern um ein Gestorbenes. »Und doch unverkennbar sie!... Alles dahin, was sie reizvoll machte und begehrenswert, verwelkt die Blühende, entadelt die Königliche. Ins Gemeine heruntergezerrt, was wir angebetet haben ... Dein größtes Kunststück, Maler! Deine schnödeste Rache, verschmähter Liebhaber! Nichts lässest du uns übrig für die Gesunkene, nicht einmal den Bettelpfennig des Mitleids. Sie weiß es. Kein süßer Wahn umschmeichelt sie, Bitterkeit und Verzweiflung sind des Triumphliedes Ende. Sie hat ihrem Köcher den letzten Pfeil entnommen – er ist stumpf. Der letzten Enttäuschung wird sie ihn nachsenden ins Leere. Mit entnervtem Arm spannt sie den Bogen ... Du Schrecklicher! Hier hast du die Schönheit gemordet, die Liebe.«

Antonio hatte jeden Laut, Lob und Vorwurf, dürstend eingesogen. Ein Echo dessen, was er in sein Werk hineingelegt, tönten ihm die Worte des Meisters entgegen. Alles Gute, alles Böse war von dem verstanden und nachgefühlt worden. So wie er wird die Welt es verstehen und nachfühlen, es wird ins Bewußtsein treten, ins Leben!

Und nun, als wäre die Rede Masaccios der Halt gewesen, an dem er sich aufgerichtet hatte, stürzte er, da jener schwieg, plötzlich zusammen.


Einige Stunden später war in der Stadt die Kunde verbreitet, daß ein junger unbekannter Maler mit seinem Erstlingsbilde die Werke der großen Meister übertroffen habe. Das Gemälde sei zu Uccello gebracht worden, der ihm in seinem Häuschen eine Stube eingeräumt; dort könne man es sehen.

Traurig nur und ewig schade, daß dem Schöpfer der erstaunlichen[401] Arbeit die ruhmreiche Zukunft nicht blühen werde, die ein solcher Beginn verheiße. Er lag sterbend im Kloster der Karmeliter. Jeden Augenblick konnte das Totenglöcklein sein Ende verkündigen.

Der Zudrang zu dem neuen Wunder der Kunst war ungeheuer. Nicht weniger allgemein aber als die Begeisterung, die es erregte, war der Tadel, den es erfuhr. Schnöde entstellen, wie auf dem letzten der Gemälde des Triptychons, hätte Antonio das Schönheitskleinod der Stadt nicht dürfen, die Braut des jungen Montanini.

Ein verlegenes Geflüster ging von Mund zu Mund, als man unter den Neugierigen, die in das Haus Uccellos gekommen waren, Bernardino und seine Mutter bemerkte. Sie hatten das Bildnis, das, Stadtgespräch geworden, das Hauptinteresse von Florenz auszumachen schien, auch sehen wollen. Nun standen sie davor – Bernardino ganz versteinert, Madonna Isotta wie aufs Haupt geschlagen. Ihre zukünftige Schwiegertochter hatte sich dazu hergegeben, als Diana auf der Männerjagd dargestellt zu werden. Schrecknis über alle Schrecknisse! Wußte sie denn nicht, daß damit jede Verbindung zwischen ihr und dem edlen und frommen Hause, in das sie als Herrin hätte einziehen sollen, abgeschnitten war? Daß Bernardino den Besitz einer Frau, deren Schönheit in solcher Weise öffentlich zur Schau gebracht worden, verschmähen mußte und werde? Sagte ihr Gefühl ihr nicht, daß Isotta Montanini sie nie mehr an ihrer Seite würde sehen können ohne die schamvolle Empfindung: eine Entkleidete steht, geht, sitzt neben mir?

Bernardino hatte die beiden ersten Gemälde keines Blickes gewürdigt, er betrachtete nur das dritte unverwandt mit stieren Augen. In seinem Gehirn wirbelten die Gedanken, in seiner Seele die Gefühle durcheinander. »Mutter, Mutter!« stammelte er. »Wer hat mir das getan?... Das ist entsetzlich, was man mir getan hat, Mutter ... Mir meine Braut so zu malen ist entsetzlich, Mutter!«

Er sah Margherita in dieser Gestalt, reizlos, welk, alt, den Vorsitz führen an seiner Tafel, durch seine Säle wandeln, seine Gärten und die Balkone seines Palastes verunzieren ... Lachen würde man über ihn, lachen müßte er selbst über sich, der eine[402] Popolana um ihrer Schönheit willen heimgeführt hatte. Eine Schönheit, die sich, wer weiß wie bald, in ihr Gegen teil verwandeln und ihm Grauen erwecken würde und Haß.

»Mutter – so wird sie werden«, flüsterte er schaudernd. »Und – denkt nur, denkt! – sie weiß es, sie hat es mir vorhergesagt ... O Mutter! so wird sie werden und meine Frau sein ... O Mutter, warum habt Ihr zugegeben, daß sie meine Frau werde? Ihr durftet nicht!«

»Ich durfte nicht«, erwiderte sie, in Tränen zerfließend, »du sagst es ... Ich gebe es nicht mehr zu, um keinen Preis geb ich's zu, mein armer Bernardino.«


Das Bild Antonios lockte viele Käufer heran, doch war die Forderung, die Masaccio im Namen seines Schülers stellte, so hoch, daß sich die meisten enttäuscht zurückzogen. Um die Ehre des köstlichen Besitzes rangen bald nur noch einige reiche Edelleute und große Kaufherren. Jetzt schlug der Herzog von Ventimiglia alle aus dem Felde, indem er den Preis, den der Meister forderte, großmütig verdoppelte.

Als Antonio aus der Bewußtlosigkeit, in der er lange Zeit gelegen, erwachte, konnten seine gütigen Pfleger ihm sagen, daß er wohlhabend und berühmt geworden sei.

Der Herzog hatte öfters Erkundigungen nach ihm einholen lassen während seiner Krankheit; den Genesenden lud er zu sich in seine Sommerresidenz Setalla. Antonio sollte dort alles finden, was sein Herz begehren könne. Jede Sehnsucht seiner schönheitsdürstenden Seele sollte erfüllt werden an der Stätte, die wohl danach angetan war, ihm als die Verwirklichung eines Künstlertraumes zu erscheinen. Sie verdankte ihren Glanz einer Reihe hoch- und feinsinniger Fürsten, und ein günstiges Schicksal hatte sie unversehrt erhalten, während die Greuel des Krieges sie rings umtobten.

»Schickt ihn mir«, schrieb der Herzog an die Brüder, »daß er in Setalla wieder auflebe und Werke schaffe, die ihm und dem Hause, in dem sie entstanden sind, Ruhm bringen.«

Als er kam, wurde er aufs beste empfangen und gewann die Männer durch seine Anspruchslosigkeit, seinen Ernst, die Frauen[403] durch seine Schönheit und durch sein träumerisches und weltfremdes Wesen. Seltsam anziehend sprach etwas aus ihm: Ich war diesem Leben schon entrückt und muß mich erst wieder hineinfinden lernen.

Der Herzog und seine Gemahlin hatten ihren Hof zu einer Schule feiner Sitten und würdiger Geselligkeit gemacht. Sie hatten Gelehrte und Künstler herangezogen und ihnen durch großartige Gastfreundschaft gedankt für den Vorzug, sich ihres Umganges erfreuen zu dürfen. Seit dem Tode der Herzogin nahm ihre Tochter, die verwitwete Fürstin Judith Altoviti, die Stelle der ersten Frau am Hofe ein, und sein Glanz wurde durch sie noch erhöht.

Antonio bewunderte die Pracht und den durch die Kunst veredelten Luxus, von dem er sich umgeben sah. Von den Säulenhallen und weißen Marmortürmen des Schlosses bis zur Kleidung, in der jeder einzelne sein Äußeres zur höchsten Geltung brachte, alles köstlich. Das Leben, das mitzuführen er eingeladen war, so überreich! Der Verkehr zwischen auserlesenen Geistern und hochgebildeten Weltkindern so schön! Was immer diese Menschen betrieben, den Dienst der Wissenschaft, eine schöpferische Tätigkeit, Gesang und Musik, Jagd und Vogelbeize oder bloßes Spiel – in allem strebten sie Vollendung an.

Bald nach Antonios Ankunft hatte ihn der Herzog in einen Prunksaal geleitet, dessen Wände der malerischen Ausschmückung harrten. Vielgestaltig und farbenprächtig sollte auf ihnen der Einzug der Königin von Saba in Jerusalem dargestellt werden und die Personen des Gemäldes treue Abbilder der Angehörigen des Schloßherrn, seiner Gäste und Hofleute sein. Die Aufgabe war lockend, und ohne Zögern bejahte Antonio die Frage, ob er sie übernehmen wolle. Er blieb den Morgen über im Saale, betrachtete den Raum, den zu beleben seiner Kunst zugetraut wurde, ermaß die Größe der Anforderung und fühlte sich von ihr bedrückt.

Munter und laut drangen Zurufe, drang Rosseschnauben und Degenklirren zu den Fenstern herauf. Unter ihnen befanden sich die Spielplätze und die Fecht- und Reitschule. Da wurde der Ball geschleudert, da wurde nach dem Ziele geschossen, da übten sich die jungen Leute im Wettlauf, im Ringen und Springen, im[404] Fechten und in kühnen Reiterkünsten und kämpften um den Sieg im Spiele wie um einen höchsten Triumph.

Lange stand Antonio und betrachtete sie mit einer Teilnahme, die sich bis zum Entzücken, bis zu leidenschaftlichem Neide steigerte. Jeder Blutstropfen in ihm wallte, seine unverbrauchte Kraft schrie nach Betätigung.

Die nächsten Tage fanden ihn auf dem Plane als eifrigsten Schüler der Fecht- und Reitlehrer und unermüdlich in der Pflege ritterlicher Übungen. Er überraschte alle durch seine Gewandtheit, seinen Mut.

Im Saale wurden die Wände zur Bemalung hergerichtet, die Gerüste aufgeschlagen, indes der Maler Antonio vergessen zu haben schien, daß er nach Setalla gekommen war, um da seinen Beruf auszuüben. Sein edler Wirt mochte ihn nicht mahnen, ein innerer Antrieb fand sich nicht ein. Ihm war es recht, er scheute ihn wie die Krankheit, wie das Übel. Die glänzenden Fertigkeiten, die er sich aneignete, die Vergnügungen, denen er sich hingab, berauschten ihn, erlösten ihn wenigstens stundenlang von einer fressenden Pein: der unüberwindlichen Sehnsucht nach Margherita. Glühend erfüllte ihn der Wunsch, zu erfahren, ob sie ihm fluche, ob sie in einer neuen Liebe Trost gefunden habe oder sich vor den Augen der Menschen und ihrer Neugier verberge. Ob sie die Schmach und Erniedrigung, die er ihr angetan, ganz empfinde?

Selbstquälerisch antwortete er sich: Was Schmach – was Erniedrigung! Die kommen nicht an sie heran. Ihre Schönheit ist ihr Schild. Ihre Schönheit behütet ihre Schuld vor Strafe. Auch von ihr hält die zyprische Göttin die Rache fern wie einst von der treubrüchigen Helena. Aber doch nur die gewalttätige Rache. Vor der still nagenden Pein erlischt ihre Macht. Die bleibt dir nicht erspart, Margherita! sagte er sich zu kümmerlichem Troste. Wo du auch weilst, überallhin wird der Glanz meines Ruhmes dringen und der Klang meines Namens dich verfolgen. Und wenn auch die Liebe erloschen und nicht mehr verwundbar ist, durch deine verletzte Eitelkeit wirst du leiden. Du wirst andere Frauen in meinen Werken verewigt sehen und ermessen, welch ein Glück du verscherztest. Über alle Fürstlichkeiten hätte ich dich erhoben, mit dem Erfolg wäre der Reichtum[405] mir zugeflossen. Ein Palast, wie dieser ist, wäre deine Wohnung gewesen, ich hätte dich in Sammet und Seide gehüllt. Auf goldgestickten Schuhen wärest du durch Zaubergärten gewandelt, eine Halbgöttin – mein Weib, das Weib des einzigen, der das Geheimnis besaß, deine Schönheit im Bilde wiederzugeben, und sie in allen Gestalten, in denen die Frau auf Erden unsterblich geworden ist, der Nachwelt erhalten hätte: als Venus und Andromache, als Cornelia und Madonna ...

Einmal nach langer Zeit nahm er den Stift zur Hand und versuchte wieder die geliebten Züge nachzubilden. Aber sie wollten sich nicht gestalten lassen. Am nächsten Tage ging es nicht besser und in allen folgenden Tagen nicht, und immer ließ er entmutigt von der Arbeit ab, die immer mißlang. Endlich erwachte der Eigensinn, narren mochte er sich nicht lassen. War nicht die Kunst seine Dienerin? Hatte er sie nicht unterworfen? Sein Können hatte zu kommen, wenn er es rief.

Er zeichnete rasch, heftig, mit fliegendem Stift, und was entstand, war eine Verzerrung. Er zerriß das Blatt und trat es mit Füßen.


Am Abend dieses Tages wurde ein Fest bei Hofe mit Musik und Tanz gefeiert, und Antonio bemühte sich, seine Seelenqualen hinter übermütiger Lustigkeit zu verbergen. Er riß viele mit und täuschte alle – nur eine nicht. Die Fürstin Judith Altoviti trat auf ihn zu, legte die Finger auf seinen Arm, sah ihm fest und zutraulich ins Gesicht und fragte: »Was ist Euch, Venesco?«

Von Anfang an hatte sie ihn mit Auszeichnung behandelt, und er hatte sich mehr zu ihr hingezogen gefühlt als zu einer der jugendlichen Schönheiten in ihrer Umgebung.

Die Fürstin war eine gebietende Erscheinung, eine blonde Italienerin, groß, von fast allzu üppigen Formen. »Nicht eigentlich schön, aber unwiderstehlich«, hieß es von ihr. Sie flößte heftige Leidenschaften ein, obwohl sie nicht mehr in der Blüte der Jugend stand. Ihre angeborene Liebenswürdigkeit gewann ihr die Herzen im Fluge, ihr edles Wesen, ihr Geist sicherten ihr den Besitz der raschen und leichten Eroberungen. In ihrer ersten Ehe hatte sie kein Glück gefunden und eine[406] zweite einzugehen sich bisher nicht bewegen lassen. Endlich – kurz vor Antonios Ankunft – schien sie ihren Sinn zugunsten eines neuen Freiers, des ruhmvollen Feldherrn Alfonsos von Aragon, des Grafen Del Nero, geändert zu haben.

Ihr Vater, ihr Bruder Camillo, der mit stolzer Zärtlichkeit an der älteren Schwester hing, wünschten sehnlich diese glückverheißende Verbindung und begannen schon eine beschlossene Sache in ihr zu sehen, als Judith ihr Benehmen gegen den ernsten und feierlichen Bewerber änderte. Sie brachte seinen Gesprächen nicht mehr das frühere Interesse entgegen und fand selten noch für ihn ein schmeichelhaftes Wort.

Es fügte sich, daß der Graf, wie viele andere, Zeuge war der unbefangen gütevollen Art, in der die Fürstin Antonio gefragt hatte, was ihm sei.

Camillo sah die richtende Miene, mit der Del Nero den nichtssagenden Vorfall beobachtete, und ihn verdroß die Regung kleinlicher Eifersucht in dem hochstehenden Manne. Er war aber auch unzufrieden mit seiner Schwester. Sie hätte, meinte er, Rücksicht nehmen müssen auf des Grafen ihr wohlbekannte Empfindlichkeit.

Der Tanz war zu Ende, die Musik verstummt, und die Gesellschaft strömte in den Garten.

Das Parterre vor dem Schlosse, ein großes architektonisches Blumengemälde, war von Hunderten von Fackeln beleuchtet. Am dunkelblauen Himmel glitzerten die Sterne. Leise Lüftchen, durchwürzt vom Dufte der nahen Zypressen-, Granat- und Orangenbäume, strichen kühlend über heiße Stirnen, glühende Wangen.

Damen und Herren nahmen im Kreise Platz vor einem Hemizykel, in dessen Mitte ein durchsichtiger Wasserschleier fast unhörbar vom Haupte einer Amphitrite in den Muschelwagen niederglitt, in dem sie, ihre Delphine lenkend, stand. Vor dem schneeigen Götterbilde saß auf einer teppichbelegten Marmorbank Judith zwischen Del Nero und ihrem Bruder, und ihr zu Füßen hatte sich Cintia gelagert, ihre Lieblingsdame und ihr Widerspiel, klein, schwarzgelockt und lebhaft.

»Spielen wir Decameron, erlauchte Frau!« rief sie der Fürstin zu. »Ihr seid Pampinea, die Königin, und befehlt einer oder[407] einem von uns, eine Novelle zu erzählen; je lustiger, um so besser!«

»Das wäre Eure Sache, Graf«, wandte die Fürstin sich lächelnd an Del Nero, der, statt auf ihren Scherz einzugehen, ablehnend erwiderte: »Ihr seid vom Gegenteil überzeugt, Madonna.«

»So führt meine Überzeugung ad absurdum!«

»Schon der Versuch erschiene mir frevelhaft.«

Die Reden waren harmlos, doch herrschte in ihnen ein gereizter Ton. Camillo fiel ein: »Del Nero ist nicht aufgelegt, eine lustige Novelle zu erzählen oder zu hören. Ich schlage eine Disputa vor über den Einfluß der Gestirne auf unser Schicksal.«

Alle waren einverstanden, alle stimmten bei; nur Del Nero schwieg.

»Da seid Ihr in Eurem Elemente, Lionardo. Ihr redet pro, Ihr beginnt.«

Judith hatte einen ältlichen Mann angeredet, eine schmächtige Figur, in dunklen Sammet gekleidet. Es war ein gelehrter Humanist, den die eingesogene ciceronische Weisheit nicht vor Aberglauben und nicht vor der Torheit bewahrte, nach einem unerreichbaren Besitz, dem der Fürstin, zu streben.

»Über den Einfluß der Gestirne. Beginnt! beginnt!« wiederholte Cintia und unterdrückte ein leichtes Gähnen.

Lionardo erhob sich, lüftete sein Barett vor der Herrin und schickte sich eben an zu sprechen, als sie ausrief: »Halt! halt! Es ist jemand unter uns, der Euch vielleicht nicht hören will. Ihr, Graf«, sagte sie, dieses Mal unverhohlen spöttisch, zu Del Nero, »obwohl Ihr als großer Condottiere eigentlich nicht zweifeln solltet, daß unser Schicksal in den Sternen geschrieben ist.«

Er zögerte mit der Antwort. Er richtete seine tiefliegenden Augen fest mit eindringlicher Frage auf die ihren. Sie hielten, groß geöffnet, stumm und kalt seinen Blick aus.

»Ich zweifle nicht, noch glaube ich«, sprach er. »Ich bin auch in diesem Punkte ein Verzichtender. Mögen die Sterne für Andersgeartete eine Sprache haben, mir schweigen sie.«

Am nächsten Tage war er abgereist, und kurze Zeit darauf[408] kam die Kunde nach Setalla, daß er sich mit einem jungen, schönen Edelfräulein verlobt habe.

Der Herzog verbarg seine Enttäuschung hinter dem Scheine äußerer Gleichgültigkeit. Camillo überhäufte die Schwester mit Vorwürfen. Er verwünschte ihren Wankelmut und den Leichtsinn, mit dem sie einen Ehebund von sich gewiesen, der dem Hause zur Ehre gereicht und ihm neuen Reichtum zugebracht hätte.

Doch hielt er Judith viel zu hoch, um in die Neckereien einzustimmen, deren Gegenstand sie nun wurde und die sie ergötzten, statt sie zu verdrießen.

»Super-superklug ist Del Nero!« sagte Lionardo. »Statt zu verzweifeln, heiratet er. Ein Adonis wurde ihm vorgezogen, er sucht Trost in den Armen einer Grazie.«

Die Fürstin lachte, sie ging mit großartiger Gelassenheit auf die Scherze ein, die über ihre unverhohlene Bevorzugung Antonios gemacht wurden. Sie wies kurzweg die Vorwürfe einiger Mißgünstiger und Neider ab: »Seid so schön wie der Jüngling aus Ariccia, habt soviel Talent wie er, und ihr sollt durch mich dieselbe Auszeichnung erfahren.«

Einmal war sie seinetwegen von der Jagd ferngeblieben. Sie hatte die Verstimmung bekämpfen wollen, deren Beute er war, und das rechte Mittel dazu gefunden: gute, kluge Worte, die ihm einleuchteten und wohltaten. Sie nahm seinen Arm, und sie schritten über die von Rasenbändern eingefaßten Wege vor dem Schlosse dem dichten, dunklen Laubgange zu, der zur Pineta führte. Seine Wände aus Buchs und Steineichen beherbergten in ausgeschnittenen Nischen edelschlanke Marmorgestalten.

Die Fürstin deutete zu einer von ihnen, einem Adonis, empor. »Wißt Ihr«, fragte sie, »daß man Euch mit dem Namen dieses Lieblings der Venus bezeichnet?«

»Man quält mich damit«, erwiderte er.

»Quält Euch? Ist es kein Glück, mit dem Schönsten verglichen und bewundert zu werden?«

»Ich wollte, es gäbe an mir nur eines zu bewundern – den Maler. Ich wollte«, brach er aus, »ich wäre ein Scheusal und könnte malen wie Masaccio!«[409]

»Habt Ihr ihn nicht schon übertroffen?«

»Er hat es behauptet, und die andern haben es ihm nachgeredet ... Masaccio übertroffen – den Schöpfer einer neuen Welt! Mit einem armen Bilde, einem einzigen, bei dem es vielleicht bleiben wird.«

»Welche Drohung! So plant Ihr Untreue an Eurer Kunst?«

»Ich – an ihr?... Sie hat sich von mir gewendet, ich weine, schmachte, sehne mich nach ihr.«

All und alles, was ihn bedrückte, sprudelte er in verworrener Rede hervor. Er schüttete sein ganzes schweres Herz vor ihr aus, und das ihre schlug, während er sprach und sie ihm mitfühlend zuhörte, heftig und beklommen.

Sie waren an einem der köstlichsten Aussichtspunkte des Gartens angelangt. Eine Steinbalustrade begrenzte hier seinen steil abfallenden Rand. Aus dem Erdreiche ragten Felsstücke hervor, und zwischen ihnen strömten rauschende Kaskaden hinab, tief unten im Wiesengrunde drei Teiche bildend, kristallklar, in Marmor gefaßt, von hehren Götterbildern umgeben. Eine Landschaft, in der klassische Kunst die Natur zum Garten gemacht, breitete sich in der Ferne, auf dem nahen Abhang ein Meer von Wipfeln und Baumkronen, und der sanfte Wind, der über sie hinstrich, trug ihre feinen und edlen Düfte herauf wie einen Opfergruß.

Die Fürstin hatte sich unter eine Steineiche auf eine der Bänke gesetzt, die das Geländer abschlossen. Antonio lehnte an ihm, die Wange in die Hand des aufgestützten Armes geschmiegt, und sah finster und unbeweglich zu den brausenden Wassern nieder.

Eine leise und unsichere Stimme, die nach langem Schweigen seinen Namen sprach, weckte ihn. Erstaunt wandte er sich und begegnete dem Blick zweier tiefblauer Augen, der unaussprechlich liebevoll auf ihm ruhte.

Das Blut schoß ihm ins Gesicht. Was dieser Blick deutlich sagte, war ihm schon mehr als einmal durch den Sinn geflogen als kaum eingestandene Frage, die er mit herber Selbstverhöhnung von sich gewiesen.

Freude, Stolz, geschmeichelte Eitelkeit flammten in ihm auf.[410] Er machte einen raschen Schritt auf die Fürstin zu ... doch schon hatte der Ausdruck ihrer Züge sich verändert. Sie warf den Kopf etwas zurück, sah an Antonio vorüber in den Schatten der Bäume und schien dem zärtlichen Gesang einer Drossel zu lauschen.

Ihre Stimme hatte wieder den gewohnten tiefen und sicheren Klang, als sie sprach: »Setzt Euch zu mir. Wir wollen von ernsten Dingen miteinander reden. Ich habe einen Auftrag meines Vaters an Euch zu bestellen. Er fragt durch mich an: Wie steht es mit den Skizzen zu den Fresken, mit denen Ihr den Festsaal schmücken wolltet? Mein Vater will Euch nicht mahnen. Ihr kennt seine rücksichtsvolle Art. Doch versprach er sich und anderen soviel von diesen Bildern, sah im Geiste sie schon meisterlich von Euch ausgeführt. Wir alle«, fuhr sie fort, da er schwieg, »wir alle dachten: Antonio, kaum wiederhergestellt, wird sich über die Arbeit stürzen wie ein Löwe. Statt dessen übt Ihr Euch in ritterlichen Spielen und nehmt den Pinsel nur zur Hand, um immer von neuem das Bild Eures ungetreuen. Liebchens hervorzuzaubern. Kein Wunder, daß Eure große Geliebte – die Kunst – dazu nicht lächeln will. Laßt das gelten, junger Freund, laßt meine Weisheit gelten und auch meine prophetischen Worte: Ihr werdet die Fresken im Festsaal malen und uns die schöne Königin, die an der Spitze eines glänzenden Gefolges im Gepränge ihrer Reichtümer auszog nach Erkenntnis, herrlich und unübertrefflich darstellen.«

»Wäret Ihr doch nicht eine schöne Fürstin, sondern eine alte Sibylle, daß ich Eurer Prophezeiung Glauben schenken könnte!« rief Antonio. Er hatte versucht, es leichthin zu sagen, doch entrang sich ein schneidender Schmerzenslaut seiner Brust und verriet, was in ihm vorging.

»Mut!« sprach die Fürstin, und er beugte sich und drückte seinen Mund auf ihre Hand, die sich auf die seine gelegt hatte. Sein Kopf wurde festgehalten, als er ihn wieder erheben wollte, weiche Lippen näherten sich seinem Ohr und flüsterten: »Könnt Ihr nicht vergessen, Antonio? Vergessen hieße frei sein, wieder erwachen zur Schaffensfreude und schwelgen in Schaffenskraft. Vergeßt! Euer Können geht unter in Träumen und Sehnen. Vergeßt! Es gibt noch andere Frauen außer Margherita, unkluges[411] Kind, das den Himmel haben könnte und immer nur nach einem versunkenen Stern ausblickt.«

»Das den Himmel haben könnte?« wiederholte er und ließ sich auf die Knie vor ihr niedergleiten.

»Den Himmel haben und in den Himmel versetzen, statt zu leiden und leiden zu machen.«

»Wodurch leiden, Madonna? Antwortet mir! Ihr verwirrt mich, Ihr macht mich wahnsinnig, ich weiß nicht mehr, was ich rede – wodurch leiden?« Mit Scheu, mit aufflammendem Entzücken sah er sie an, und sie zog ihn an sich, strich ihm die Haare aus der Stirn und ließ die Hand auf ihr ruhen, und er glaubte, ein leises Beben dieser Hand und das Fliegen ihrer Pulse zu fühlen.

»Ich will Euch nicht wahnsinnig machen, ich will Euch heilen«, sprach die Fürstin, sich mühsam zu überlegener Gelassenheit zwingend. »Eurer Kunst und damit dem einzigen, das Euch beglücken kann, will ich Euch wiedergewinnen. Morgen, Antonio, versucht Ihr einmal eine andere als Margherita, versucht Ihr mich zu malen, als eine der Gestalten im Zuge der Königin von Saba.«

Immer näher hatte sie sich ihm zugeneigt, indes sie redete, und in einem heißen, langen Kuß begegnete nun ihr Mund dem seinen. Antonio umfing sie wonneberauscht.

»Als die Königin selbst will ich Euch malen!« rief er. »Eure goldenen Haare, Euer schimmerndes Antlitz sollen alles übrige verdunkeln ... Aus Euren Augen soll Euer hoher, herrlicher Geist leuchten, als die Seele der Welt will ich Euch malen, durch die alles atmet, Farbe, Licht und Leben erhält.«

»Nicht so, nicht so«, unterbrach sie ihn. »Eine im Zuge will ich sein, nicht mehr. In Euerm Bilde darf sich nicht verraten, was unser tiefstes Geheimnis bleiben muß. Schweigen und Vorsicht heißen die Hüter unseres Bundes. Niemand darf eifersüchtig gemacht werden, Eifersucht sieht zu scharf ... Und vor allem darf Camillo nicht ahnen ...«

Ein Schauer durchrieselte ihren Leib; mit unaussprechlicher Zärtlichkeit drückte sie den Jüngling an ihre Brust: »Er würde dich töten, du mein geliebtes, schönes, törichtes Kind!«

Und hingerissen und geblendet von seinem unbegreiflichen,[412] märchenhaften Glück in den Armen des königlichen Weibes, dachte Antonio mit knabenhaftem Triumphe: Wenn sie wüßte! wenn Margherita wüßte! –


Als die Fürstin am nächsten Tage zur ersten Sitzung in den zur Werkstatt umgewandelten Saal kam, wurde die Aufregung, in die ihr Erscheinen den Maler versetzte, von ihrem Gefolge bemerkt und belächelt. Wie bewegt war der Arme! Wie schüttelte ihn das Schaffensfieber! Die Künstlerschaft, man muß es gelten lassen, hat ihre unbequemen Seiten.

Über die Haltung, die Stellung, die Judith einnehmen sollte, wurde lange beraten; Antonio ließ sie den Kopf heben, senken, zur Seite neigen, die Augen auf den, auf jenen Gegenstand richten. Er vermochte keinen Entschluß zu fassen, sah sie ganz verzückt an und geriet in Bestürzung, wenn ihr strafender Blick seinem Verzeihung erflehenden begegnete. Die Fürstin selbst bestimmte endlich, daß sie ihre Aufmerksamkeit auf eine Kopie der Himmelfahrt Johannes des Evangelisten von Giotto, die seitwärts an der Wand hing, richten wolle. Ihre Begleiterinnen forderte sie auf, sie zu unterhalten, während Antonio zeichnete, ihr vorzulesen, zu singen, zu musizieren. Er wußte kaum, was um ihn her vorging, sah nur sie, empfand nur die berauschende Nähe der Herrin und Gebieterin, die ihn vor wenigen Stunden ihren Herrn und Gebieter genannt hatte. Er saß wie betäubt vor seiner Staffelei, und als ein neugieriges junges Mädchen sich zu ihm schlich und ihm bei der Arbeit ein wenig auf die Finger sehen wollte, wurde er böse und erklärte, niemand den Anblick des Bildes zu gestatten, bevor es vollendet sei.

»O Venesco, Lieber!« rief die Fürstin, »mich werdet Ihr doch ausnehmen von diesem grausamen Verbote!« Sie erhob sich und trat hinter Antonio und sah auf der Tafel nur ein wüstes Durcheinander, ein Wirrsal von Strichen. »Nehmt Euch zusammen«, flüsterte sie ihm zu. »Wollt Ihr mich heute schon verraten?«

Ihre Worte brachten ihn zu sich. Mit dem Aufgebot seiner ganzen Willenskraft begann er zu zeichnen. Seine Anfänge kamen ihm in den Sinn, er gedachte seiner ersten Lehrzeit bei Masaccio und hatte die Empfindung eines halbblinden, tastenden[413] Lehrlings; er zog seine Linien langsam und – stümperhaft, fühlte er. Der Kopf, der da entstand, war der einer zierlichen Puppe und ähnelte kaum von fern dem edlen Kopfe der Fürstin.

Sie jedoch, als sie den Entwurf sah, war überschwenglich im Lobe. Sie fand sich zwar sehr geschmeichelt, meinte aber: »Ich werde sterben, mein Bildnis wird leben; um so besser, wenn das Dauernde die verschönerte Gestalt des Vergänglichen ist.«

Als das nichtssagende Gesicht Farbe bekam, steigerte sich die Zufriedenheit der Fürstin mit dem Werke Antonios, und ihre Umgebung, gewöhnt, ihr Urteil dem der kunstverständigen Frau zu unterwerfen, wagte keinen Widerspruch. Bald wurden den Arbeiten des jungen Malers alle Vorzüge zugestanden, die die Augen der Liebe in ihnen entdeckten. Er begann außer einem zweiten Bilde der Fürstin, dieses Mal in ganzer Figur, die Bilder der meisten Hofherren und Hofdamen zu malen und erntete so viel Bewunderung, daß er sich dem Glauben, sie zu verdienen, nicht mehr verschloß. Schon empörte es ihn, wenn ein Unüberzeugter schwieg, ein Unbeirrter fragte: »Warum werdet Ihr Euch selbst untreu und behaltet Eure frühere Malweise nicht bei? Warum verfolgt Ihr nicht Eure so glorreich betretenen Pfade?«

Der Herzog hielt mit seiner Meinung zurück, hatte sich noch immer nicht für einen der Entwürfe zu den Fresken entschieden, die Antonio ihm vorlegte. Dafür aber verging kein Tag, an dem er der männerjagenden Diana nicht neue Bewunderung zollte.

Er hatte sie in einer ehemaligen Kapelle aufstellen lassen, zwischen der Werkstätte und der Galerie, die zu seinen eigenen Gemächern führte. Der halbrunde Raum mit den hohen Fenstern war mit graugrünen Vorhängen und Stoffen verkleidet und bildete eine Art Heiligtum, das den Schatz des Hauses verwahrte und nur in Begleitung des Herzogs oder Antonios betreten werden durfte. Dieser aber begann sein Werk zu hassen, wie er das Werk eines verabscheuten Rivalen gehaßt hätte. Es beirrte, es machte blind für den Wert seiner jetzigen Schöpfungen, die ihm nun doch als die höheren und reiferen erschienen.

Und als die höheren und reiferen wurden sie auch von ihr erklärt, die er auf seinen Knien verehrte, für die er eine flammende und grenzenlose Dankbarkeit empfand, von der teuren[414] Frau, die ihn ins Leben eingeführt hatte, an deren Herzen er herangereift war vom Jüngling zum Manne.

In einem Taumel des Selbstbewußtseins lebte er dahin, schuf hastig Bild auf Bild und wies jeden Zweifel, der in ihm aufsteigen wollte, gewaltsam von sich. Die Werkstätte hatte sich allmählich in einen Gesellschaftsraum verwandelt, in dem die Fürstin Hof hielt, Besuche empfing, Sänger und Musiker einlud, sich hören zu lassen. Regelmäßig kam auch Camillo, trieb Kurzweil mit den jungen Mädchen und Frauen, forderte einen der Männer zu einem Waffengange heraus, in dem er stets Sieger blieb unter dem lauten Applaus der Damen. Dann neigte er die schlanke, geschmeidige Gestalt vor ihnen, lachte sie an und dankte, daß sie doch auch noch für ihn unbedeutenden Menschen, der nicht einmal eine Spinne porträtähnlich malen könne, etwas Teilnahme übrig hätten. Mit gekreuzten Armen ging er von einer der Skizzen und Malereien zur andern, betrachtete sie, nahm eine gewollt wichtige Miene an, nickte feierlich und empfahl sich schweigend.

Die Fürstin litt nicht weniger als Antonio unter diesem zur Schau getragenen Hohne. Sie machte ihrem Bruder Vorstellungen: »In deinem Benehmen liegt eine Mißachtung, die Venesco schwer erträgt.«

»Hat er sich beklagt?«

»Das nicht, aber sieh ihn doch nur an. Was in ihm vorgeht, kannst du auf seinem Gesichte lesen.«

»Wenn mir aber der Sinn nicht steht nach der Lektüre? Wenn ich diesen Menschen überhaupt fortwünsche aus meinen Augen? Bald jährt sich der Tag, an dem er nach Setalla kam, um es durch Kunstwerke zu bereichern. Wie lange wird er noch zögern, an seine Aufgabe zu gehen?«

»Als ob er nicht längst begonnen hätte!«

»Womit? Soll das ernste Arbeit sein, die Puppengesichter, die er pinselt bei Spiel und Musik? Es scheint ihm nicht der Mühe wert, seine Kunst bei uns auszuüben; er geht hier nur seinen Freuden nach.« Durchdringend blickte er Judith an. »Ich weiß nicht, ob es dir angenehm sein wird zu hören, daß heute sein Zimmer leer, sein Bett unberührt gefunden wurde, als ich vor[415] Morgengrauen zu ihm schickte und ihn fragen ließ, ob er mit mir zur Jagd nach Cascina ausreiten wolle.«

Die Fürstin verfärbte sich, behielt aber ihr stolze Fassung. »Er ist kein Mönch und wird Abenteuer haben so gut wie du und wie ihr alle.«

»Mag er! Nur das Haus zu verunehren hüte er sich.«

»Woher vermutest du, daß er es tut?«

»Es fehlte kein Pferd im Stalle, der Pförtner hat seit gestern das Tor nicht aufgeschlossen.«

»Das beweist mir nichts.« Sie zuckte die Achseln, sie brach das Gespräch plötzlich mit kalter Miene ab. Doch hatte sie von dieser Stunde an ihre Seelenruhe eingebüßt. Der Verdacht war da, umgab sie, erfüllte sie mit Bangen. Vermochte sie's dem Geliebten zu verbergen und – wie lange noch? Gepeinigt ging sie mit sich selbst zu Rate; da kam Botschaft von Antonio, der sie in die Werkstätte bitten ließ. Zugleich wurde ihr durch einen Abgesandten ihres Vaters gemeldet, Gentile da Fabriano sei in Setalla eingetroffen.

Der Künstler befand sich auf der Heimreise von Venedig, wo er reiche Lorbeeren geerntet hatte. Sein Wandgemälde ›Die Seeschlacht zwischen den Flotten der Republik Venedig und des Kaisers Friedrich Barbarossa‹ war vom Senat mit der Verleihung eines Jahresgehaltes und der des venetianischen Patriziats belohnt worden.

In dem Arbeitssaale herrschte lebhaftes Treiben. Die Herren und Damen waren beschäftigt, ihre Bilder an den Wänden und auf den Staffeleien in neue Ordnung zu hängen und zu rücken. Unter Streiten und Scherzen verlangte jedes für sein Konterfei den besten Platz, das günstigste Licht.

Antonio kam der Fürstin mit raschen Schritten entgegen. »Gentile da Fabriano ist hier«, sagte er und flocht nur für sie verständlich ein: »Das Messer schon gezückt, das mir ins Herz gestoßen wird. Er kann für den Schüler Masaccios kein Wohlwollen übrig haben. Zu verschieden sind seine Wege von denen meines Meisters. – Der Herzog«, fuhr er laut fort, »bringt ihn hierher. Wollt Ihr die Gnade haben, Fürstin, Eure gestrige Stellung wieder einzunehmen. Wir bilden den Zug, wie es bestimmt gewesen, und werden dann Gentiles Meinung hören.«[416]

Nun entstand ein lustiges Durcheinander von Stimmen und ein Drängen und Schwirren: »Das war gestern mein Platz!«

»Nein, der meine!«

»Ich stehe neben der Fürstin!« rief Cintia.

»Immer Ihr! Gönnt einmal einer anderen den Vorzug!«

»Gut, da will ich selbst der Mittelpunkt einer Gruppe sein. Euern Arm, Camillo! Zu mir, Messer Lionardo! Ihr bildet meinen dunkeln Hintergrund!«

An eine strenge Anordnung war nicht mehr zu denken, aber anmutig und voll Leben war das Bild, das all diese jungen, schönen, nach eigener Willkür aufgestellten Geschöpfe boten, als der Herzog und Gentile eintraten. Stattliche Erscheinungen und kostbar gekleidet, die beiden. Der Künstler den Fürsten noch überragend, von hagerer Gestalt und stolzer Haltung.

Im ersten Augenblicke wagte niemand sich zu rühren, tiefste Stille herrschte.

»Bravo!« rief der Herzog. »Jetzt habt Ihr's getroffen, Antonio. So ist der Zug richtig gestellt und nimmt sich prachtvoll aus.«

»Bravo!« wiederholte Gentile, »der Schüler Masaccios verrät sich in diesen schön komponierten Gruppen!«

»Nicht mein Verdienst. Dieses Bild hat sich von selbst, der Zufall hat es gemacht«, erwiderte Antonio.

Gentile ging auf ihn zu und drückte ihm die Hand: »Wohl dem Künstler, der sieht und benützt, was sich von selbst gemacht hat ... Ein glücklicher Zufall? Ergreif ihn, unterwirf ihn, er wird ein glückliches Schicksal.«

Ein lautes Auflachen antwortete ihm. Camillo hatte es ausgestoßen und sprach: »Daß nicht eine Idee unseres Antonio über diesem lebenden Bilde schwebt, darauf schwöre ich. Seht die Entwürfe zu seinem großen Gemälde, die er uns bisher beschert hat. Mein Vater konnte sich zu einer Wahl unter ihnen noch nicht entschließen.«

Er ließ einige Rollen, die Antonio an die Wand gelehnt hatte, herbeibringen und auf einem Tische vor Gentile ausbreiten.

Das waren mehr als Entwürfe, es waren mit peinlicher Sorgfalt bis ins kleinste ausgeführte Zeichnungen, figurenreich und[417] gedankenarm, leblos und hölzern, eine Frucht, die eigensinniger Fleiß der Ohnmacht abgerungen.

Sprachlos betrachtete Gentile die Blätter, und Camillo spottete: »Die Bewunderung macht den Meister stumm. Seid stolz, Antonio! Er sucht umsonst nach Worten für sein Entzücken und – seine Beschämung. Nicht wahr, Meister Gentile? Ins Feuer mit Eurer Anbetung der Könige! Was ist der Zug Eurer Morgenländer im Vergleich zu diesem Zuge der Königin von Saba? Versunken die ideale Welt, in der Ihr heimisch seid! Eine neue Kunst steigt auf. Sie stürmt den Himmel nicht, um Eingebungen zu erobern, sie holt sich die ihren aus – dem Marionettentheater.«

»Warum so grausam?« fragte Gentile, und Antonio, seinen Zorn bemeisternd, bemühte sich, ruhigen Tones zu sagen: »Ich lege keinen Wert auf diese Versuche und hätte sie Euch nie vorgelegt. Hier ist Besseres, wie ich glaube und hoffe.«

Er führte Gentile zu den Staffeleien mit den Bildern der Fürstin und zu den Porträts und Skizzen, die an den Wänden hingen. Judith hatte mit bezwingender Liebenswürdigkeit den Arm des fremden Meisters genommen. Sie überhäufte ihn mit zarten Schmeicheleien und wagte ein schüchternes Lob der Werke des Geliebten. Bestätigt es, stimmt ein, flehten ihre Augen. Gentile senkte die seinen.

»Ein Wort der Ermunterung – aus Erbarmen!« flüsterte sie.

»Ich kann nicht lügen, Fürstin«, erwiderte er leise. »Besser nicht malen, als so zu malen.«

Der Herzog sah das tiefe Unbehagen des Meisters und die Pein, die Antonio litt, und wollte ein Ende machen. »Ihr seid nicht einverstanden mit den neuen Arbeiten Venescos«, sagte er. »Wir wollen Euch eine seiner früheren zeigen. Tretet hierher, Gentile, und seht!«

Auf seinen Befehl wurden die Flügel der Kapellentür geöffnet, Margherita-Diana leuchtete dem Maler in ihrer Schönheit entgegen. Das letzte Bild des Triptychons hatte der Herzog verdecken lassen.

Gentile stieß einen Schrei aus. »Herrlich!« rief er. »Euer Werk, Venesco?... Aber nicht ein früheres, der Herzog scherzt – Euer jüngstes und ein unsterbliches! Von diesen Schildereien[418] da«, er beschrieb einen Kreis mit der erhobenen Hand, »ein Sprung, nein, ein Flug ... Venesco – ich beuge mich!«

Alle waren ergriffen durch diese Huldigung, die der große Maler und strenge Richter einem jungen Kunstgenossen darbrachte. Der Herzog winkte seiner Tochter.

»Ich erwarte viel«, sagte er zu ihr, »von dem Einfluß Gentiles auf unsern in die Irre geratenen armen Freund. Lassen wir die beiden sich beraten. Unsere Anwesenheit behindert sie, komm!«


»Ihr wolltet mich ehren, Messere Gentile«, begann Antonio, als sie allein geblieben waren, »und Ihr habt mich gedemütigt. Was ich jetzt vermag, gilt Euch nichts, was ich früher vermochte, soviel!... Ihr seid geblendet wie die anderen, Meister, durch die Schönheit des Modells, das mir vor Augen schwebte, als ich jenes unselige Bild malte.«

»Unselig?« wiederholte Gentile gedehnt. Lang und fest heftete sich sein scharfer, klarer Blick auf den Jüngling, und mit dem Ausdruck innigster Wahrhaftigkeit setzte er hinzu: »Ich gäbe alles, was ich bisher als Künstler geleistet habe, dahin, um dieses Werk, das Ihr unselig nennt, geschaffen zu haben.«

»Auch wenn Ihr wüßtet –« rief Antonio aus –, »es wird sich auf Euern Weg legen wie ein Block, einen unübersteiglichen Wall bilden, Euch zurückschleudern, wenn Ihr gegen ihn anrennt, zurück zu Euren Anfängen, immer, immer! indes Ihr vorwärtsstrebt um jeden Preis, und wär's das Seelenheil!«

»Vielleicht sogar auch dann!« erwiderte Gentile, der dem Wunderbild um einen Schritt näher getreten war. »Vielleicht gelänge es mir, die Einsicht zu gewinnen, daß die Kraft, der eine solche Schöpfung entsprang, fortan ruhen soll.«

»Und der, dem diese Kraft gegeben war – was soll der?« Mit wildem Ungestüm stürzte er auf Gentile zu und faßte ihn an beiden Händen: »Sterben. Er hat nichts mehr vor sich.«

»Das Leben, das ganze, reiche Leben«, lautete die Antwort. Gentile kreuzte die Arme und sah den blühenden Jüngling vorwurfsvoll an, der sterben wollte, weil ihm kein Bild mehr gelang. »Soll ich Euch raten, Freund? Werft Eure Pinsel in die Ecke, gürtet ein Schwert um, nehmt Dienst bei einem siegreichen Feldherrn. Ihr habt als Künstler vollbracht, was Ihr nie mehr[419] übertreffen, vermutlich nie mehr erreichen werdet; vollbringt Eure nächsten Taten mit dem Schwerte. Kriegshandwerk und Künstlerschaft sind einander nicht allzu unähnlich, nähren sich beide vom Kampf, sind Kampf ... Der Größte, der je der Kunst gedient, der Gibelline mit der Heldenseele und dem Feuergeist, stand als Soldat im Schlachtgewühl. Bevor Ihr aber Setalla verlaßt, Neues zu beginnen ...«

»Ein Kriegsknecht zu werden, meint Ihr –«

»Blutige Lorbeeren zu pflücken, meine ich, oder, wenn Euch das widerstrebt, vielleicht fern vom Weltgetümmel« – Gentile lächelte – »den goldenen Brautkranz um ein geliebtes Mädchenhaupt zu schlingen. Aber bevor Ihr Setalla verlaßt, sage ich – glaubt mir: errichtet einen Scheiterhaufen und verbrennt alle Eure hier entstandenen Werke ... die ersten, im blutigen Schweiß des Angesichts zusammengestrichelten Entwürfe, die Ihr selbst verwerft, die Skizzen und Bilder, die Ihr später, hinter das Geheimnis des Kunstgriffs gekommen, aus dem Ärmel geschüttelt habt. Die gütige Fürstin rühmte die allmählich erworbene, geniale Leichtigkeit Eures Schaffens ... O Freund, vor die Geburt alles Lebendigen ist der Schmerz gesetzt. Diese da« – er deutete auf Margheritas atmende Gestalt – »habt Ihr nicht spielend hervorgebracht.«

Wieder stand Gentile vor ihr, versunken, gefangen, im Banne ihres zauberhaften Reizes. Schwer nur riß er sich endlich los.

In Verzweiflung, in Entrüstung gegen ihn, der gekommen war, ihm allen Mut und alle Schaffensfreudigkeit in der Seele zu ersticken, blieb Antonio zurück.

Warum? fragte er, warum?... Aus wirklicher Überzeugung? Oder – ein schnöder Verdacht ergriff ihn. Wahrlich, Gentile brauchte keinen zu beneiden; schleicht sich aber der Neid nicht auch in die Seelen derer ein, die angetan wären, ihn zu erregen?

Die Nebenbuhlerschaft Masaccios war nicht die, die er zu fürchten hatte. Zu verschieden war das Gebiet, auf dem jeder von ihnen groß geworden. Antonio hatte unrecht gehabt zu fürchten, daß Gentile den Schüler Tommaso Guidis nicht gelten lassen würde. Im Gegenteil, den Nebenbuhler, der sich zu seiner eigenen idealisierenden Richtung hinneigte, den künftigen Rivalen, den wollte er aus dem Wege räumen. Kehr um! zu[420] deinen Anfängen zurück oder werde ein Söldling ... Vorher aber vertilge, verbrenne, was meine Werke in Schatten stellen könnte!

Er griff sich an den Kopf. Wie sah es darin aus? Wurden Gedanken des Wahnsinns da drinnen geboren? Nein, er sah und dachte klar. Mochte Camillo höhnen und Gentile schmähen, die Bewunderung einer erhabenen Frau hatte seine Bilder zu ewigem Leben geweiht.

»Ihr seid ich«, sprach er zu ihnen, »ihr seid, der ich immer war.« Voll naiven Entzückens fand er das unbeholfene und doch so beglückend zuversichtliche Walten der Knabenhand in seinen neuen Werken wieder. Das ihm allein Eigentümliche war auch das für ihn allein Rechte. Sein Selbst zu wahren ist das oberste Gesetz des Künstlers. Das sollst du sein, was kein anderer sein könnte. So sollst du es machen, wie kein anderer es machen könnte. »Du bist noch von fremdem Geiste eingegeben und beseelt«, rief er dem Bildnis in der Kapelle zu, »und sollst mir jetzt herüber zu den Meinen!«

Hochatmend, in jagenden Gedanken stierte er die Göttliche an. Wie alles um ihn her sich hob und senkte, wie Blitze durch die Luft fuhren und dicht an ihm vorüber, und wie der Boden schwankte ... Und nun war ihm, als ob er ein Klopfen an der Tür vernähme, und mit leisen, unhörbaren Schritten schlich er hin und zog den Riegel geräuschlos vor. Dann wandte er sich zu der Kapellentür, die nach den herzoglichen Gemächern führte, und verschloß auch die, und jetzt fühlte er sich als Herr in seinem Gebiete und trat vor die Abbilder Margheritas und ging ans Werk. Unsicher hastend führte er den Pinsel, setzte ihn zuerst an die Augen, die zu flehen schienen: Schone uns, und die nicht flehen und berücken durften, nicht schauen durften wie lebendige Augen, sondern so wie die Augen derer, die im Saal von den Wänden herablächelten. Und als es geschehen war, nahm er den Lippen ihren verführerischen Liebreiz und der Haut ihren Schmelz und jugendwarmen Ton. Auch an das zweite Bild und an das dritte legte er die verbessernde Hand. Und dann schien ihm, was er da getan, doch nicht das Rechte, und er suchte einzelne Linien, die nun verwischt waren, wiederzufinden und – fand sie nicht. Ein Schleier tanzte ihm vor den[421] Augen, in die Hand war ihm Blei gegossen worden; er ließ sie todmüde sinken.

Stunden waren verronnen, es begann zu dämmern. Antonio zog die Vorhänge von allen Fenstern der Kapelle zurück und betrachtete seine Arbeit im letzten Tagesschein. Erst meinte er, nicht recht zu sehen. Das falsche Licht trog, täuschte ihm einen widerlichen Anblick vor. Die Gestalten auf seinen Bildern trugen Larven, fahl, mit roten Lippen und leeren Augenhöhlen. Antonio schrie auf: »Maskenscherz!... Grausamer, schlechter Maskenscherz!... Versteckst du dich, Margherita? – Vor mir, kindische Törin?... Du bist da – zeige dich! Herunter mit der Larve!... Du willst nicht? So zwing ich dich! Ich kann! Ich bin der Schöpfer, du bist das Geschöpf, aus dem Nichts durch mich hervorgerufen!«

Auf dem Gange war es laut geworden, an die Tür des Saales wurde gepocht.

»Öffnet!« rief Camillo, und da keine Antwort kam: »Öffnet, oder wir brechen ein.«

Drohungen wechselten ab mit Bitten. »Öffnet, lieber Meister! Öffnet, Antonio!« und er, der eben noch schaudernd gefühlt hatte: Eines Haares Breite trennt dich vom Wahnsinn – behielt Besinnung genug, um sich zu sagen: Eher sterben, als sie einen Blick tun lassen auf die entwürdigend übertünchte Diana ...

Er faßte alle Kraft zusammen, um der Stimme, die aus seiner glühenden Kehle kam, einen menschlichen Laut abzugewinnen, und: »Ruhe!« stieß er hervor, »gönnt mir Ruhe!«

Sie berieten lange.

Und er sah sich hastig, in furchtbarer Angst, im Gemache um. Wo gab es Rettung?... Da plötzlich blinkte sie ihm entgegen, süß und verheißend wie dem Hoffnungslosen ein Liebesblick: die nackte Klinge eines in einer Panoplie befestigten Dolches. Er riß ihn an sich und küßte ihn heiß. Wenn sie kommen, rettet der, wird sein Befreier!

Doch kamen sie nicht, waren eine Weile noch unschlüssig; endlich entschied Camillo: »Lassen wir ihn, den Narren. Er durchschwelge die Nacht mit seinen herrlichen Frauenbildern.« Lustig lachend zogen sie weiter.[422]

Nun war Ruhe, Todesruhe. Nach einer Weile aber klopfte es wieder, diesmal vorsichtig und leise.

Die vertraute Zofe Judiths drückte die Lippen an die Türspalte und sprach: »Venesco! Lieber! Ich habe Speise und Wein gebracht und hierhergestellt, holt sie, wenn Euch hungert und dürstet.«

O ja. Ihn hungerte, und er lechzte. Nur nicht nach irdischer Speise und irdischem Trank, und nie mehr sollten, nie mehr, der Hunger und der Durst, die ihn verzehrten, gestillt werden. Noch einmal hatte er sein Werkzeug zur Hand genommen und sich wieder angekrochen gefühlt vom Scheusal Ohnmacht.

Vorbei! Alles Wahn, was ihn darüber täuschte! Aus dem Ringe seines Lebens ist der Edelstein gebrochen, gelähmt seine Schöpferkraft.

Ein Haß gegen die Treulose wirbelte wie Sturm in ihm auf. Kargst du nun? Willst nichts mehr geben? Nimm denn auch, was du schon gabst, zurück! Zerstörungswut ergriff ihn. Er warf den Pinsel fort und begann mit dem Dolche über seine Diana zu streichen, wuchtig, mit der breiten, scharfen Schneide, strich und strich, bis nur noch einzelne Überbleibsel, schwache Umrisse, zarte Farbentöne verrieten, daß hier ein Schönes gelebt hatte.

Dann ging's an die Zwittergeburten eines falschen Könnens. Bild um Bild trug er herbei und schichtete eines über das andere auf die Steinfliesen. Im Kamin – die Jahreszeit war vorgerückt – hatten am Morgen mächtige Baumstämme in hellem Feuer gelodert. Antonio holte Kohlen, die noch glimmten, aus der Asche und schob sie unter die Bilder. Langsam, stoßweise stiegen weiße Rauchwölkchen aus den Zwischenräumen des Scheiterhaufens hervor. Winzige Flammenzungen wurden sichtbar, erloschen aber bald. Nur Qualm und Rauch verbreitete sich, kroch auf dem Boden weiter, klebte an den Wänden, formte gespensterhafte, ineinander verschwimmende Gestalten.

Stumpfsinnig, einer Art Halbschlaf hingegeben, sah der Maler zu, bis ein rasender Schmerz ihn plötzlich durchdrang und aufstachelte. Er stürzte taumelnd bis zur Kapelle, streckte die Arme aus und schrie: »Verzeih mir, Margherita!... Im Sterben noch geliebte, verzeih!« Ein Schwindel erfaßte, die Besinnung[423] verließ ihn, er vernahm nur noch ein gräßliches Röcheln, das seiner eigenen Brust entstieg.

Wachen, die am frühen Morgen die Gänge durchschritten, sahen unter der Tür der Werkstätte Rauch hervorquellen. Sie sprengten das Schloß, traten ein und fanden den ganzen Raum wie von Nebel erfüllt. Als sie die Fenster öffneten und frische Luft hereinströmen ließen, schlugen aus dem kleinen, auf dem Boden errichteten Scheiterhaufen schmale Flämmchen heraus. Mit geringer Mühe wurden sie unterdrückt. Still und ohne Lichterscheinung hatte die Glut, leise glostend, ihr Werk getan. Antonios Bilder zerfielen in Zunder bei der ersten Berührung. Ihn selbst fand man leblos zu Füßen des verstümmelten Dianabildes ausgestreckt.

Er wurde in sein Zimmer getragen, gelabt, zu sich gebracht. Lange Zeit blieb er allein, dann bestellte ihm ein Page den Befehl, das Schloß zu verlassen beim nächsten Tagesgrauen. Ein Wagen, der ihn bis Carrara bringen sollte, werde bereitstehen. Was Antonio getan, könne nur ein Wahnsinniger getan haben, und als solcher müsse er gefangengehalten und bewacht werden.

Daß der Herzog ihn nicht vor sein Angesicht forderte, war die letzte Wohltat, die er ihm erwies. Antonio faßte seinen Dank an den Edlen und an die hohe Frau, die ihn mit unverdienter Huld begnadet hatte, in wenige unberedte, auf ein offenes Blatt hingekritzelte Zeilen.

Kein Blick in die Zukunft. Es gab kein Morgen, an das eine Hoffnung sich knüpfte. Er empfand keine Ungeduld, keine Sehnsucht. Er war ganz ruhig, ganz kühl, er kam sich vor wie sein eigener Schatten, und wie im Traume wandelnd, rüstete er sich zur Reise, legte, was sein war, zu einem Bündel zusammen. Den reichen, für sein Bild erhaltenen Sold, die Geschenke, die man ihm gemacht hatte, die Ketten und Schaumünzen, die er so kindisch stolz getragen, ließ er zurück. Der Künstler, den sie hatten ehren sollen, war tot; sie gehörten denen, die sie gespendet.

Als es zu dunkeln begann, trug ein Diener eine Lampe herein, brachte das Abendessen. Es geschah schweigend, und schweigend und scheu wandte Antonio sich ab. Er empfand die Anwesenheit eines Menschen als Qual. Oh, wenn es nicht so[424] schändlich wäre, das edle Haus, das sich ihm wie ein Vaterhaus geöffnet, mit Selbstmörderblut zu besudeln!... Jetzt, mit gutem Bedacht, würde er getan haben, was zu tun er gestern nahe war.

Er setzte sich an den Tisch, legte das Gesicht auf die gekreuzten Arme und spann sich allmählich in stumpfes, ödes Gefühlsdämmern ein.

Das Geräusch der Tür, die wieder geöffnet und geschlossen wurde, weckte ihn nicht. Erst als eine Hand, deren Berührung er immer als Wohltat und Heilung empfunden hatte, sich liebkosend auf sein Haupt legte, fuhr er empor und rief mit wonnigem Entzücken: »Judith!... Oh – du!« und wollte sie heranziehen – und stieß sie im selben Augenblick von sich. Alle eingeschläferten Furien waren erwacht. »Fort! Fort!« stöhnte er. »Meine Nähe beschmutzt ... Ihr dürft nicht in meine Nähe, Fürstin. Fort!... Wenn man es erführe!«

»Die Wächter sind nicht blind, Antonio, sie werden auch kaum stumm sein. Ich habe ihnen nicht Schweigen auferlegt«, sagte sie gelassen.

Er staunte sie mit verglasten Augen an. Ihre sonst so rosig gefärbten Wangen waren marmorweiß, und der Stolz ihrer Haltung war gebrochen.

»Erst dann würde ich es tun«, fuhr sie fort, »wenn ich diese Schwelle wieder überschritte, wie ich kam – allein. Wenn wir uns trennen müßten, Freund!«

»Müßten? Müßten?... Müssen wir denn nicht?«

»Es steht bei dir. Ich nehme dir im Unglück nicht, was ich dir im Glück geschenkt. Ich war dein, ich bleibe dein.« Sie sprach es sanft, feierlich, mit einer Hingebung, inniger fast als in den Stunden höchster Leidenschaft.

Hingerissen sprang er auf und nahm sie in die Arme, und ohne Widerstand duldete Judith seine brennenden Küsse.

»Ruhig, Viel- Vielgeliebter«, sprach sie endlich und nahm seinen früheren Platz ein, und Antonio kniete vor ihr und hielt sie umfangen. »Du hast gelitten in all den Tagen. Ich habe auch gelitten und nachgedacht und mein ganzes Leben an mir vorüberziehen lassen. Die Krone dieses Lebens, mein Antonio, sein höchstes Gut ist deine Liebe.« Eine unendliche Zärtlichkeit[425] klang aus ihrem Ton und ein wehmütiger, scherzender Vorwurf: »Deine am Feuer der meinen entzündete Liebe. Mein Tag hat kein Licht ohne sie und mein Dasein keinen Wert. Sie hat meine Jugend, die entschwinden wollte, festgebannt, mir den übermütigen Frohsinn der Mädchenjahre zurückgezaubert. Ich kann dem Tod ins Auge sehen, aber nicht der Trennung. Du gehst – ich gehe mit dir. Ich werde dein Weib, Antonio.«

»Mein Weib?« In namenloser Überraschung, zweifelnd, ungläubig wiederholte er: »Mein Weib?... O Judith, du Große! Großmütige!... das würdest du? zu mir herabsteigen würdest du?«

Hastig unterbrach sie ihn, hielt ihn von sich mit beiden, in kaum noch bemeisterter Aufregung zuckenden Händen: »Herabsteigen? Deine Geliebte konnte ich nur im geheimen sein. Als deine Verlobte trete ich erhobenen Hauptes vor die Meinen. Welchen Grund hätte ich zur Demut, wenn du mir gesagt hättest: Komm!«

Er starrte zu ihr hinauf, er verstand sie nicht. »Wenn ich dir gesagt hätte ...«

»Das Wort, auf das ich warte ... das du nur sprechen wirst, wenn du darfst.« Sie richtete sich auf, glanzvoll und herrlich leuchtete wieder ihr alter Stolz aus ihrem Angesicht. »Du darfst es nur sprechen, wenn du mich liebst, wie ich dich liebe und immer lieben werde, ausschließend und heiß ... sonst wäre ja, was jetzt mein Ruhm ist: dir folgen als dein Weib – meine Schmach ... und die und deinen Undank ertrüg ich nicht!«

Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände, ihr forschender Blick drang ihm ins innerste Herz.

»Fürchte nicht, mir wehe zu tun, fürchte nur, mich zu betrügen. Bei Gottes Erbarmungen antworte mir wahr und rücksichtslos. Bin ich für dich die Einzige und Eine, ohne die dein Leben arm und ein Stückwerk wäre? Du sagst ja, wenn du sagst: Komm! Dein Schweigen heißt: Bleibe – und stirb. Habe die Kraft zu schweigen, wenn du nicht sagen darfst: Komm!«

Ein ächzender Laut drang an ihr Ohr, ein grelles Stöhnen. Antonio verbarg sein Angesicht in ihrem Schoße. Er küßte schluchzend ihre Hände, küßte den Saum ihres Kleides. Sie verstand ihn wohl; er durfte nicht sagen: Komm![426]

Quelle:
Marie von Ebner-Eschenbach: [Gesammelte Werke in drei Bänden.] [Bd. 1:] Das Gemeindekind. Novellen, Aphorismen, München 1956–1958, S. 395-427.
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