1

Es ist schon ziemlich lange her, seit ich die Entdeckung gemacht habe, daß ich anfange ungesellig zu werden. Ein gewisser Schrecken bemächtigt sich meiner, sooft mir ein Billett ins Zimmer gebracht wird, das danach aussieht, als ob es eine Einladung oder eine Ansage enthielte. Kein Tag vergeht mir so rasch, hinterläßt mir eine so angenehme Erinnerung wie einer, an dem ich weder einen Besuch zu machen noch zu empfangen brauche. Kein Abend scheint mir besser angewendet als der, den ich in meiner Kaminecke verträume, allein mit meinen Gedanken und mit meiner Strickerei.

Indessen, es gibt eine Ausnahme. Es gibt eine Frau Hofrätin, die mich noch niemals zu sich beschieden hat, ohne daß ich ihrem Rufe mit Freude und Eilfertigkeit Folge geleistet hätte.

Die Hofrätin ist eine liebenswürdige, schöne, ja bildschöne, mehr als siebzigjährige Frau. Edlere Züge lassen sich nicht denken als die ihres zarten, blassen, mit unzähligen Fältchen bedeckten Gesichtes. Die großen hellbraunen Augen haben ihr Feuer längst verloren, aber es spiegelt sich in ihnen der Widerschein eines inneren Lichtes, einer Seele voll Güte, Geist und Adel. Die Lippen sind farblos und schmal geworden, doch umgibt sie im Schweigen wie im Sprechen ein Ausdruck, den man geradezu hold nennen muß.

Ihre Gestalt ist hager und etwas über mittelgroß. Wenn ich meiner alten Freundin auf der Straße begegne, bewundere ich jedesmal die Leichtigkeit ihres Ganges, ihre gerade Haltung, ihre eigentümliche Art, den Kopf zu tragen, so hoch und frei, so ungebeugt von des Lebens Mühen.

Ich liebe sie, das heißt, wir lieben uns, denn sie ist nachsichtig, und ich bin dankbar. Sie tadelt zwar meinen Hang zur Ein- oder höchstens Zweisiedelei, aber sie verzeiht, ja sie unterstützt ihn noch. »Ich lasse es Ihnen wieder sagen, wenn ich[5] nicht zu Hause bin«, beschwichtigt sie regelmäßig meine Klagen über die allzu rasche Flucht eines mit ihr zugebrachten Abends.

Leider jedoch ist sie meistens zu Hause für einen großen Bekanntenkreis, der sich in zwei roten Salons auf gleißenden Atlasmöbeln und unter Kronleuchtern für je achtundvierzig Kerzen um die gastfreie Greisin versammelt. Schöne, mir aber unheimliche Ungeheuer, diese beiden Säle! Es heißt zwar, daß man sich in ihnen sehr gut unterhält, daß gefeierte Menschen darin umherwandeln, Tee trinken und sich dabei so natürlich benehmen, daß man sie von gewöhnlichen Sterblichen kaum unterscheiden kann. Trotzdem fühle ich keine Sehnsucht nach ihrem Anblick. Ein gutgearteter, alter Vogel begleitet gewiß alles, was noch fliegen kann, mit seinen innigsten Segenswünschen; wenn er aber dabei den Kopf unter dem erlahmenden Flügel versteckt, braucht ihm das niemand übelzunehmen.

Was mich betrifft, ich danke für die roten Salons und bin es zufrieden, im grauen Schlafgemach meiner Hofrätin empfangen zu werden.

Das ist mir ein liebes Zimmer! Geräumig, einfach und nett. An den vier Wänden stehen einander ehrlich und gerade gegenüber ein Pfeilerkasten und ein Etablissement, ein schmales Bett und ein breiter Schrank. In dem Pfeilerkasten residieren sicherlich Hüte und Hauben, und den mächtigen Schrank habe ich in Verdacht, trotz seiner eingelegten Flügeltüren und gewundenen Säulen doch nur ein Kleider- und Wäschebehältnis zu sein. Das Etablissement besteht aus einem Kanapee, einem Tisch, zwei Fauteuils und vier Stühlen, alles dünnbeinig, und die Sitzmöbel mit einem Wollenstoff überzogen, auf dem seit unvordenklichen Zeiten indische Schützen ihre Pfeile auf phantastische Vögel anlegen, die, inmitten zierlicher Arabesken thronend, das tödliche Geschoß getrosten Mutes erwarten. – Das Bett ist mit glattem, grünem, auf einen Rahmen gespanntem Zeuge überdeckt, und über dem Bett hängt das Porträt des Herrn Hofrates selig. Ein freundlicher alter Herr im schwarzen Frack mit hoher, weißer Krawatte, das Kommandeurkreuz des Leopold-Ordens an rotem Bande um den Hals. Er trägt einen etwas zu reichen Haarschmuck, der nicht auf seinem Kopfe gewachsen zu sein scheint. Die Augen sind klein, die Nase ist groß, gebogen und messerrückendünn, der Mund eingekniffen, das Kinn spitzig, und man kann nicht genug darüber staunen, daß so scharfe Züge soviel Milde auszudrücken vermögen. Unwillkürlich denkt man: Der hat seiner Umgebung das Leben[6] leicht gemacht! Und diesen Gedanken äußern heißt, der Hofrätin eine Freude bereiten. Sie hat mit ihrem Mann eine sehr glückliche Ehe geführt, obwohl sie ihn dereinst lange schmachten ließ, bevor sie die Seine wurde.

Er hatte sie in Paris kennengelernt, wo sie ihre Jugend als Erzieherin der einzigen Tochter der Herzogin von P. zubrachte und er als Beamter an der österreichischen Botschaft angestellt war. Wie der Blitz schlug die Liebe in sein Herz ein. Von ihrer göttlichen Zuversicht und dem Glauben an Erwiderung erfüllt, warb er um die Hand Fräulein Helenens und erhielt ein wohlgeflochtenes Körblein. Sie sprach ihren Dank für den ehrenvollen Antrag aus und den Entschluß, ihren teuern Zögling nicht zu verlassen, bevor dessen Erziehung beendet sei.

Aus Verzweiflung über die erlittene Enttäuschung stürzte sich der abgewiesene Freier – in die Arme einer hübschen Französin, deren Neigung bis jetzt von ihm verschmäht worden war. Ein paar Jahre hindurch quälte ihn das verwöhnte und kränkliche Geschöpfchen mit eifersüchtigen und andern Launen, dann starb es und hinterließ ihm ein zartes Töchterlein, das sein Dasein erst nach Monden zählte. Bald nach dem Tode seiner Frau wurde der Beamte zu einem höheren Posten befördert und nach der Heimat zurückberufen. Dort setzte er seine Laufbahn fort und erlaubte sich, alljährlich an Fräulein Helene ein ehrfurchtsvolles, ein wenig steif gehaltenes Schreiben zu richten, in dem er nach ihrem werten Befinden fragte und kurzen Bericht über das seiner kleinen Dora erstattete. Darauf wurde ihm regelmäßig eine freundliche Antwort zuteil.

So ging es fort, bis ihm die Kunde zukam, daß die Tochter der Herzogin im Begriff stehe, sich zu verheiraten, und nun beeilte er sich, ihrer Erzieherin seinen vor Jahren gemachten Antrag zu erneuern. Er tat es in warmen Worten und nicht nur in Berücksichtigung des eigenen, sondern auch des Wohles seiner Tochter. Diese setzte zum Zeichen, daß sie den Schritt billige, ihren Namen neben den seinen unter das inhaltreiche Schriftstück. Sie tat es mit Buchstaben, die so groß waren wie Fingerhüte und eine verhängnisvolle Ähnlichkeit mit Runen hatten. Sie gaben Zeugnis von einem bedenklich niedrigen Bildungsgrade des achtjährigen Kindes. Vielleicht trug gerade dieser Umstand zu der Einwilligung bei, mit der die Erzieherin ihren standhaften Bewerber jetzt beglückte. Bald darauf verließ sie das Haus, das ihr in der Fremde ein heimisches geworden war, um daheim ein fremdes zu beziehen. Die alte[7] Herzogin klagte, daß sie zwei Töchter zugleich verliere; man machte für die Zukunft allerlei Wiedervereinigungspläne, allein sie gingen nicht in Erfüllung. Man sah einander nie wieder, blieb aber immer in schriftlichem Verkehr.

Die Nachrichten, die Frau Helene von sich, von Mann und Kind zu geben hatte, waren durchweg gute. Später gesellten sich zu dem Stieftöchterchen eigene Kinder, die von ihrer Mutter sehr geliebt und gut erzogen wurden, nicht mehr und nicht besser jedoch als Dora, für die Helene eine wahrhaft mütterliche Empfindung hatte und bewahrte. Die kleine Familie wurde nach und nach eine große, und als der Tod des Hofrats eine schmerzliche Lücke in dieselbe riß, blieb seine Witwe der Mittelpunkt der Liebe und Verehrung ihrer Kinder und einer zahlreichen, zum Teil auch schon herangewachsenen Enkelschar. Niemals aber erstickte im Herzen dieser Frau das Interesse für ihre Angehörigen jenes für fremdes Wohl und Weh. Sie darf wohl fragen: »Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?« Sie macht das Wort lebendig: »Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid«, und jeder, dem daran gelegen ist, sich bei ihr einzuschmeicheln, der ergreift das sicherste Mittel dazu und hilft ihr – helfen.

So tue auch ich nach meinen schwachen Kräften und werde reich belohnt für die lobsüchtige Emsigkeit, die ich dabei entfalte. Vor kurzem erst bot sich eine Gelegenheit, den besonderen Dank meiner Gönnerin zu verdienen. Sie hatte allen ihren Bekannten aufgetragen, für ein junges Mädchen, das ihrem Schutze empfohlen war, eine Stelle als Erzieherin in einem achtungswerten Hause ausfindig zu machen. Nun ließ mein guter Freund, der Zufall, mich das Gesuchte an einem Tage entdecken, an dem mich die Hofrätin, ein weiblicher Gleim, »auf einen Kuß und einen Kaffee« zu sich geladen hatte.

O große Wonne! Ich brauchte nicht meine herrliche Neuigkeit durch ein völlig gleichgültiges Blatt Papier übermitteln zu lassen, ich konnte sie selbst bringen und glückliche Zeugin der Freude sein, die hervorzurufen ich nicht verfehlen konnte.

Frohlockend trat ich vor die Hofrätin, schwang triumphierend meinen bereits bis zur Hälfte gediehenen Bettlerstrumpf und sprach: »Ich hab's! ich hab's!... Eine Stelle, besser als gut ... ein Haus, mehr als achtungswert ... alle Erwartungen übertroffen!«

Die alte Frau reichte mir beide Hände: »Ah – wirklich – nein – Sie sind ... Nehmen Sie Platz!«[8]

Sie setzte sich in die Ecke ihres Kanapees, ich mich ihr gegenüber, auf einen Fauteuil, den ich immer mit Vergnügen einnehme, obwohl er Schuld an manchem blauen Fleck an meinen Ellenbogen trägt.

»Das Haus also mehr als achtungswert? Jetzt bitte ich aber, es mir zu nennen.«

Ich tat es, und sie wurde plötzlich ernst: »Da ist ja kürzlich die Frau gestorben.«

»Ganz recht. Zwei kleine Mädchen sind zurückgeblieben. Allerliebste Kinder, an denen Mutterstelle zu vertreten ...«

»Niemand vermag!« fiel sie mir ins Wort. »Niemand auf Erden. Mutterstelle vertritt niemand.«

»Sie sagen das?... Sie?... Ihre Stieftochter ist andrer Meinung.«

Sie beantwortete meinen Einwand nicht. Ich war im Zweifel, ob sie ihn gehört hatte, so vertieft schien sie in ihre eigenen Gedanken. Nach einer Pause des Nachsinnens sprach sie: »Der Vater dieser Kinder ist noch jung, soviel ich weiß ... Er wird sich wohl wieder verheiraten?«

»Das glaube ich nicht. Er hat seine verstorbene Frau zu sehr geliebt.«

Ich begann ihn herauszustreichen, soviel ich konnte und mit dem besten Rechte auch durfte. Ich erzählte, welch ein treuer, redlicher Mensch und zärtlicher Vater er sei.

Sie hörte mir aufmerksam zu, allein je mehr ich ihn lobte, desto enttäuschter schien sie zu werden.

»Er trauert um seine Frau, er beschäftigt sich viel mit seinen Kindern. Das ist schlimm«, sagte sie endlich. »Nein, nein – ich danke Ihnen, aber die Stelle paßt nicht für meinen Schützling.«

Ich muß gestehen, daß diese Äußerung mich verdroß und daß ich augenblicklich so unangenehm wurde, wie gutmütige Leute zu werden pflegen, wenn man ihnen eine Gelegenheit verdirbt, sich nützlich zu erweisen.

Eine lange Kontroverse begann. Ich geriet in Eifer, mir scheint sogar, daß ich Bosheiten sagte.

Die Hofrätin bemühte sich, mich zu beschwichtigen. »Ärgern Sie sich nicht«, sprach sie. »Was kommt dabei heraus? – Daß Sie jedes Ihrer Worte bereuen werden und daß ich meine Weigerung doch nicht zurücknehme. Ich habe meine Gründe dafür. Wenn Sie wüßten! – Gute Gründe, aus einer eigenen Erfahrung geschöpft.«[9]

Ich bat sie, mir dieselben mitzuteilen, und sie wollte im Anfang nichts davon wissen. Sie hatte »von dieser Geschichte« nur einmal in ihrem Leben gesprochen, und zwar mit ihrem seligen Mann, am Tage vor der Verlobung. Sie konnte sich nur schwer entschließen, die alten, schlummernden Erinnerungen wiederzuerwecken. Endlich jedoch gab sie meinem Flehen und Drängen nach und begann:

Quelle:
Marie von Ebner-Eschenbach: [Gesammelte Werke in drei Bänden.] [Bd. 2:] Kleine Romane, München 1956–1958, S. 5-10.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon