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[640] Er hieß Andreas Muth und war Beamter der Finanzlandesdirektion. Seit fünfundzwanzig Jahren verwaltete er seinen Dienst mit gewissenhafter Pünktlichkeit; allein daß er jemals befördert werden könnte, daran dachte niemand, er selbst nicht. Zu einer glänzenden Beamtenlaufbahn war er durch seine Erziehung nicht ausgerüstet worden. Was sein armer Vater – der kränklichkeitshalber quieszierte Professor der schönen Literatur Karl Muth – sich vor allem bestrebt hatte ihm beizubringen, das war die Kenntnis des klassischen Altertums. In seinem achten Jahre las Andreas den Cornelius Nepos und den Herodot, wie andere Kinder Campes Robinson lesen, und im fünfzehnten übersetzte er die Braut von Messina in die Sprache des Äschylus. Aber wie es in der Welt aussieht und wie man in ihr vorwärts kommen kann, das versäumte der Gelehrte seinem Sprößling beizubringen, und zwar deshalb, weil er selbst es nicht wußte.

Und als der alte Mann einmal über seinen Kommentaren zu der Abhandlung De carmine bucolico, von Hofrat Heyne, einschlief und nicht mehr erwachte, blieb Andreas so hilflos zurück wie ein verlaufenes Lamm.

Ein ehemaliger Schüler seines Vaters, mit dem sein guter Stern ihn zusammenführte, erbarmte sich seiner. Er war einflußreich, hatte viele Verbindungen, und so gelang es ihm, dem Sohne seines ehemaligen Professors einen kleinen, karg besoldeten Posten im großen Staatshaushalte zu verschaffen.[640]

Seitdem fühlte Andreas sich geborgen. Die Vorteile, die seine Stelle ihm gewährte, schienen ihm in vollkommenem Einklange mit den Pflichten zu stehen, die sie ihm auferlegte. Voll stiller Zufriedenheit legte er täglich den Weg von seiner Wohnung in der entlegensten Vorstadt bis zum Büro zurück und freute sich bei jedem Schritte, daß er abends denselben Schritt heimwärts machen würde. Die Erwartung des Augenblicks, in dem er sein Stübchen unter dem Dache wieder betreten sollte, vergoldete ihm alle anderen Augenblicke des Tages.

Bevor er seine Kammer verließ, hatte er darin alles zum traulichen Empfange bei der Rückkehr vorbereitet. Die Lampe stand mit Öl gefüllt auf dem Tische, die Kaffeekanne auf dem Ofen, einem eisernen Zwerge, der sich bedenklich nach der rechten Seite neigte und eines seiner dünnen Beine mit einer Unternehmungslust vorstreckte, in der sich mehr Flunkerei aus sprach als wahre Solidität. Der Kleiderstock in der Ecke reichte mit lächerlich langen Armen einen grauen Hausrock einladend dar, und der altersschwache Lehnsessel mit dem farblos gewordenen Lederüberzuge war vor dem Tische zurecht gerückt. Alles so vielgebraucht, so ärmlich und doch so nett, durch seine tadellose Reinlichkeit nicht nur das Auge, auch die Hand des Herrn verratend.

An der Wand, dem Bette gegenüber, hing in geschmackvollem Rahmen die Photographie einer schönen Dame in Balltoilette. Diesem Bilde, das seltsam abstach von der ehrwürdigen Gesellschaft der übrigen Einrichtungsstücke, galt der letzte Blick, den Andreas, schon auf der Schwelle stehend, zurückwarf in die Stube. Es lächelte holdselig und schien zu sagen: Auf Wiedersehen!

Der kleine Beamte schloß hinter sich ab und ging, einen kleinen Himmel in seiner Brust. Er gedachte der Zeiten, in denen das verehrte Original des Bildes ihm in lebendiger Gestalt erschienen war Tag um Tag ... Die jetzt so hochgestellte Frau war damals ein armes Fräulein und wohnte mit ihrer Großmutter im dritten Stockwerke des altersgrauen Hauses, das die Ecke in die nächste Gasse bildete, Andreas gegenüber.

Am frühen Morgen schon saß sie am Fenster, neben dem[641] Bauer, in dem ihr Hänfling, der dicke Egoist, einsam und zufrieden hauste, und begann ihr Tagewerk. – Wie unverdrossen war sie in ihrem Fleiße! Man sah es wohl, die prächtigen Stickereien, die unter ihrer kunstfertigen Hand entstanden, waren nicht zu eigenem Gebrauche, waren den Lebensunterhalt zu schaffen bestimmt, für sie und ihre Großmutter. Die alte Dame, in ihrem blütenweißen Häubchen und ihrem schwarzen, enganschließenden Kleide, trat manchmal an den Arbeitstisch, strich mit ihren zarten Fingern über die blonden Haare der Enkelin, küßte sie auf die Stirn und verschwand wieder wie ein Schatten im Dunkel des Zimmers.

Noch emsiger flog dann die Nadel, wurde Faden an Faden gereiht. Und auf kostbarem Grunde sprossen farbenprächtige Blumen, feinschattierte Blätter, schwungvolle Arabesken.

An einem schönen Sommermorgen, Andreas wollte eben, bevor er die Stube verließ, sein Fenster schließen, da sah er die junge Nachbarin an dem ihren stehen. Sie hatte es eben geöffnet, bog sich hinaus, wendete den Kopf nach rechts und nach links wie ein Vögelchen und atmete die kühle Morgenluft mit innigem Entzücken ein. Der Hänfling putzte seinen zimtbraunen Mantel, zwitscherte und sang, hüpfte auf das oberste Stäblein im Bauer und schien, die Augen auf seine Herrin gerichtet, ihre Bewegungen nachahmen zu wollen. Sie nahm ihn auf den Finger, und nun begann ein angelegentliches Gespräch. Dem Hänfling war es hoher Ernst, dem Mädchen Spaß. Er teilte ihr eindringlich wichtige Dinge mit und erwartete voll Spannung, den kurzen Schnabel so weit als möglich aufgerissen, ihre Antwort. Sie lachte ihn aus, und von neuem begann er seinen Vortrag.

Plötzlich erhob sich von der Straße herauf das wütende Gebell einiger streitender Hunde. Voll Schrecken sträubte der Vogel sein Gefieder, breitete die Schwingen aus, und ehe das Mädchen sich's versah, war er davongeflogen. Sie rief und lockte vergeblich, die Angst machte ihn taub. Er flatterte wie gescheucht umher, hinauf, hinab, prallte an geschlossene Fenster, schlug sich das Köpfchen an den Scheiben wund. Endlich nach einem letzten, vergeblichen Versuche, das Freie zu gewinnen, ließ er sich ganz erschöpft und atemlos auf dem Dachgesimse neben Andreas' Fenster nieder. Der haschte ihn geschickt und rannte mit dem[642] Flüchtling, dessen kleines Herz nicht rascher pochte als das seine, geradenweges zu der schönen Nachbarin hinüber.

Sie hatte ihn heute, da er sich als Vogelfänger bemerkbar machte, zum erstenmal erblickt. Andreas war nicht der Mann, seinen günstigen Observationsposten zu benützen, um ein junges Mädchen ohne weiteres anzustarren. Wenn er die Beobachtungen anstellte, die der Ruhe seines Herzens so gefährlich geworden waren, geschah's bescheidentlich verborgen hinter seinem Musselinvorhange. Jetzt riß ihn die Gewalt der Ereignisse aus seiner Zurückgezogenheit.

Das Mädchen sah ihn mit seiner Beute über die Gasse in ihr Haus eilen, lief ihm bis zur Treppe entgegen und begrüßte ihn mit einem Freudenschrei.

Wenn der Gesang aller Engel zusammenklänge, gäbe das wohl einen so süßen Ton?...

Sie standen im Flure, er und sie. Das Mädchen bedauerte und herzte ihren wunden Vogel und rief dabei: »Ich danke! O wie danke ich Ihnen!« Und Andreas war bei seiner zehnten Verbeugung angelangt und wiederholte: »Überreiche hiemit – übermittle – überreiche – hiemit – hiemit –« als er schon längst überreicht und übermittelt hatte. Die Großmutter war der Enkelin gefolgt und wurde im Rahmen der Türe sichtbar, in aller Gottesfrühe schon wie eingenäht in ihr ehrwürdiges Fähnchen, so zart, so schmal! Mit einem altmodischen Knickse forderte sie den Retter des kleinen Hausfreundes auf, doch einzutreten. Dies lehnte Andreas mit bestürzter Entschiedenheit ab und empfahl sich hastig. Dabei drückte jede seiner Mienen die Bereitwilligkeit aus, nicht nur ihren Vogel vom Dache, sondern gelegentlich die beiden Damen selbst aus dem Schlunde des Ätna zu holen.

Im Nachgenusse der Erinnerung wurde ihm dieser Augenblick erst völlig schön und zum Quell beständiger Freude. Der stille Minnedienst, den er seiner Nachbarin weihte, nahm einen fast leidenschaftlichen Charakter an. Es kam so weit, daß Andreas sich mit dem Gedanken trug, den Damen drüben einen Besuch abzustatten. Allein er gab den Plan als gar zu abenteuerlich auf.

War er denn unersättlich? Was wollte er noch? – Nickte[643] ihm nicht jetzt das liebe Mädchen freundlich zu, wenn er heimkehrend an ihrem Hause vorüberging? Sah er sie nicht täglich? Hatte er nicht die beseligende Empfindung ihrer Nähe?

So verflossen Wochen und Monate. Dann folgte eine sonderbar bange Zeit.

Neben der Nachbarin stand nun sehr oft ein Mann im Fenster, zu dem sie mit andächtiger Liebe emporschaute. Andreas kannte ihn. Er war neulich, einer Auskunft wegen, in das Amt gekommen. Muth, dem er durch seine imponierende Erscheinung auffiel, fragte, wer das sei, und erhielt zur Antwort: »Das ist Graf Auwald.«

Der Mann, der diesen Namen trug, hatte zu einer Zeit, in der der Liberalismus nicht Nutzen brachte, sondern Gefahr, seine Überzeugungen laut hinausgerufen in die Welt und viele bedrückte Seelen aufgerichtet, viele junge Herzen entflammt. Als die neue Zeit, die vorzubereiten er mitgeholfen hatte, eintrat, fiel ihm eine maßgebende Rolle im wiedergeborenen Staate zu. Er stand auf den Höhen des Lebens, im berechtigten Besitze seiner besten Güter, denn sein Glück hieß: Talent, und die Anerkennung, die ihm gezollt wurde: Gerechtigkeit.

Der also! der also! dachte Andreas, das ist recht, das ist seiner würdig, daß er sie erwählt.

Es gibt nichts Schöneres, als wenn edle Menschen sich auf dieser Welt zusammenfinden. Verachten müßte man den, der daran keine Freude hätte! – Und trotzdem – als Andreas die Wohnung drüben leer sah und die Fenster ihn öde angähnten, wollte ein selbstsüchtiger Schmerz sich seiner bemächtigen. Wie anspruchsvoll ist doch der scheinbar bescheidenste Mensch! Doch wurde er Herr seines Leides, er schämte sich dessen zu sehr.

Ein Jahr nach ihrer Verheiratung begegnete Andreas der Gräfin. Sie war am Arme ihres Mannes. Rasch und in eifrigem Gespräche schritten die beiden dahin. Dennoch erkannte sie den ehemaligen Nachbarn, blieb stehen, wendete sich, grüßte mit freudigem Lächeln und schien ihn anreden zu wollen. Allein Andreas, den Hut bis zur Erde senkend wie ein Ritter seine Lanze, eilte davon, sehr verlegen und sehr beglückt.

Bald darauf erstand er die Photographie Mathildens von Auwald, die er mit denen anderer Damen aus der Gesellschaft[644] in der Auslage eines Kunsthändlers hatte prangen sehen, und hängte das Bild als ersten und einzigen Schmuck über der Bücherstelle an die Wand. – Eine Gelegenheit, die verehrte Frau zu sprechen, bot sich nie mehr, doch begegnete er ihr, er sah sie vorübergehen, vorüberfahren im Gewühle der großen Stadt. – Ein Moment nur, und die liebliche Erscheinung war verschwunden. Und doch nicht verschwunden. Sie schwebte in den Lüften, sie begleitete den Wanderer auf seinem Wege. An solchen Tagen beflügelte sich sein Schritt, und seine Brust hob sich freier. Die ganze Welt erschien ihm lichtvoll verklärt, das Leben schön und unermeßlich reich.

Eine minder platonische Liebe als für die anmutige Gräfin hegte Andreas für die Poesie, und zwar für die dramatische. Er dichtete und träumte in seinem einsamen Daheim. Das war das Geheimnis der Seligkeit, die ihm seine Zelle bot. Ihre kahlen grauen Wände waren die Zeugen seiner innigsten Entzückungen. Auf dem Sprunge in der Fensterscheibe, dem Tische zunächst, hatte sein Auge geruht, als er die, wie er meinte, treffliche Lösung des Knotens seines ersten Lustspieles fand. Dort in der Ecke hatte er gestanden, seinen Rock ausbürstend, als er tiefbewegt und begeisterungstrunken beschloß, daß sein letztes Trauerspiel ein Schauspiel und sein Held glücklich werden sollte. Jedes Plätzchen in dem engen Raume verkörperte eine Erinnerung an selbständiges Schaffen, aus jedem wehten ihn die Geister seiner stillen Leiden und Freuden an.

Ob der Zauber, den seine Gestalten auf ihn übten, auch von anderen gefühlt werden müsse, die Frage beschäftigte ihn wohl, aber sooft sie verneinend beantwortet wurde, beschied er sich ohne Bitterkeit und ohne Groll.

Freilich ward er seit vielen Jahren nicht müde, sie zu stellen. Sobald er ein neues Werk beendet hatte, begab er sich zu seinem Freunde und einzigen Vertrauten, dem Volkslehrer Benedikt Ziegler, und forderte ihn nicht ohne Erröten und viele Entschuldigungen und mit der dringenden Bitte um Verschwiegenheit auf, einen Abend zu bestimmen, an dem er ihm ein Drama, das er gedichtet hatte, vorlesen dürfe.

Und jedesmal ließ Benedikt Ziegler seinen Freund bis zu Ende sprechen, zog wie ein außerordentlich überraschter Mann[645] die Augenbrauen in die Höhe und sprach: »Ei, ei, ein Drama! – Ei der Tausend, ein Drama!« Dann sagte er regelmäßig sein Erscheinen für denselben Abend zu, unter dem Vorbehalte, sein Urteil unumwunden und mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit fällen zu dürfen.

Das wurde ihm nicht nur erlaubt, sondern geradezu von ihm gefordert.

Einige Stunden später saßen die Freunde einander gegenüber in dem Kämmerlein unter dem Dache. Andreas las mit beklommener Stimme, die immer leiser wurde, je höher seine Erregung stieg. Ziegler verwandte keinen Blick von ihm und horchte eifrig und andächtig, die Ellbogen auf die hageren Knie gestützt und das Kinn auf die verschränkten Hände. Im fünften Akte – alle Stücke Muths hatten fünf Akte – war im Zimmer nur noch ein schwaches Geflüster zu vernehmen, aber die Wangen des Lesers glühten, und große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Und auf dem Angesichte des Hörers, in das die Sorge ihre herben Spuren geprägt, spiegelte sich eine tiefe Ergriffenheit. Seine scharfen Züge erschienen runder und weicher, und seine Augen glänzten feucht.

Nach der letzten Szene erhob sich Benedikt lautlos, trat an das Fenster und blieb einige Minuten stumm, indes der Poet Folterqualen litt. Endlich wandte Ziegler sich um und sagte:

»Du hast da ein vortreffliches Stück Arbeit geliefert.«

»Meinst du?« fragte Andreas tief aufatmend und fuhr in die Höhe. »In diesem Falle wäre also dein Rat?...«

»Hoftheaterintendanz!« rief der Freund im Tone eines Erleuchteten. »Einreichen, das versteht sich. Und – im voraus: Ich gratuliere!«

Darauf ging Andreas mehrere Tage mit stiller Verklärung im Gesichte umher; es waren die seligsten des Jahres, die, an welchen er sein Stück mit der schönsten Schrift ins reine schrieb, auf Papier, glatt wie Atlas und steif wie ein Brettchen.

Und so gewiß es in dem Zeitraume, den die Erde braucht, um die Sonne zu umkreisen, einen ersten Oktober gibt, so gewiß erschien an diesem ein kleines schüchternes Männchen im Büro der Hoftheaterintendanz und brachte ein tadellos ausgestattetes Manuskript und einen Brief. In diesem Briefe benachrichtigte[646] der Verfasser die hohe Behörde, daß seine Verhältnisse ihn zwängen, die strengste Anonymität zu bewahren, und daß er den geneigten Bescheid über Annahme oder Nichtannahme seines Stückes in drei Monaten abholen lassen werde.

Nach dem Verlaufe dieser Zeit fand sich auch richtig sein Manuskript, und die Ablehnung der Intendanz, immer bereit.

Und in die schmerzliche Enttäuschung des Dichters mischte sich das versöhnende Gefühl, seiner Pflicht gegen die Mit- und Nachwelt nunmehr genügt zu haben und wieder in den Besitz seines geliebten Eigentums zu treten. Das letzte Manuskript erhielt seinen Platz neben seinen Vorgängern auf dem Bücherbrett, zu den Füßen der schönen Gräfin, zu der die Geister dieser Dichtungen aufstiegen wie unsichtbarer Weihrauch. –

So war denn einmal wieder der Tag herangekommen, an dem Andreas sich in die Hoftheaterkanzlei zu verfügen pflegte, um sein zuletzt eingereichtes Drama abzuholen.

Als er sich der Schwelle näherte, die er immer nur mit einem fröstelnden Gefühle der Bangigkeit und leiser, nicht eingestandener Erwartung überschritt, wurde die Türe von innen heftig aufgerissen. Ein Mann mit grauen, zerwühlten Haaren stürzte, Flüche murmelnd, heraus und ließ sie weit geöffnet stehen.

Andreas blickte erschrocken in das so plötzlich vor ihm erschlossene Heiligtum. Er erkannte die alten Räume nicht wieder. Die räucherigen Wände waren mit einer hellen Tapete überzogen, die Repositorien aus weichem Holze durch geschnitzte Schränke ersetzt, ein türkischer Teppich bedeckte den Fußboden, bequeme Sofas standen in den Fenstervertiefungen. In der Mitte des Zimmers erhob sich ein riesiger Schreibtisch, auf dem geöffnete und geschlossene Pakete, erbrochene und versiegelte Briefe hochaufgestapelt lagen. An dem Schreibtische saß ein noch junger Mann mit bleichem fettem Gesichte und schwarzem Vollbarte.

Der neue Sekretär, dachte Andreas und besann sich jetzt, vor einiger Zeit gehört zu haben, daß ein Direktionswechsel im Hoftheater bevorstehe, der auch den Wechsel eines Teils des Personals zur Folge haben würde. – Ein neuer Sekretär also. Nicht mehr der alte, der so grob war und es doch so gut mit[647] Andreas meinte, der ihm so gewissenhaft alle seine Manuskripte unversehrt zurückgestellt und niemals versäumt hatte, zu dem barschen: »Nicht angenommen!« mit achtungswürdiger Aufrichtigkeit hinzuzufügen: »Der Autor mag Gott danken.«

Andreas fühlte sich ihm verpflichtet und liebte ihn, und nun war er fort, und sein schüchterner Verehrer sollte ihn nicht mehr sehen.

Während er diese traurigen Betrachtungen anstellte, war der bleiche Mann am Schreibtische seiner ansichtig geworden und rief ihm zu: »Treten Sie ein, was wünschen Sie?«

»Ich bin geschickt worden ...« erwiderte Andreas und näherte sich mit vielen Verbeugungen.

»Geschickt – von wem?«

»Der Verfasser des vor drei Monaten eingereichten Schauspiels Marc Aurel schickt mich – Herr Karl Stein schickt mich ...«

»Karl Stein? Ganz recht, für den ist etwas da«, sprach der Sekretär und zog mit sicherem Griffe aus einem der vielen Fächer vor ihm einen Brief hervor, den er Andreas einhändigte.

»Überbringen Sie dieses Schreiben Seiner Exzellenz ... Ich will sagen, Herrn Karl Stein«, verbesserte er sich mit schlauem Lächeln. »Überbringen Sie es ihm. Und: unsere ehrfurchtsvolle Empfehlung. – Was steht noch zu Ihren Diensten?« fragte er etwas ungeduldig nach einer Pause, in der Andreas ihn erwartungsvoll anblickte.

»Ich soll doch wohl ein Manuskript ...«

»Doch wohl, mein guter Mann? Sie wissen wohl nicht, um was es sich handelt. Das Manuskript behalten wir. Das Stück ist angenommen. Adieu.«

Quelle:
Marie von Ebner-Eschenbach: [Gesammelte Werke in drei Bänden.] [Bd. 1:] Das Gemeindekind. Novellen, Aphorismen, München 1956–1958, S. 640-648.
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